von Caroline Winning

Oft sind äußere Veränderungen der Anlass für innere Krisen. Der Job bricht weg, der Partner verlässt uns, ein plötzlicher Todesfall entzieht uns den Boden unter den Füßen. Allesamt Auslöser für ein Krisenerleben, in welchem wir nicht mehr weiter wissen, orientierungs- und haltlos werden und das bisherige Leben plötzlich in Frage stellen. Bekannte Verhaltensweisen führen nicht mehr ans Ziel, es ist vollkommen unklar, wie wir da wieder rauskommen, geschweige denn ob.
Häufig haben wir es in solchen Situationen mit einem tiefgreifenden Mangel an Selbstvertrauen, Zuversicht und dem Wissen um die eigenen Ressourcen zu tun. Zugleich treten, vielleicht erstmalig, existentielle Fragen auf: Wer bin ich eigentlich? Was will ich wirklich, was entspricht meinem Wesen? Wozu bin ich hier?

Wenn das Selbst ruft

Die neueren Entwicklungsmodelle aus Psychologie und Bewusstseinsforschung wie Spiral Dynamics, Stages oder Ego Development helfen uns zu verstehen, dass Krisen häufig beim Übergang von einer in die nächstfolgende Entwicklungsebene auftreten. Sie sind damit oft Auslöser für radikale Veränderungen im Leben. Da jede Ebene andere Verstehenshorizonte, Sichtweisen und Werte mit sich bringt, hat ein Ebenensprung zur Folge, dass Altbekanntes uns plötzlich nicht mehr erfüllt und wir mit unserem bisherigen Leben unzufrieden werden.

Der häufigste Sprung, den wir dabei aktuell immer wieder beobachten, findet statt, wenn wir die mental-individualistische Ebene verlassen und die systemisch-sensitive Bewusstseinsebene erreichen. Dies ist der Beginn des Übergangs vom personalen Ich zum trans- oder überpersonalen Selbst. Hier hören wir zum ersten Mal (bewusst) den Ruf unseres inneren Wesenkerns. So schmerzhaft dieses Erleben oft ist, haben wir es im Grunde mit einem in uns liegenden Entwicklungsimpuls zu tun, der nach persönlichem Wachstum ruft.

 

Anker in der Krise

Die Verunsicherung in diesem Übergang zeigt sich in dem Wunsch nach stabilen, planbaren Verhältnissen. Ein markantes Kennzeichen der vertrauten mental-individualistischen Ebene liegt in der Dominanz des Verstandes. Da er in dieser Entwicklungsphase auf seinem Zenit ist, wird das Leben verstandesmäßig gestaltet. Dazu gehören 5-Jahres-Pläne, Zielsetzungen, Erfolgsmarker, Strategien, Methoden und Konzepte. Alles am besten in einer App. Gleichzeitig belächeln wir weniger rationale Aspekte wie Gefühle, Intuition, energetische Felder oder gar unseren Körper. Das Materielle hat uns im Besitz, die Welt ist ein Ding und wenn wir uns nicht allzu blöd anstellen, werden wir ihrer Herr.

Bricht all das weg, verlieren wir das, was uns bisher Kompass im Leben war: Wissen, Wissen und noch mehr Wissen. Plötzlich stehen wir ahnungslos da. Gefühle schwemmen uns und richten ein heilloses Chaos im Innern an.
Ein Anker für diese bewegte Phase ist das Wissen um das, was uns nach der materialistischen Phase erwartet. Auch die Erkenntnis, dass das, was uns gerade geschieht, ein Weckruf des Selbst ist. Mittlerweile ist viel Licht in den Dschungel der spirituell-seelischen Reifung gekommen, auch dank des Einzugs der fernöstlichen Erkenntnisse in die westliche Psychologie und Medizin. Wir besitzen mittlerweile ganze Landkarten, die dabei helfen, das persönliche Wachstum mit seinen Phänomenen besser zu verstehen.
Zugleich ist es sinnvoll, sich in solchen Krisenzeiten professionell begleiten zu lassen, um das Licht am Ende des Tunnels aufblitzen zu sehen.
Wenn das Selbst, unser tiefstes Sein, ruft, tut es dies auf leise, subtile Art. Dem Ruf zu unserer Ganzheit folgen wir, indem wir beginnen, nach innen zu lauschen. Still werden im Außen, uns nicht mehr konstant ablenken durch Arbeit, Medien, Konsum oder Gesellschaft. Und uns stattdessen für unsere Innenwelt mitsamt ihren Gefühlen, Bedürfnissen, Glaubenssätzen und systemischen Prägungen aus unserem Herkunftssystem öffnen.

Die frohe Kunde ist: unser Selbst weiß, was es tut. Noch besser: wir verfügen über alles, was wir brauchen, um mit unserem Wesenskern wieder in Kontakt zu kommen. Vielleicht liegt er vergraben unter Schichten von Selbstzweifeln, irrigen Annahmen, Ängsten oder Projektionen. Nichtsdestotrotz ist er da und kann freigelegt werden – Stück für Stück. Die Auswirkung dieser inneren Arbeit ist die Rückanbindung zu der oder dem, die wir eigentlich sind. Zu unserem ursprünglichen Wesen mit seinen Qualitäten, Potentialen und Ressourcen. Ich will nicht verhehlen, dass dies ein langer Prozess ist, der uns immer wieder gefühlt an den Anfang zurückwirft, neue Gräben aufwirft und es zeitweise auch mal sehr dunkel in uns werden lässt. Gleichzeitig gelangen wir auf seinem Weg in einen immer tieferen Frieden mit uns und der Welt. Eine Aussicht, die ganz konkrete, globale Folgen für uns alle hat.

 

Individuell erwachen – global heilen

Es ist überdeutlich, dass sich die individuellen Krisen in unserer heutigen, krisengebeutelten Situation auf Erden widerspiegeln. Das, woran wir einzeln kranken, zeigt sich kollektiv an den Kriegen, Klimakatastrophen und der globalen Ungerechtigkeit. Unser übersteigerter Konsum, der Mangel an Verbundenheit mit uns selbst und der Natur, die wachsenden psychischen Krankheiten und Stressempfindungen, die Ignoranz des Körpers durch den Verstand. Dies alles sind Folgen und zugleich Anzeichen eines sich bereits vollziehenden Bewusstseinssprungs eines großen Teils der Menschheit. Und zwar jenes Teils, der im reicheren Norden und Westen auf Kosten der ärmeren Völker im Süden & Osten unseren Planeten ausbeutet und schindet.
Wir sind schon lange am Ende des individualistischen Zeitalters angekommen. Die Errungenschaften der Moderne haben nicht zu Wohlstand für alle geführt, sondern zu weitreichender Spaltung. Voneinander und von uns selbst. Wir leben noch immer in der Vorstellung, wir seien getrennte Wesen auf einem materiell unerschöpflichen Planeten. Eine naive, wie gefährliche Sichtweise, da lebensbedrohlich für zukünftige Generationen.

Unsere globale Krise läutet daher den Schritt ein, in ein erweitertes Bewusstsein zu gehen. Egal, wie massiv der Widerstand ausfallen wird, die Richtung ist unumkehrbar. Dafür sorgt die Evolution gewissenhaft. Wir sind bereits auf dem Weg ins ganzheitliche Zeitalter. Die erste Stufe dorthin ist die pluralistisch-sensible Ebene, die die Abkehr von Äußerlichkeiten einleitet. Das Innere erwacht und mit ihm das Interesse an Selbsterfahrung, innerer Heilung und Ganzwerdung. Es werden neue Gruppen und Orte aufgesucht, die den Bedarf an spiritueller Neugier decken, in subtilen WIR-Räumen erfährt der Einzelne völlig andersartige Formen von Verbindung und Nähe. Der eigene Schatten tritt hervor und mit ihm die bisher verdrängten, schmerzhaften (Kindheits-)erfahrungen, Projektionen und systemischen Verstrickungen. Gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach tief sinngebender, erfüllter Tätigkeit zum Wohle des Ganzen. In karikaturistischer Weise erleben wir dann die Einzelne, die den bisher gut bezahlten Job an den Nagel hängt, sich anmeldet zur Yogaausbildung, Veganerin wird und Schminke und BH aussortiert…

 

Das integrale Bewusstsein erwacht

Ein wesentlicher Aspekt dieser Entwicklungsebene ist das Überschreiten des eigenen Egos. Was vorher noch die gesamte Identität des Menschen ausmachte, wird plötzlich als Konstrukt durchschaut. In ungesunder Ausprägung beginnt der Mensch, das Ego abzulehnen, weil es in ihm den Feind umfassender Erleuchtung sieht. „Tötet das Ego“ wird zum neuen Schlachtruf. Lassen wir dieses Missverständnis jedoch aus, vollzieht sich die Entwicklung weiter zum transpersonalen Sein und wir treten ein in die nächste Entwicklungsstufe: in das integrale Bewusstsein.
Jede neue Bewusstseinsebene umfasst einen erweiterten Perspektivhorizont. Wir sehen komplexere Zusammenhänge, erkennen die Notwendigkeit von Chaos und erfassen größere Ganzheiten im Innen wie im Außen. Auch wenn sie noch dabei ist, sich zu entwickeln, finden wir klar erste Merkmale dieser ganzheitlich-integralen Bewusstseinsebene: die harmonische Verbindung von Körper, Kopf, Herz und dem großen GEIST wie auch die bewusste Integration der früheren Ebenen mit ihren Qualitäten. Letzteres führt dazu, dass wir uns vergegenwärtigen, auf welcher der bisherigen Entwicklungsebenen Abspaltungen geschehen sind, wodurch wir Themen dieser Ebenen entweder meiden oder uns von ihnen beherrschen lassen. Ein Beispiel sei die Ordnung. Viele von uns haben über Strenge und Unterwerfung gelernt, dass Ordnung das halbe Leben ist. Zum Wahren des schönen Scheins wurde sie uns zum Preis von Lebendigkeit, Spontanität & Kreativität eingetrichtert. „Was sollen denn die Nachbarn/anderen/… (bitte einsetzen) denken?“, war ein beliebter Begleitsatz. Dies konnte dazu führen, dass wir entweder genauso penibel wurden – nun hatte die Ordnung uns im Griff – oder wir derart auf Kriegsfuß mit ihr standen, dass sie unser Leben in nerviges Chaos stürzte. Eine integrale Bewusstheit beleuchtet ebenjene Schattenthemen und holt sie zurück aus dem miefigen Keller ins Tageshelle. Wir werden zunehmend Zeuge unserer Ängste und Projektionen, was zur Folge hat, dass diese unser Sein & Handeln nicht mehr dominieren. Sie tauchen als Randnotiz im Bewusstseinsfeld auf und lösen sich langsam, aber sicher im Schaum von universellem Vertrauen und Gehaltensein. Im Erkennen größerer Ganzheiten sehen wir das Viele im Einen und das Eine im Vielen als Ausdruck des göttlichen Urgrundes. In der Anbindung an diesen durch eine integrierte, achtsame, ganzheitliche Bewusstheit nutzt der Mensch die innere Weisheit und Intuition als Ausdruck des ewig schöpferischen Impulses, welcher von Moment zu Moment erschafft. Das Ziel ist, um Helga Simon-Wagenbach zu zitieren:

„Der integrierte Mensch, der in jeder Lebenssituation aus der Tiefe seiner inneren Selbst-Verwirklichung fühlt, denkt und handelt.“

Es braucht nicht viel um erfassen, in welch einer Welt wir leben, wenn sich das evolutionäre Bewusstsein weiter in diese Richtung bewegt.

 

Quellen & Literatur:

Spiral Dynamics – entwickelt von Clare Grawes, weiter von D. Beck & C. Cohan
Stages – entwickelt von Terri O‘ Fallon
Ego Development – entwickelt von Susanne Cook-Greuter
Helga Simon-Wagenbach: Klarer Geist, weites Herz.
Ken Wilber – Integrale Meditation
Frances Vaughan – Heilung aus dem Inneren

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Ich begleite die Bewusstseinsentwicklung von Einzelnen, Teams und Organisationen auf integral-ganzheitliche Weise. Dies umfasst die Bewusstmachung unserer Gefühle, systemisch-kollektiven Prägungen, unserer inneren Anteile und unserem Wesenskern. Organisationen begleite ich bei der inneren Arbeit, die es für gelebten Kulturwandel braucht. Der Fokus lieg hier auf der Entwicklung von Empathie und Emotionaler Kompetenz, Gewaltfreier Kommunikation und integraler Führung. Mit diesem Schaffen möchte ich zu einer Gesellschaftlich beitragen, die ökologisch verträglich, sozial gerecht und herzensklug ist.



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