Die Wiederentdeckung der Göttin als spiritueller Kraftquelle vollzog sich in unserem Kulturkreis erst in den letzten 50 Jahren. Ein Teil dieser Entwicklung ist die Fellowship of Isis, die 1976 gegründet wurde, um die Verehrung der Göttin zu pflegen und um ein Gegengewicht zu der Dominanz des Patriarchalen in der spirituellen Praxis aufzubauen. Sie knüpft an die Spätantike an. In dieser Zeit hatte die ägyptische Göttin Isis eine herausgehobene Stellung. Ihre Kultstätten fanden sich überall im römischen Reich und als Göttin der 10.000 Namen verband sich ihre spirituelle Kraft mit den jeweiligen örtlichen Traditionen. Daher steht sie stellvertretend für die Göttinnenverehrung aller Traditionen. Heute besteht ein weltweites Netzwerk von Gruppen und lokalen Andachts- und Ausbildungsstätten (Iseen und Lyceen), die neben der Pflege der umfangreichen Liturgie der Fellowship of Isis auch die jeweiligen regionalen Erscheinungsformen der Göttin in ihre spirituelle Arbeit einbeziehen.

Im Christentum erlangte Maria als Mutter Jesu eine besondere Bedeutung. Schon kurz nach dem Kreuzestod Jesu fragten die Gläubigen nach seiner Familie und nach der Geschichte seiner Mutter. Und weil die vier als heilige Schriften anerkannten Evangelien nur sehr wenig über Maria sagten, wurden die bekannten Marien-Überlieferungen im 2. Jahrhundert im Protevangelium („vor“ oder „kurzes“ Evangelium) des Jakobus zusammengefasst. Als Entstehungsort wird heute Ägypten angenommen, und dort hatten die christlichen Gemeinden unmittelbare Berührung mit der Isisverehrung. Daher wundert es nicht, dass sie ihr Interesse in besonderer Weise auf Maria richteten. Nach dem Verbot der heidnischen Kulte durch Kaiser Theodosius 391 schien die Verehrung der Göttin zunächst beendet. Doch schon im Jahre 431 verlieh das Konzil von Ephesus Maria den Beinamen/Titel „Gottesgebärerin“. Ephesus war jahrhundertelang das weltberühmte Kultzentrum der machtvollen Göttin Diana gewesen. Und in dieser Entscheidung des Konzils verband sich die theologische Frage nach dem Zustandekommen der göttlichen Natur Jesu mit dem überkommenen Bedürfnis, die spirituellen Energien der Großen Göttin in die neue christliche Religion zu integrieren. – Zwanzig Jahre später erhob das Konzil von Chalcedon Maria zur „immerwährenden Jungfrau“, damit die göttliche Natur Jesu als Mensch und zugleich als Gottessohn gewahrt werden konnte. Damit waren die kirchenrechtlichen Grundlagen geschaffen, die eine machtvolle Marienverehrung im Christentum ermöglichten.

Viele der ältesten erhaltenen Darstellungen der Gottesmutter zeigen sie als „Sitz der Weisheit“. Es sind machtvolle Darstellungen, die an die antiken Bildnisse der stillenden Isis mit ihrem Sohn Horus auf den Knien anknüpfen. In ganz Europa entwickelten sich im Mittelalter Wallfahrten zu Marienheiligtümern. Die Menschen schlossen sich in lokalen Schwestern- und Bruderschaften zusammen, um Reisen dorthin zu organisieren und die Marienverehrung vor Ort zu pflegen. Schon bald wird von Gebetserhörungen und Wundern berichtet. Maria wird für die Christen eine der wichtigsten Quellen spiritueller Erfahrung und ist es im katholischen Raum bis heute geblieben, auch wenn die dogmatische katholische Theologie ihre Bedeutung nur als Verweis auf Christus zulässt.

Die Region Berlin-Brandenburg gehörte bis zur Reformation zu den Zentren der Marienverehrung. Viele Orte mit starker spiritueller Kraft waren nach dem Sieg über die heidnischen Slawen der Maria geweiht worden. Leider sind die schriftlichen Überlieferungen nur sehr fragmentarisch und viele Kenntnisse können nur mit Hilfe der Archäologie erschlossen werden. In Brandenburg an der Havel beispielsweise lag das bedeutende Kultzentrum von Triglav, der Hauptgottheit des Stammes der Heveller. Einige Autoren neigen dazu, sie als androgyn oder weiblich zu betrachten. Auf dem alten Kultort entstand eine der wichtigsten Wallfahrtsstätten der Region, die Marienkirche auf dem Harlungerberg. Leider wurde die auch kunsthistorisch bedeutende Kirche im 18. Jahrhundert abgetragen.

Auch der Brandenburger Dom steht auf einer alten slawischen Burganlage. Bei Ausgrabungen in Groß Rahden in Mecklenburg stießen die Archäologen auf eine slawische Burganlage mit Tempel, der rekonstruiert werden konnte. Und in vielen anderen slawischen Burgen wurden ebenfalls Zeugnisse kultischen Handelns gefunden. So können wir heute davon ausgehen, dass in slawischen Burganlagen auch Kultstätten bestanden. Für den Brandenburger Dom als wichtigste christliche Kirche der Region im Mittelalter kann daher eine Kultnachfolge mit hoher Sicherheit angenommen werden. Auch heute noch erstrahlt Maria im Strahlenkranz als mächtige Himmelskönigen im böhmischen Altar des Domes.

Das überregional bedeutendste Wallfahrtszentrum der Marienverehrung im Brandenburger Raum aber war die Marienkirche in Göritz bei Küstrin, dem heutigen Gorzyca am östlichen Oderufer. Die Kirche soll durch umfangreiche Dankesgaben prachtvoll ausgestattet gewesen sein. Im Zuge der Einführung der Reformation wurden seitens des brandenburgischen Kurfürsten die Wallfahrten unterdrückt und die Kirchengüter eingezogen. In Göritz hielten sich die Gläubigen nicht an das Verbot. Der Kurfürst musste erst einen Trupp Soldaten entsenden, der das Gnadenbild zerstörte und das goldene Altargerät für seinen Landesherrn beschlagnahmte. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Kirche zerstört. Erst 1765-68 konnte an alter Stelle ein Nachfolgebau errichtet werden, der aber im 2. Weltkrieg schwerste Schäden erlitt. Dennoch hat die heutige katholische Gemeinde die Kirche wieder aufbauen und an die vorreformatorische Marienverehrung anknüpfen können. In dem kleinen Park bei der Kirche entstand eine kleine Lourdes-Grotte, die an die Erscheinung Mariens in heutigen Wallfahrtsort in Südwestfrankreich 1858 erinnert. Sie ist ein anrührendes Zeichen der Volksfrömmigkeit.

Wie bedeutend die Marienverehrung in Brandenburg vor der Reformation war, drückt sich u.a. darin aus, dass ein Großteil der wichtigsten Stadtkirchen und Klöster Maria geweiht waren. Manch herausragende Darstellung Marias, die immer noch die alten Hochaltäre dominiert, ist erhalten geblieben, auch wenn viele Kirchen seit der Reformation grundlegend umgestaltet wurden. Es ist daher auch in unserer Region reizvoll, auf Entdeckungsreise zu gehen, um die Große Göttin in ihrer christlichen Ausprägung zu erleben.

Der Autor arbeitet derzeit an einer Dokumentation zu den Marienorten in Berlin und Brandenburg. Die Berliner Iseen in der Fellowship of Isis werden dann auch Exkursionen anbieten, so dass die Göttin auch in unserer Region an ihren authentischen Kraftorten erfahren werden kann.

Foto: Manfred Janzen-Habetz – pixelio.de