Als der jahrelang ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehaltene Kasper Hauser befreit wurde, wirkte er aus gesellschaftlicher Sicht betrachtet rau, roh, ungehobelt. Erst nach und nach wurde er geschickter mit den „Dingen dieser Welt“. Die Wandlung konnte sich erst ab dem Moment vollziehen, als er wieder ans Licht kam. Auch die Stimme ist bei vielen Menschen wie ein lange verstecktes – auch verwahrlostes – Findelkind. Lassen wir sie wieder frei tönen, beginnt eine spannende Reise zu uns selbst.

 

Stell dir vor, du hättest ein Surfbrett, das dich in eine Realität entführt, die aus Klängen, Farben, Bildern und Resonanzen in deinem Körper besteht und dich mit genau den Qualitäten in dir verbindet, die du brauchst, um dich vollständig, kraftvoll und lebendig zu fühlen – und so zu leben. Wie wäre das? Was würdest du tun damit?

Die gute Nachricht ist: Du hast dieses Surfbrett. Fast jeder Mensch hat es. Viele ahnen, wie sehr es mit ihrem Potenzial verbunden ist. Doch nur wenige nutzen es zu den Reisen in andere Realitätsebenen, die gleichzeitig so sehr mit dem zu tun haben, wer wir jetzt gerade sind.
Wovon ich spreche? Von einer ursprünglichen Ebene deiner Stimme und der menschlichen Stimme überhaupt. Unsere Stimme ist mit so vielen Bereichen unseres Seins verbunden, dass sie, wenn sie auf der physischen Ebene in Bewegung gebracht wird, auch die anderen Ebenen in Schwingung bringt. Im Sprechen ist sie stark, wenn auch nicht allein, mit unserem Denken verknüpft, im Singen mehr mit dem Gefühl, im freien Tönen kommen noch archaischere, urspünglichere Wesensseiten zum Ausdruck. Diese ursprünglichste Seite der Stimme möchte ich hier vorstellen.

 

Gefühle „ins Leben rufen“

Fast in jeder Stimme gibt es Qualitäten, die schon lange im Dunkeln liegen und auf ihre Entdeckung warten. Damit meine ich einen Klangbereich der Stimme, der jenseits von Singen und Sprechen liegt und der sehr intensiv und extrem sein kann. Es ist diese Urkraft und Stimmintensität, die wir zum Beispiel aus dem Schreien von Kindern kennen. Wer einmal einem Einjährigen beim Brüllen zugehört hat, weiß, was für eine Menge Energie hinter diesen Tönen steckt. Eine Intensität, der man sich kaum entziehen kann – und die wir als Erwachsene selten wieder erreichen.
Eine ähnlich urwüchsige Stimmkraft, die alle Grenzen überschreitet, kennen wir sonst in unserer Kultur bei Erwachsenen nur in Situationen, in denen die Betroffenen starke Schmerzen (wie bei der Geburt), höchste Ekstase (wie beim Sex) oder unbändige Freude (zum Beispiel der befreiende Jubel beim Fall der Mauer) erleben. Momente also, in denen Gefühle und Empfindungen so stark werden, dass der Verstand für einen Moment in den Hintergrund tritt und Fragen wie „Was sollen die anderen von mir denken?“ gar nicht erst auftauchen.

Was in diesem Zusammenhang den Stimmlehrer Alfred Wolfsohn beeindruckte und zu weiteren Forschungen über die menschliche Stimme anregte, war das Schreien seiner Kameraden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Es war so extrem, dass die Stimmen alle sozial auferlegten Beschränkungen durchbrachen und damit gleichzeitig ein unbekanntes Potenzial freisetzten.

Das Interessante ist, dass diese ursprünglichen Tonqualitäten, selbst wenn sie lange nicht ausgedrückt wurden, auch noch viel später in unserem Leben sehr eng mit unseren Gefühlen verbunden sind. Es scheint, als seien hier Erinnerungen an einschneidende und manchmal überwältigende Erlebnisse auf der Tonspur komprimiert. Holt man diese Töne hoch, so kommen mit ihnen Gefühlserinnerungen wieder an die Oberfläche.

 

Im Atem festgehalten

Reni Müller kann das bestätigen und berichtet von einer für sie sehr bewegenden Stimmreise:
„Anstatt Atem und Ausdruck meiner Stimme zu trainieren, ging die Arbeit unerwartet in eine viel tiefere, mein Herz und dann meine Seele berührende wundervolle Richtung. In der entspannten „Horizontale“ mit dem langen tönenden Atem hat sich bei mir eine Gefühlsblockade aus meinem Unbewussten geöffnet… Ich war so traurig darüber, dass ich als junge Mutter mit meinen beiden Kindern allein war und keine Hilfe hatte, um besser auf mich zu achten, so dass ich auch keine Achtsamkeit an meine Kinder weitergeben konnte. Durch die Sitzung habe ich diese sensiblen Momente wieder erlebt und heute sehr mitfühlend Zeit und liebevolle Achtsamkeit bekommen für das, was in mir damals vorging. Dafür bin ich von Herzen dankbar.“

Oft hält ein flacher Atem die Ebene, in der sich Gefühle und Klang verbinden, auf Abstand und damit dort fest, wo sie ist: im Unterbewussten. Dort ruhen diese Gefühlskomplexe manchmal lange Zeit – bis der Betreffende bereit ist, sich dem Thema zu stellen. Es ist wie bei allem, was wir nicht wahrnehmen wollen oder können, weil es von außen betrachtet zu unangenehm scheint: Es bleibt bestehen. Erst wenn das, was sich zunächst so unangenehm anfühlt, Aufmerksamkeit bekommt, bewegt es sich und kann sich lösen. Es zeigt dabei sein wahres Wesen und das darin verborgene Potenzial.

Manchmal trägt bereits die Sprechstimme eine Spur des ungelösten Themas in sich, die Botschaft des reinen Stimmklangs bleibt durch die Konzentration auf die Worte allerdings meistens „unerhört“.

 

Botschafterin der Seele

Wenn man die Töne im freien Stimmfluss zulässt, bringen sie oft Erstaunliches, immer aber Befreiendes zutage. In offenen Tönen können sich die Gefühle frei entfalten. Einmal in Bewegung gebracht, wandeln sie sich und den Tönenden, denn diese vertonten Gefühle enthalten Botschaften, die ihm fehlende Qualitäten zurückbringen. Das Befreiende ist, dass der Ausdruck dieser Gefühle ganz ohne einschränkende Worte auskommt und dadurch tiefer als Sprache wirken kann. Der Umweg über den starken Filter des Denkens wird ausgeschaltet, durch die unmittelbar erfahrene eigene Kraft und Lebendigkeit werden Ressourcen frei. Es gibt einen Energiezuwachs, der sich nach einer Sitzung auch unmittelbar im Klang der Sprechstimme ausdrückt. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „geklärt“ worden, in einem Prozess, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig abläuft. Es ist, als reinigten die intensiven Frequenzen auch die Resonanzräume des Körpers, er schwingt sich frei von den Schlackenstoffen der Vergangenheit. Die Stimme, die einmal selber den Ton angeben konnte, hat wieder angefangen, sich im freien Fluss zu bewegen. Nach dem Durchstreifen der „rauen Regionen“ wird sie wie von selbst klarer und heller.

 

Zwischen Kunst und Therapie

Die eine Seite dieser Arbeit ist die heilende Wirkung der Stimmreisen. Nach einer Stimmsitzung wirkt das Erlebte oft noch von selber auf der psychischen Ebene weiter und kann nach und nach integriert werden. Die andere Seite ist die Vielfalt des „Tonmaterials“. Die Töne sind Ausdruck der Bandbreite unseres Lebens und der verschiedenen Entwicklungsstadien, die wir durchleben. Sie sind der Stoff, aus dem mythische Gestalten und Geschichten gestrickt sind – eine Inspirationsquelle für Theater und Musik. Wer sich auf die physische Energie einlässt, entdeckt oft, dass gerade die hässlichen und schrägen Stimmqualitäten und die Figuren, die daraus entstehen können, besonders reizvoll sind.

Neurowissenschaftler haben die Aussage „use it or lose it“ für das menschliche Gehirn geprägt. Für die Kapazitäten unserer Stimme trifft das zum Glück nur teilweise zu. Teilweise deshalb, weil Töne in bestimmten Frequenzen, die wir lange nicht genutzt oder gesungen haben, zwar zuerst einmal rau und brüchig klingen, doch die Fähigkeit, diese Töne zu produzieren, geht nicht wirklich verloren. Sobald die Stimmuskeln in diesen Bereichen wieder flexibel werden, sind auch die Töne wieder ganz da. Diese Wandlung vom Brüchig-Rauen zu fließenderer Qualität vollzieht sich oft sogar in sehr kurzer Zeit. Alles kommt durch das Tönen in Bewegung. Deshalb ist es so wichtig durchzuhalten und die Wildheit und Rauheit der Klänge, die wirklich gar nichts mit klassischen Stimmidealen gemeinsam haben, nicht nur auszuhalten, sondern willkommen zu heißen. Sie sind eine Quelle für Kreativität und ungemein phantasieanregend – wenn wir zurücktreten von den Bewertungen unserer von Dualitäten geprägten Umgebung. Jenseits von „schön oder häßlich“ von „richtig oder falsch“ liegt eine faszinierende Welt, die wir alle einmal gekannt haben. Eine Welt, die für jeden, der sich aktiv künsterisch betätigt, ein Terrain unbegrenzter Möglichkeiten eröffnet.

 


 

Angst vor dem Licht

Unsere größte Angst ist nicht, unzulänglich zu sein. Unsere größte Angst ist, grenzenlos mächtig zu sein. Unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, ängstigen uns am meisten. Wir fragen uns: Wer bin ich denn, dass ich so brillant sein soll? Aber wer bist du, es nicht zu sein?
Du bist ein Kind Gottes. Es dient der Welt nicht, wenn du dich klein machst. Sich klein zu machen, nur damit sich andere um dich herum nicht unsicher fühlen, hat nichts Erleuchtetes. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, der in uns ist, zu manifestieren. Er ist nicht nur in einigen von uns, er ist in jedem Einzelnen. Und wenn wir unser Licht scheinen lassen, geben wir damit unbewusst anderen die Erlaubnis, es auch zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unsere Gegenwart automatisch die anderen.
Marianne Williamsen

Foto: stefane / pixelio.de