von Gerhard Richter

Der Christbaum ist unser zentrales Symbol für Weihnachten. An Weihnachten holen wir uns deshalb einen Nadelbaum ins Haus und schmücken ihn. Der Baum steht dann für Frieden, heile Familie und dient als Ablageort für Geschenke. Früher symbolisierte er auch noch die Verbindung zur Natur. Ich mache das umgekehrt: In einer stillen Winternacht besuche ich einen Weihnachtsbaum in seinem Zuhause – im Wald.

 

Stille Nacht

Still ist es hier im Wald. Ungläubig horche ich in alle Richtungen. Es ist immer wieder schwer zu glauben, dass so viele Lebewesen, dicht beieinander, so wenig Lärm verursachen. Das macht Bäume so sympathisch, dass sie präsent sind, ohne zu labern. Es ist so still, dass ich das Innere meines Kopfes hören kann. Ein schrilles Pfeifen. Tagsüber, im Stadtgetöse blieb das gänzlich unbemerkt, war überlagert vom Lärm der Vorweihnachtszeit. Entgegen dem Mythos ist Weihnachten alles andere als ein Fest der Stille. Es ist eher das Fest der gehetzten Paketboten und der klingelnden Kassen.

 

Glitzer vom Himmel

Ich atme tief ein. Die Waldluft ist feucht. Es duftet nach Erde und Moos. Jetzt lege ich den Kopf in den Nacken und blicke hinauf in die Sterne. Heute Nacht ist der Himmel wolkenlos und klar. Umwerfend schön und wunderbar erfüllend ist so üppiger Sternenhimmel für mich – und mit seiner friedlichen Beständigkeit tatsächlich sehr weihnachtlich.

Jupiter und Saturn stehen in dieser Nacht nah beieinander. So eine Konjunktion zweier Planeten wirkt doppelt so hell am Nachthimmel, ähnlich wie der Stern von Bethlehem in der Weihnachtsgeschichte. Damals hat so ein kosmisches Ereignis die drei Weisen aus dem Morgenland zur Krippe mit dem Christuskind geführt.

 

Kosmos toppt Lametta

Es ist heute derselbe Nachthimmel wie damals. Nur dass sich diese Geburt in einem Stall in einer römischen Provinz innerhalb der letzten 2000 Jahre zu einem weltweiten Marketing-Ereignis ausgewachsen hat. Mit Lichterketten, die man mehrmals um die Erde wickeln könnte. Aber der Sternenhimmel über mir ist weitaus und feierlicher als jede blinkende Lichterkette aus dem Baumarkt. Oder Lametta.

Jetzt schaue ich mir aber mal einen der vielen Bäume genauer an. Deswegen bin ich ja mitten in der Nacht im Wald. Es ist eine Kiefer. Aber es ist nicht eine Kiefer, sondern es sind acht Bäumchen, die so tun, als wären sie einer. Ihre Stämmchen wachsen dicht beieinander – eigentlich ein Strauß Kiefern. Alle Bäumchen nebeneinander wirken wie EIN prächtiger Christbaum. Unten breit und ausladend und oben spitz zulaufend. Mit ausgestrecktem Arm und auf Zehenspitzen könnte ich ihre Spitzen gerade noch berühren.

Jede einzelne dieser Kiefern wäre viel zu spillerig, und wirkte vollkommen lächerlich als Weihnachtsbaum. Ein regelrechter Gegenentwurf zum herkömmlichen Traumbaum.

 

Der Traumbaum

Der ideale Weihnachtsbaum ist spindelförmig, dunkelgrün und dicht. Außerdem duftet er nach Fichtennadelschaumbad. Die Nadeln sollten stabil sein und nicht pieksen. Und obwohl der Baum fern seiner Wurzeln und ohne Wasser in einem beheizten Raum steht, sollten die Nadeln keinesfalls herunterrieseln. Erst nachdem der ganze Baum abgeschmückt und entsorgt wird. Lange Zeit war die Rotfichte in Mode, wurde aber in der Beliebtheit von der Blautanne abgelöst. Mittlerweile ist die Nordmanntanne der meistverlangte Weihnachtsbaum. Kiefern kauft kaum jemand. Warum, kann ich hier am lebenden Beispiel beäugen.

Mein Baum hier wächst wild. Er kennt die Idealform des Marktes nicht. Seine Äste ragen waagrecht vom Stamm. Also nicht waagrecht im Sinne einer gerade Linie. Da ist nichts Gerades an diesen Bäumchen. Die kleineren Zweige – das verrät ihre verwinkelte Form – sind hin und her, hoch und runter gewachsen; bis sie ihren vorläufigen Arbeitsort gefunden haben: einen Fleck in der Sonne!

 

Die Büschel erinnern an Klobürsten

Alle Richtungen haben die Zweiglein ausprobiert, sogar nach unten sind sie gewachsen, wenn da ein freier Raum lockte. Die Zweige sind weich und biegsam und schwingen bei jeder Berührung. Dann federn sie wieder zurück in ihr Gleichgewicht und tragen reglos ihre Last. Für eine Wachs-Kerze sind diese Zweige viel zu schwach. Für das Gewicht der feinen Nadeln jedoch genügt die Kraft. Die Nadeln sind lang wie mein kleiner Finger. Die Büschel erinnern an Klobürsten. Was sie können: gewichtslose Strahlen der Sonne erhaschen. Was sie nicht können: Lametta und Lichterketten tragen. Und gerade wegen ihres einzigartigen Wuchses mit ihrer Ausrichtung zum Licht wirken diese Bäume majestätisch.

 

Junge und alte wachsen zusammen

Es gibt hier auch einzelne ältere Bäume. Ihre Kronen ragen hoch über die Kiefernkinder hinaus. Ihre eigenwilligen Silhouetten zeichnen sich vor dem tiefseeblauen Himmel und den Sternen ab. Wie Palmen in einer karibischen Nacht. Fernweh pocht in meiner Brust und der Drang, noch viel mehr zu sehen von unserem Planeten. Wie kann ich diese Erde nur so lieben, obwohl ich so wenig über sie weiß? Wie schon so oft, wünsche ich mir, ich wäre ein Biologe und wüsste mehr über die Pflanzen hier. Wenigstens ihre Namen! Wenn schon nicht ihre Gewohnheiten und Gemeinschaften, die sie pflegen. Aber allein schon die Namen aller Pflanzen zu kennen an diesem Wegrand, würde mich schon komplett überfordern.

Die Sterne schicken genug Licht, so dass ich auch die Umgebung erkunden kann. Ich entdecke Moose, Gräser, Flechten, Bäume und Pilze. Und ich weiß: In der Erde hausen noch tausend andere Lebewesen: Asseln, Würmer, Ameisen, Käfer, Springschwänze, Spinnen und Milben. Wald-Erde gilt als die artenreichste Bodenstruktur. Angesichts dieser Fülle wirkt es geradezu armselig, einen jungen Baum nach etwa 7 Jahren Lebenszeit abzuschneiden, und sich damit „ein Stück Natur“ und ein Symbol für Familie, Geborgenheit und heile Welt in die weihnachtliche Wohnung zu holen. Paradoxerweise ramponieren wir dadurch die Geborgenheit unserer stabilen Erdsysteme.

 

Was wir sehen – und was tatsächlich passiert

Symbol und Realität klaffen beim Christbaum weit auseinander: Wir starren gerührt auf das Lametta und singen Lieder vom neugeborenen Erlöser, während vor unseren Augen das Leben langsam aus dem Baumkind weicht. Es vertrocknet einfach. Könnten Christbäume schreien, gäbe es rund um den 24. Dezember keine einzige stille Nacht. Ein Weihnachtsbaum ist eigentlich ein Symbol für Ignoranz und Rohheit. Ein mit Lametta behängtes Puzzlestück im Bild des achtlosen Umgangs mit Natur.

Es passt so gar nicht mehr ins 21. Jahrhundert, massenhaft Nadelbäume in Monokulturen auf großen Flächen anzubauen. 40.000 Hektar Fläche opfern wir Deutsche für diesen Brauch. Zusätzlich werden noch Millionen Bäume aus benachbarten Ländern importiert, aus Dänemark oder Polen. Aus der Sicht der Natur sind diese Monokulturen fragwürdig. Und weil die Bäume gedüngt und gespritzt werden, bringen sie neben einem Hauch von Frieden und Familiensinn auch schädliche Substanzen in die Weihnachtsstube. Der BUND hat die Nadeln von 17 Weihnachtsbäumen auf Pestizide untersuchen lassen. Bei 13 Bäumen, also 76%, wurden bis zu neun verschiedene Gifte gefunden. Eines davon – der Wirkstoff E 605 – ist so schädlich, dass er seit langem in der EU verboten ist.

Auf der anderen Seite bieten Weihnachtsbaumkulturen seltenen Vögeln Schutz. Biologen sprechen von „neuartigen Biotopen“, weil diese dicht bepflanzten Nadelbaumkolonien in unserer Kulturlandschaft erst seit einigen Jahren vermehrt auftauchen. Rund 5-13 Jahre bleibt so eine Weihnachtsbaumkultur weitgehend ungestört. Heidelerchen, Goldammern, Fitis und Heckenbraunellen brüten gern in diesen Habitaten. Ein Christbaum ist für diese Vögel ein wertvoller Rückzugsraum. Bis alles zu Weihnachten komplett abgeholzt wird. Keine schöne Bescherung für die Braunelle.

 

CO2-Fänger

Die 25 Millionen Nadel-Bäume zieren dann für zwei oder drei Wochen unsere Stuben. Anfang Januar werden sie entsorgt. Die Städtischen Abfallunternehmen organisieren oft eigene Sammeltouren nur für Weihnachtsbäume. Häufig werden sie thermisch verwertet, also schlicht verbrannt. Das CO2, das sie in ihren wenigen Jahren Lebenszeit aus der Luft geholt haben, schicken wir postwendend wieder zurück in die Atmosphäre. Eine vertane Chance. Sinnvoller ist es, die Bäume zu häckseln und zu kompostieren. Auch das wird von vielen städtischen Entsorgern bereits praktiziert. Das kann man auch im eigenen Garten machen: Mit den abgeschmückten Zweigen den Boden rund um empfindliche Pflanzen bedecken. Oder häckseln und mulchen.

Das alles kann ich mir sparen. Ich hole mir meine Christbaumstimmung draußen im Wald bei einer Kiefer. Die muss ich nicht mit nach Hause nehmen, sie bleibt hier und lebt weiter. Ich würdige sie als einen uralten und großartigen Mitbewohner meiner Erde. Als Heimat für Tiere. Nächstes Jahr kann ich sie wieder besuchen. Wir können uns anfreunden. Das wäre für mich ein viel stärkeres Symbol für Frieden mit der Natur.

 

Die Alternativen

Alternative Weihnachtsbäume gibt es schon seit über hundert Jahren. Die rabiaten Axthiebe in der Vorweihnachtszeit schmerzte schon viele vor mir. Im Lichte eines wachsenden Umweltbewusstseins keimte zum Beispiel bei Erfinder Gerhard Weiss das „Bedürfnis nach Schaffung eines künstlichen Weihnachtsbaumes mit gefälligem Aussehen, der bei Nichtgebrauch zerlegt und kompakt aufbewahrt werden kann.“ Weiss konstruierte einen „Kegelstumpfbaum“ – und meldete Schutzrechte darauf an. Eines von über hundert Erfindungen, die vergeblich versuchten, den echten Weihnachtsbaum zu ersetzen. Nur der Plastikweihnachtsbaum verkauft sich in nennenswerten Stückzahlen. Eine interessante und symphatische Alternative bietet derzeit der Keinachtsbaum.

Ich finde, es ist an der Zeit unsere Gewohnheiten zu überdenken. Und teilweise auch radikal zu verändern. Im Licht der Klimakrise ist es verantwortungslos, sich einen echten Nadelbaum in die Wohnung zu holen und drei Wochen später zu entsorgen. Gerade an Weihnachten sind wir Menschen schließlich offen für neue Botschaften.

Aus diesen Gründen habe ich den Klimabaum entwickelt. Statt künstlichem Glitzer wohnen Tiere darin. Der Baum bietet ihnen Schutz. Wir Menschen müssen endlich erkennen, dass wir einen immensen Einfluss auf die Natur haben, und dass wir diese Verantwortung wahrnehmen müssen. Deshalb spendet jeder Klimabaum 10 Euro für Fridays4future, eine weltumspannende Bewegung für Klimaschutz. So habe ich das Gefühl, meiner Verantwortung gerecht zu werden und kann ich in Frieden mit mir und der Natur Weihnachten feiern.

 

Links:

Klimabaum
www.christmas4future.com
https://www.bvwe.de/#

…neue Biotope…
https://www.riffreporter.de/flugbegleiter-koralle/flugbegleiter-habermalz-weihnachtsbaumplantagen/

https://keinachtsbaum.de/

Über den Autor

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Gerhard Richter

Der Schriftsteller und Naturvermittler Gerhard Richter lebt mit seinen drei Kindern in Wittstock/Brandenburg, Er arbeitet für den örtlichen Landschaftspflegeverband und für den deutschen Verband für Landschaftspflege (DVL). Als renommierter Journalist hat er Reportagen und Features für Deutschlandfunk Kultur und viele andere Sender produziert. Für die Riffreporter entwickelt er das Format Field-Writing. Dabei stellte er seinen Klappschreibtisch auf Mülldeponien, Verkehrsinseln, Truppenübungsplätze und andere anthropozäne Mikrolandschaften und tippte Feldreporte über sein Verhältnis zur Natur in seine Hermes Baby Reiseschreibmaschine. Im Ultraviolett Verlag erschienen sein Erzählband „Windungen“ (2021) und der Roman „Restluft“ (2023). Daneben hat er mit „Peak soil“ ein Handbuch über Boden verfasst. Mit dem Klimabaum wirbt Gerhard Richter für ein verantwortungsvolles Naturverständnis und sammelt Spenden für Fridays for future.

Foto: © Carsten Schober

 



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