von Christine N. Brekenfeld

Nahtoderlebnisse haben die Kraft das Leben grundlegend zu verändern. Diese Erfahrung machte unsere Autorin, als sie hochschwanger einen massiven Blutverlust erlitt und vollkommenem Frieden, Angenommen-Sein und allumfassender Liebe begegnete. Dies war für sie der Beginn einer faszinierenden Reise zu sich selbst. Der Heilpraktikerin für Psychotherapie gelang es das transformierende Potenzial dieser Erfahrung für sich und andere zu nutzen, indem sie einen hilfreichen Ansatz entwickelte. Damit wird es möglich, mitten im Leben den Mut und die Kraft zu gewinnen, die aus der Begegnung mit dem Tod entspringt: uns unseren Ängsten zu stellen und das Geschenk des Lebens wirklich anzunehmen. Denn erst wenn wir unserer Endlichkeit nicht mehr ausweichen, können wir voll und ganz lebendig werden.

Ich sterbe jetzt

„Ein Gefühl von übermächtiger Todesangst überkommt mich, als die massiven Blutungen plötzlich und ohne Vorwarnung beginnen. Womöglich sterbe ich jetzt, in diesem Augenblick. Nicht irgendwann, sondern jetzt, und ich weiß nicht, was kommt. Mein Körper verspannt sich mit Zittern und Zähneklappern. Atmen und Sprechen sind nicht mehr möglich. Da ist ein inneres und äußeres Dagegenstemmen, ein Dagegenhalten. ICH WILL das jetzt NICHT, auf keinen Fall.

Die Situation erscheint aussichtslos. Hilfe kann nicht so schnell kommen, wie es nötig wäre. Und mir wird bewusst, dass es jetzt, in diesem Augenblick, nichts mehr gibt, das mir helfen kann. Die Situation erscheint aussichtslos.

Ich ergebe mich. Geist und Körper, die sich eine lange Zeit dagegen aufgebäumt haben, können irgendwann nicht mehr und scheinen aufzugeben und sich zu entspannen. Und ganz plötzlich ist da dieser Moment der inneren Ruhe. Frieden. Stille. Das Dagegen-Ankämpfen hört auf, und ich ergebe mich. Ja, ich ergebe mich dem Leben, dem Tod; egal, was da kommt, ich lasse es geschehen. Ich lasse los. Ohne zu wissen, was mit mir geschieht.

Hier gehöre ich hin. Ein unwahrscheinlich befreiendes Gefühl, das Bewusstsein dehnt sich in alle Richtungen über den Körper hinaus aus, verbunden mit der Empfindung, in die Tiefe zu fallen und dann hochgezogen zu werden in einen orange-goldenen Strudel. Da ist der Körper, ich bin bei ihm, aber nicht in ihm. Aber ich BIN, und ich werde gezogen und schwebe gleichzeitig in der Unendlichkeit. Da ist kein Raum, keine Zeit, unbeschreibliche Dimensionen, unglaublich schnelle Bewegung und doch Stillstand. Alles scheint gleichzeitig zu geschehen. Ein leuchtender, unendlicher Strudel oder Raum, zuerst dunkel und eng – und am Ende Licht, strahlendes, wärmendes Licht. Einssein, Verschmelzen, Getragensein. Eine tiefe Erfahrung von Frieden, Glückseligkeit, Unendlichkeit und Liebe. Vor allem bedingungslose Liebe. Verbunden mit allem Wissen. Eine Begegnung mit Wahrhaftigkeit und dem Göttlichen. Die Erkenntnis: Ich bin zu Hause angekommen, wirklich zu Hause angekommen – hier gehöre ich hin.“

Ein praktischer Ansatz für jeden, der einmal sterben wird

Die letzten 15 Jahre seit meiner Nahtoderfahrung waren für mich unglaublich reich, befreiend und lebendig, im Inneren wie im Äußeren. Seither arbeite ich als spirituelle Begleiterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in meiner Praxis und in Seminaren mit Menschen, die ebenfalls Grenzerfahrungen gemacht haben und/oder mit Menschen, die auf der spirituellen Suche sind.

Mir geht es in meiner Arbeit um einen praktischen Ansatz. Damit die an eine Nahtod- oder Grenzerfahrung geknüpfte Transzendenzerfahrung – und damit meine ich ein plötzliches Überschreiten der bisher gewohnten, alltäglichen Wahrnehmungsgrenzen – zu persönlichem und spirituellem Wachstum führt und sich so in das tägliche Leben hinein entfalten kann. Und eigentlich wird es genau an dieser Stelle nicht nur für Menschen mit einer Nahtoderfahrung spannend, sondern für jeden, der einmal sterben wird.

Kann ich die Kraft einer solchen Erfahrung auch mitten im Leben spüren?

Nahtod- oder Grenzerfahrungen sind mit vielen Fragen verbunden, die immer wieder an mich gestellt werden:

Ist eine Nahtoderfahrung nur ein einmaliges, abgetrenntes Erlebnis, oder kann sie ein Tor zu einer lebensverändernden Wende sein?
Wie gelingt es, ein Nahtoderlebnis ins Leben zu integrieren, um die Kraft und das Potenzial dieser Erfahrung dafür zu nutzen, lebendiger zu werden und sich dem Leben wirklich zuzuwenden?
Haben Nahtoderlebnisse etwas mit spirituell-mystischen Erfahrungen zu tun, die auch Aufwachen, Erwachen und Erleuchtung genannt werden?
Ist es nur in einer lebensbedrohlichen Situation möglich, die Essenz und Kraft einer solchen Erfahrung zu spüren, oder auch mitten im Leben?
Und wenn es auch mitten im Leben möglich ist – was hindert mich dann daran in dieser Bewusstseins-Tiefe zu leben?
Und schließlich: Wie kann ich Selbsterlebtes auch für die Begleitung anderer fruchtbar werden lassen?

Ankommen in der Essenz des Seins – da gehöre ich hin

In der Begegnung mit der Unendlichkeit während meiner Nahtoderfahrung hatte ich das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Dort, wo ich hingehöre. Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich mir dieser Wahrnehmung ganz sicher sei. Ob es nicht eher als ein »Da komme ich her« formuliert werden müsste. Für mich muss es ganz ohne Zweifel heißen: Da gehöre ich hin.

Auch meine Klienten berichten mir von diesem Gefühl eines wahrhaftigen »Sich-selbst-Erkennens« und dem großen Wunsch, diese Wirklichkeit immer wahrnehmen zu können. Eine Klientin sagte in einer Sitzung: »Seither weiß ich, dass alles andere, mein ganzes Leben, ein Traum und nicht wahrhaftig ist.« Und sie fragte mich, ob es im Leben eine Möglichkeit gebe, wieder ganz in diese Essenz ihres Seins zu finden.

Antworten von Mystikern aller Traditionen und Jahrhunderte

Antworten darauf lassen sich bei Mystikern aller Traditionen und Jahrhunderte finden, die die Essenz ihres Seins gefunden hatten. Im Christentum sind es zum Beispiel Franz von Assisi (1181–1226), Meister Eckhart (1260–1328), Johannes Tauler (1300–1361), Theresa von Avila (1515–1582), Johannes vom Kreuz (1542–1592), Thérèse von Lisieux (1873–1897) und viele andere, die in unterschiedlichen Bildern und Worten eindrücklich von ihren Erfahrungen berichten. So schreibt Meister Eckhart: »Soll die Seele Gottes gewahr werden, so muss sie auch ihr Selbst vergessen und sich selber verlieren. Denn solange sie sich selbst sieht und weiß, solange gewahrt sie Gott nicht.« »Sich selber verlieren« bei Meister Eckart bedeutet eben genau dasselbe, wie sein »ganzes Leben als Traum« zu erkennen, wie meine Klientin es formulierte.

Ganz in der Tiefe vergessen wir nicht

Auch zeitgenössische spirituelle Lehrer, wie zum Beispiel Adyashanti, berichten davon: »Wenn wir einmal einen Augenblick des klaren Sehens erlebt haben, kann sich die ›Blende‹ unserer Wahrnehmung nie wieder ganz schließen. Es mag uns wohl so erscheinen, doch tatsächlich schaltet unser Bewusstsein jetzt nie wieder ganz ab. Ganz in der Tiefe vergessen wir nicht. Selbst wenn wir nur einen ganz kurzen Blick auf die wahre Wirklichkeit erhascht haben, ist etwas in uns dauerhaft verändert […], dadurch werden Energien mobilisiert, die das Leben verändern.[i]«

Kann man dem Tod begegnen ohne tatsächlich zu sterben?

„Stirb, bevor du stirbst“ sagen die Sufis und auch bei anderen spirituellen Wegen kommt der Begegnung mit dem Tod eine große Bedeutung zu. Sich dem Tod zu stellen, bedeutet nicht, ein mentales Erklärungsmuster heranzuziehen. Es geht weder darum zu sagen: »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, noch zu sagen: »Ich wünsche mir den Tod, dann ist endlich alles vorbei.« Sich dem Tod zu stellen, bedeutet, nichts zu wissen, nichts zu haben, keine Pläne mehr zu haben, keine Kontrolle mehr zu haben. Es bedeutet, die relativierende Kraft des Todes zu erfahren und damit die Beziehung zu dir, zu deinem Körper und zu anderen zu verändern. Es bedeutet, sich der unermesslichen Energie zu öffnen, die das Leben uns bereitstellt.

Im Leben dem Tod begegnen – eine Reise in dein Herz

Und so war auch meine eigene Begegnung mit dem Tod und dem Sterben nicht das Ende, sondern der Anfang für eine ganz einzigartige Reise mitten ins Leben, in die Lebendigkeit und in mein Herz hinein. Das Herz als physisches Organ ist mitverantwortlich für den Lebensfluss in uns. Wenn unser Herz ganz weit werden darf, ist es aber auch der Ort, mit dem wir fühlen und unseren Wesenskern wahrnehmen. Wie viele andere Nahtoderfahrene habe auch ich die Angst vor dem Tod verloren. Doch was noch sehr viel schöner ist: Ich habe keine Angst mehr vor dem Leben.

Und das ist jedem möglich. Aus diesem Grund möchte ich alle Menschen einladen, eigene Erfahrungen in der Begegnung mit dem Leben und dem Tod zu machen, um dem Leben und sich selbst auf eine ganz neue Art und Weise zu begegnen. Denn der körperliche Tod und die Geburt sind die einzig sicheren Tatsachen des Lebens. Geboren sind wir schon, wir sind auf der Welt, wir hatten keine Wahl. Im Leben geht es jetzt darum, uns der einzigen Tatsache, die sicher noch auf uns zukommen wird, ebenfalls zu stellen: dem Tod.

Übung: Wie möchte ich leben und wie möchte ich sterben?

Mit dieser Frage lade ich dich ein, in einem ersten Schritt dein Verhältnis zum Leben und zum Tod zu erkunden. Was wünscht du dir vom Leben und vom Sterben?  Und was hindert dich daran, diesen Wunsch zu leben?

Leg dir ein DIN A3 Blatt parat, welches du in der Mitte faltest. Atme tief aus und lass dir einen Moment Zeit bei dir anzukommen. Schließe deine Augen und spüre für einen Augenblick deinem Atem nach. Öffne deine Augen wieder und nimm die Doppelseite zur Hand:

Oben links schreibst du die Frage: »Wie möchte ich leben und wie möchte ich sterben?«, und oben rechts die Frage: »Was hindert mich daran?« Schließe nun wieder die Augen, nimm dir fünf bis zehn Minuten Zeit, und lass die Fragen in dir wirken. Nimm wahr, in welcher Stimmung du gerade bist oder was du fühlst.

Öffne die Augen wieder und achte dabei darauf, dass du mit deinem Inneren verbunden bleibst. Spüre deine Füße auf dem Boden und den Kontakt zu deiner Sitzunterlage. Lass deine Augen für einen Moment langsam durch den Raum wandern, schau dich um.

Schreibe auf beide Seiten, was du zu den jeweiligen Fragen entdeckt hast. Tue dies langsam, und nimm dir nach jeder Antwort, die du notiert hast, Zeit zu erforschen, in welcher Stimmung du jetzt gerade bist oder was du jetzt fühlst. 
   

 [i] Adyashanti, SEIN – die wahre Natur der Erleuchtung, O. W. Barth, München 2014 S. 19

Aus:

Christine N. Brekenfeld
Begegne dem Tod und gewinne das Leben
Die spirituelle Kraft von Nahtoderlebnissen
Arkana-Verlag
ISBN 978-3-442-34223-5

Einladung zur Veranstaltung:
Seminar in Potsdam
Im Leben dem Tod begegnen – eine Reise in dein Herz
16. bis 17. Mai 2020, Studio Linde 12,
Lindenstraße 12, 14467 Potsdam
Weitere Infos: www.christine-brekenfeld.de

 

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*