Praktisch alle ländlichen Räume sind von sinkenden Bevölkerungszahlen geprägt. Juliane Rudloff, Torsten Maciuga und Johannes Heimrath fragten sich, ob dieser Schrumpfungsprozess auch als Chance für kultur¬kreative Impulse gesehen werden kann. Ein Auszug aus einem Gespräch

TM Mit noch so viel Infrastruktur kann man den Trend der Jugend – raus aus dem Ländlichen, ab in die Großstädte – nicht aufhalten. Zum Bleiben motivieren vielleicht eher Projekte, die mit Gemeinsinn oder Gemeinwohl zu tun haben, die Gemeinschaft unterstützen – egal, ob das eine große Familie ist, ein Verein oder eine Genossenschaft.
Dazu gehört auch das Thema Partizipation: mitreden und mitentscheiden können. Das ist der Wandel, den wir in den nächsten Jahren verstärkt angehen müssen, und da ist es egal, ob eine Stadt, die heute 20 000 Einwohner hat, in zehn oder zwanzig Jahren um ein Viertel geschrumpft ist.
JH Ja, es geht um Qualität, nicht um Quantität. Wenn wir uns in unserer Region um Qualitäten wie Gemeinwohl und Gemeinsinn kümmern, erfahren wir, dass es keine Karos gibt, sondern in erster Linie fließende Formen. Die Membranen zwischen den verschiedenen Schichten werden immer durchlässiger, es entsteht ein organisches Gemeinwesen, das sich zunehmend der Kontrolle von außen widersetzt. Das ist eigentlich nicht das, was die Autoritäten sich wünschen. Wenn mehr Gemeinsinn entsteht, führt das zu einer Selbstautorisierung der Bürgerinnen und Bürger, was eine völlig andere Art des Umgangs mit der Verwaltung und mit Entscheidungsstrukturen bedeutet.
JR Der Staat an sich verwandelt sich auch. Ursprünglich ist er sicherlich konstruiert, um regieren zu können, aber die Idee des Durchregierens ist ein Relikt aus einer alten Zeit. Auch die Menschen in den Karokästchen sehen, dass das Karodenken nicht weiterhilft: Sie sollen für Gesundheitseinrichtungen sorgen, für Mobilität, und das geht gar nicht ohne Schnittstellen zu den benachbarten Karofeldern. So werden sich die Karos aus der Notwendigkeit der Sache heraus mit der Zeit auflösen bzw. verschmelzen.
JH Nun ja – in den Medien lese ich oft die Formulierung »unsere Regierung ist zu schwach« oder »führt nicht«. Also bezweifle ich, dass das Staatsgebilde als Ganzes bereits auf dem Weg ist, sich von dem, was »regieren« bisher bedeutete, zu verabschieden.
TM Das ist ein Prozess, der in den Regionen und Kommunen beginnt. Da löst die Problematik des demografischen Wandels, insbesondere der Bevölkerungsrückgang, schon einiges an neuem Denken aus. Während wir uns an der Basis keine Illusionen mehr über Wachstum machen, gehen die Wirtschaftsweisen selbstverständlich weiter von Wirtschaftswachstum trotz schrumpfender Bevölkerungszahlen aus. An der Basis stellt sich die pragmatische Frage: Wie können sich junge Leute, die nach ihrem Ausflug in die weite Welt wieder zurück in ihre Heimatregion möchten, dort eine wirtschaftliche Existenz aufbauen? Es sind ja eher die ländlich geprägten jungen Leute, die wieder zurückwollen.
JR Nicht unbedingt. Es gibt in Berlin sehr viele Initiativen und Gruppen, die aufs Land wollen, deren Mitglieder aber ursprünglich Stadtkinder sind.
TM Darüber freut sich Brandenburg …
JR Sowohl in der Altersgruppe der Zwanzig- und Dreißigjährigen als auch in der Gruppe »Sechzig plus« erlebe ich viele Menschen, die sagen: Wir würden einen Neustart auf dem Land wagen, allein, es fehlen der richtige Ort und das Geld. Vor allem Ackerflächen sind nicht leicht zu bekommen. Gerade die Jungen wollen nicht Pendler werden und in der Stadt arbeiten, sie wollen ihr eigener Chef sein, selbst gestalten und sich eine eigene Existenz aufbauen.
JH Wir haben hier im Lassaner Winkel nicht einmal eine kleine Industrie, kaum mehr richtiges Handwerk. Welches Unternehmen kann an einem Ort wie Klein Jasedow seinen Standort finden? Ich kann Juliane gut nachvollziehen: Junge Menschen, die aufs Land wollen, sind nicht unbedingt den klassischen Weg gegangen und suchen gar nicht unbedingt einen »normalen« Job. Sie bringen eine völlig andere Kultur mit. Dort, wo sich diese neuen Leute ansiedeln, ist also ein gewaltiger Wandel im Gang.
JR Und das ist eben auf der politischen Ebene überhaupt noch nicht bekannt und auch nicht relevant. Kaum jemand hält es in meinem beruflichen Umfeld für möglich, dass diese jungen Leute existieren. Wenn ich davon erzähle, meint man, das seien ein paar einzelne Verrückte. Aber ich glaube eben, dass das keine Einzelnen sind, sondern eine merklich wachsende Gruppe. Die freie ¬Demeter-Ausbildung in Ostdeutschland hat zum Beispiel enormen Zulauf von Leuten um die zwanzig, die sagen: Ich möchte Gärtner werden und Menschen mit Lebensmitteln versorgen.
JH Wie könnte man es denn bekannter machen, dass es diese Menschen gibt?
TM Das kann man nicht von oben verkünden, das muss von der Basis ausgehen. Wir haben zum Beispiel Ende letzten Jahres einen Verein aus der Uckermark kennengelernt, den junge Leute, so um die 35 Jahre alt, gegründet haben – so etwas wie einen modernen Heimatverein. Die bieten eine Online-Plattform an für Menschen, die sich in der Uckermark immer noch emotional beheimatet fühlen. Die Plattform hat einen erstaunlichen Zulauf von Uckermärkern aus aller Welt.
Einer von ihnen hatte in München einen guten Job gehabt, ist aber wegen seiner Familie wieder zurück nach Angermünde gegangen. Dort verdient er weniger, aber das Gefühl, zu Hause zu sein, wiegt das auf. Wichtig ist: Ein Uckermärker zieht wieder in die Uckermark, und nicht in ein virtuelles Brandenburg. Deshalb wird ein Wiederansiedlungsprogramm, gesteuert von einer Landesebene, wenig Erfolg haben, weil es Emotionen kaum ansprechen kann. Im Süden Brandenburgs gibt es auch Interessenten, so ein Portal zu starten. Wir versuchen, sie miteinander zu vernetzen.
JR Ja, die Steuerung von oben funktioniert nicht mehr. Politik sollte in erster Linie eine dienende Aufgabe haben, sich an der Eigeninitiative der Menschen orientieren. Das Zeitalter sollte vorbei sein, in dem gesagt werden kann: Jetzt wollen wir die Leute hier haben und jetzt dort. Der stärkste Veränderungsimpuls geht von Menschen an der Basis aus, die verstehen, dass Gemeinsinn nicht in Karos, sondern eben vielmehr in Schlangenlinien wächst, wie ein mäandernder Fluss. Dann finden sich neue Formen, Kreise, Spiralen, Schleifen …
TM In den Verwaltungen wird schon eine Menge diskutiert, aber visionäre Ideen haben es immer schwer. Etwas, das in eine neue Richtung weist, ist das »Regionalbudget«. Für seine Anwendung müsste man aber ein legitimiertes Entscheidergremium schaffen. Den Bürgern so ein Budget zu überantworten, bedeutet natürlich auch einen starken Verlust von direkter Steuerungsmöglichkeit, deshalb wird darüber ja auch heiß diskutiert.
JH  Ja, warum gibt es nicht Fonds, aus denen sich die Gemeinde nach Gutdünken
– dabei meint »dünken« das Denken, nicht Beliebigkeit – bedienen kann?
JR Es bräuchte dann Menschen, die in solchen Denkprozessen die Rolle von Moderatoren einnehmen. Eine Vermittlerrolle könnten gerade neu zugezogene, engagierte Bürger übernehmen. Sie könnten unvoreingenommen nach den Träumen, Wünschen und Visionen der Menschen vor Ort fragen, gemeinsam mit den Einheimischen einen Dorfplan oder Regionalplan entwickeln. Und auf Landesebene könnte man eine »Landeswerkstatt« zum Thema Demografie abhalten, eine Kreativwerkstatt der Bürgerschaft, die mehr ist, als nur ein Spiel, sondern die Verbindlichkeiten schafft.

Torsten Maciuga (50) war in den 1990er Jahren in verschiedenen Einrichtungen der Brandenburger Landesverwaltung wie dem Landesumweltamt und dem Umweltministerium tätig. Er arbeitet seit 2003 in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg als Referent für -demografischen Wandel.
www.demografie.brandenburg.de
Juliane Rudloff (32) engagierte sich 2006 bis 2007 für die Einrichtung einer Permakultur-Universität auf dem Gelände des ehemaligen Spreeparks in Berlin. Seit 2009 arbeitet sie als Referentin für Modellprojekte und demografischen Wandel im Arbeitsstab des Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer. Sie initiierte unter anderem das »Modellprojekt Zinzow« und ist für die Kongressreihe »Frauen machen Neue Länder« zuständig.

von Johannes Heimrath , Juliane Rudloff , Torsten Maciuga
erschienen in oya-online 10/2011
vollständiger Artikel: oya-online.de

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