Es zählt nicht so sehr, was Sie in Ihrem Leben erreichen, sondern wie glücklich Sie mit dem sind, was Sie haben

Gemäß dem chinesischen Gesundheitsverständnis fühlen wir uns wohl, wenn „alles fließt“, d.h. wenn alle körperlichen und geistigen Prozesse geschmeidig und ohne Stagnation ablaufen. Voraussetzung hierfür ist ein stimmiges Verhältnis von Anspannung und Entspannung auf allen Ebenen unseres Seins. Der wechselseitige Ausgleich dieser beiden, gleichermaßen wichtigen Aspekte erfolgt normalerweise automatisch – wenn die Bedingungen dafür gegeben sind.

Ausschlaggebend ist hierbei vor allen Dingen der Faktor Zeit, da beide Prozesse naturgemäß von sehr unterschiedlicher Dynamik sind. Während Anspannen sehr plötzlich vonstatten geht – eine überlebenswichtige Fähigkeit, um auf sich ändernde Situationen sofort reagieren zu können – nimmt das Lösen eben dieser Spannung deutlich mehr Zeit in Anspruch. Fehlt diese Zeit dauerhaft, etabliert sich ein zu hohes Maß an Anspannung – wir reden vom Phänomen Stress.
Dieser wiederum manövriert uns langfristig in einen ungünstigen Kreislauf. Bei anhaltender Anspannung steht der Körper sozusagen permanent in Alarmbereitschaft. Dies verbraucht sehr viel Energie und schwächt die Vitalität, wodurch wiederum regenerative Prozesse wie Verdauung und Schlaf beeinträchtigt werden. In der Folge können Mangelzustände entstehen und selbst normale Belastungen werden bereits als zu starker Stress empfunden.

Vorbeugung & Maßnahmen

Es gibt kein Patentrezept zur Lösung von Stressproblematiken. Schon das „Huang Di Nei Jing“, ein rund 2000 Jahre alter Klassiker der chinesischen Medizinliteratur, betont, dass der Schlüssel stets in einer den eigenen Bedürfnissen angepassten Lebensführung liegt.

In diesem Sinne sind an erster Stelle diejenigen Prozesse unseres Körpers zu schützen, die uns tagtäglich neue Kraft geben und so dazu beitragen, dass wir mit Belastungen angemessen umgehen können. Doch gerade diese Faktoren werden in Stresssituationen vernachlässigt, insbesondere die Ernährung und der Schlaf.
Eine individuell gesunde Ernährung sollte sich durch regionale Zutaten und jahreszeitlich angepasste Kochtechniken auszeichnen – im Herbst beispielsweise Kraftbrühen – sowie der Qualität der konsumierten Nahrungsmittel besondere Beachtung schenken. Ausreichend Schlaf – im Winter benötigen wir übrigens mehr als im Sommer – ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Regeneration bedeutsam. Durch die nach innen gerichtete geistige Aktivität, nämlich das Träumen, werden die Erlebnisse des Tages sortiert: wichtiges wird „gespeichert“, wohingegen all die kleinen Nebensächlichkeiten „gelöscht“ werden. Dies stellt einen entscheidenden Beitrag dazu dar, dass wir am nächsten Tag einen „freien Kopf“ haben.
Den können Sie sich auch tagsüber erhalten, wenn Sie beispielsweise den Weg zwischen Ihrer Wohnung und dem Arbeitsplatz zu Fuß bewältigen. Im Gegensatz zum Auto- oder Fahrradfahren sind Sie dabei nicht gezwungen sich zu konzentrieren. Gehen ist zudem eine der natürlichsten Bewegungen überhaupt und massiert und lockert Ihren gesamten Körper. Da Körper und Geist nicht voneinander zu trennen sind, kann auf diese Weise auch Ihr Geist optimal zur Ruhe kommen. Jegliche Art von tiefenmassierenden Übungen wie Qigong oder Yoga leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag zu körperlicher und geistiger Entspannung.

Wie bereits beschrieben sind darüber hinaus regelmäßig angemessene Freiräume nach Stressphasen von höchster Priorität, da nur so immer wieder eine Rückkehr zur natürlichen Grundspannung möglich ist. „Stress“ ist hierbei im weitesten Sinne zu verstehen und umfasst jegliche Art von Anspannungsreizen, wie Termine, Verpflichtungen und Aufgaben – selbst wenn man sich dabei nicht gestresst fühlt! Achten Sie daher auf Pausen während der Arbeit (etwa alle 1,5 Stunden), ausreichend Freizeit und freie Tage sowie einen geregelten Jahresurlaub, im Idealfall drei Wochen am Stück, um aus dem normalen Rhythmus heraustreten zu können.
Den meisten Menschen fehlt genau diese Zeit zwischen den Anspannungsimpulsen.
So erklärt sich auch, warum Stress das Problem der westlichen Industrieländer ist: alles muss schnell gehen und orientiert sich am Prinzip „höher-besser-weiter“. Viele Ratgeber zum Thema Zeitmanagement setzen an diesem Punkt an und geben Tipps für eine derart schaffensorientierte Lebenshaltung. Zeitmanagement ist selbstverständlich angesichts eines großen Aufgabenpensums sinnvoll, doch ein nachhaltiges Stressmanagement sollte darüber hinaus genau dieses Pensum hinterfragen.

Der Schlüssel liegt in einer gelasseneren, weniger leistungsorientierten Lebenshaltung

Hierbei erweist sich die Beschäftigung mit altchinesischer Philosophie als interessant und hilfreich. Während bei uns in Schule, Beruf und Alltag das Streben nach konkreten, teilweise perfektionistischen Zielen dominiert (etwas „schaffen“, „fertig machen“ oder „erreichen“), ist die daoistische Geisteshaltung vielmehr vom Gedanken an das Jetzt geprägt. Dadurch verschiebt sich der Fokus vom Ziel auf den Weg – der Weg ist das Ziel. Sicherlich benötigt man ein Ziel, damit sich überhaupt ein Weg ergibt, letzterer hat aber die höhere Priorität. Beim Spaziergang genießen wir ja auch das Gehen, und nicht vordergründig das Ankommen. Es zählt nicht so sehr, was Sie in Ihrem Leben erreichen, sondern wie glücklich Sie mit dem sind, was Sie haben. Die Kunst der Zufriedenheit besteht darin, den Moment schätzen zu können.

Wenn Sie „auf dem Weg“ Raum für persönliche Bedürfnisse zulassen und so Lebensfreude ermöglichen, schaffen Sie einen Ausgleich. Dies bringt uns zu einem Phänomen, das wohl jeder schon an sich beobachten konnte. Man ist gestresst und hat „keine Zeit“ für die schönen Dinge des Lebens, weshalb diese gekürzt oder gänzlich weggelassen werden. Ein Tunnelblick entsteht, der es fast unmöglich macht, unsere Verantwortlichkeiten – die ja unseren Stress ausmachen – zu relativieren. Bei Stress ist also das Sich-Zeit-nehmen erst recht wichtig, um den Fokus wieder auf das Jetzt zu richten und damit ein Gegengewicht zu schaffen.

Ein Leben ohne Stress?

Stress gab und gibt es wohl zu jeder Zeit, wobei sich die Art der Stressfaktoren kulturell unterscheidet. Sich (mal) gestresst zu fühlen, gehört zum Leben dazu, ist absolut natürlich und in Maßen sogar eine positive Stimulanz unserer Vitalität. Chronischen Stress gilt es hingegen mit geeigneten Maßnahmen zu regulieren. Dies setzt eine grundsätzlich andere Denkweise sowie Verteilung der Prioritäten voraus. Der Schlüssel liegt in einer gelasseneren, weniger leistungsorientierten Lebenshaltung, die uns nicht unbedingt in die Wiege gelegt ist, man aber lernen kann. Dies gestaltet sich oftmals als langer Weg, der jedoch in einem Mehr an Gesundheit und Lebensqualität mündet.

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