von Jürgen Motog

»Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm. Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.«
(Erich Kästner)

Was wären wir Menschen vom Urbeginn an ohne die Bäume? Wir bewundern sie als Boten und Garanten der Unsterblichkeit mit ihrer wuchtigen, hochstrebenden Präsenz- gemessen an unserer menschlichen Lebensspanne und der aller anderen Lebewesen auf der Erde.

Der Anblick eines Baumes kann uns in sprachloses Erstaunen und beinahe in ein dämonenhaftes Erschrecken versetzen. Doch ihre Allgegenwart an Straßenrändern, in Gärten und Parks kann uns auch blind für das Wunderwerk Baum machen – eine Blindheit, aus der wir vielleicht erst dann erwachen, wenn Bäume aus einem Stadtteil ganz verschwunden sind, ja Urwälder kontinentalen Ausmaßes von gierigen Kahlschlägen und vom Absterben bedroht sind.

Bäume sind die Wale des Pflanzenreichs – doch wie sehr hinkt der Vergleich auch schon, kaum, dass er ausgesprochen. Bäume wurzeln – im Gegensatz zu den Meeresgiganten – f e s t  an einem Ort, streben allenfalls himmelhoch hinauf in eine Dimension, der gegenüber uns Menschen eine feste Grenze gesetzt ist.

Oder ihre Wurzeln dringen in unergründliche Tiefen, aus der heraus sich der oberirdische Teil immer wieder, sich selbst klonend, erneuert- das Alter einer solchen Wurzel einer Fichte in der schwedischen Provinz Dalarna hat man auf 9550 Jahre mithilfe der Radiokohlenstoffdatierung bestimmen können. Der Stamm und die Krone im oberirdischen Teil dagegen wurden auf ein Alter von ca. 400 Jahren bestimmt. Wie alt ist nun der Baum? Was ist der Baum? Ist er Wurzel? Stamm, Krone? Kann man, wenn  man lediglich das Alter der Wurzel bestimmt, vom Alter des g a n z e n  Baumes sprechen? …

Bewegt – verbunden  – verwurzelt

Wir Menschen bewegen uns von innen her, angetrieben von Trieben oder gedanklichen Vorstellungen, während der Baum im Erdreich ruht und nur von außen durch die Elemente bewegt wird. Im übertragenen Sinne kann freilich auch ein Mensch fest verwurzelt sein, und dieser wird gerne verglichen mit einem alten Baum, den man nicht verpflanzt. Hier gleichen sich Mensch und Baum, denn beiden wohnt die Fähigkeit inne, sich zu verbinden, feste Bindungen einzugehen in vielerlei Abstufungen und Qualitäten  – vom Organisch-Verborgenen, symbiotisch Verschmolzenen bis hin zur – vermeintlich- bewussten und freien Wahl.

So musst du sein, du kannst dir nicht entfliehn, dichtete Goethe über unsere Prägungen und Muster, die das menschliche Leben schicksalhaft bestimmen. Ein Gleiches gilt für die Bäume, deren charakteristische Silhouetten und erstarrte Bewegungsgesten wir im Lichte eines Frühlingsabends vorm Erwachen des Blattwerks nochmals – abschiedsbewusst – bestaunen, da wir schon das frische aufknospende Grün nach der langen Ruhezeit an den schwellenden Knospen erahnen und herbeisehnen.

Ihr drängt euch fröhlich und frei aus der kräftigen Wurzel/ Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute/ Mit gewaltigem Arme den Raum und gegen die Wolken/ Ist euch heiter und groß die stämmige Krone gebildet …“ heißt es in Hölderlins „Eichbäumen“, und dieses Motiv der Freiheit ist das zweite große Thema neben dem der Sterblichkeit und Unsterblichkeit, das uns Menschen mit den Bäumen verbindet.

Der Freiheitsbaum der französischen Revolution war Vorbild für die Mode, ja Tradition anderer europ. Länder, Freiheitsbäume – meist Fichten und Tannen, aufzurichten oder anzupflanzen und sie mit Fahnen und bunten Bändern zu behängen. Beliebt waren als Freiheitsbaum auch Pappeln, da im französischer Begriff „peuplier“ das Wort „peuple“ (Volk) anklingt. 1750792 sollen in Frankreich in ca. 60.000 Orten Freiheitsbäume gestanden haben. Das fand auch in Deutschland seine Nachahmer, doch wurde hier – Ordnung muss sein – das Aufstellen von Freiheitsbäumen strafrechtlich streng verfolgt. Schließlich wurde am 30. April 1990 in Anknüpfung an die revolutionären Traditionen des Vormärz vor dem Berliner Reichstag eine Freiheitslinde gepflanzt als Symbol der friedlichen Revolution in der DDR und als Zeichen der deutschen Wiedervereinigung.

Frei zum Licht

Der „Urbaum“ (in Analogie zu Goethes Idee von der Urpflanze) drückt die Freiheit seines Wesen in der Erscheinung aus, indem er sich im Raum ausbreitet, im Öffnen und im Aufstreben zum Licht. Und je stärker er „sich seine Freiheit nimmt“, desto stärker verkörpert ein Baumwesen auch die Idee der Unsterblichkeit. Bäume werden älter als jedes andere irdische Lebewesen. Kein Tier, auch nicht die verschwundenen drachenhaften Saurier der Prähistorie, erreichten jemals sein Alter oder sein Gewicht und seine Größe.

Bäume wurzeln tief oder flach, sowohl im Erdigen als auch – wie zum Beispiel die Kiefer im Norden – auf Granit kriechend und sich stützend, oder als Verschlinger und Verdauer menschlicher Bauwerke wie in den Tempelruinen von Myanmar, als auch in der Luft- oder Wasserwurzler wie bei die Zeder oder der Mangrove.

Bäume als Bilder der Unsterblichkeit

Wir Menschen, deren Lebensspanne begrenzt ist, erleben Bäume als Bilder, als Boten eines ewig-Beständigen, die anderen Gesetzen und einer anderen Uhr folgen als den jahreszeitlichen Erscheinungsformen.

Mächtige Einzelgänger wie die gewaltige, die ganze Bucht von Ireviken auf Gotland beherrschende uralte Kiefer, die tausendjährige Linde beim Dom zu Königslutter, die bis zu 1500 Jahre alten Ivenacker Eichen in der Nähe Demmins in Mecklenburg, die gigantischen, 2000 – 3000 Jahre alten Mammutbäume Kaliforniens sind für uns lebendige Vorbilder an Aufrichtigkeit, Stetigkeit, Hingabe, Standhaftigkeit … Sie scheinen die wichtige menschliche Eigenschaften in ihrer stillen, alles erduldenden und alles überdauernden Präsenz zu verkörpern… Das Alter der Bäume ist ein Faszinosum.

Was wäre unsere Kindheit ohne die Bäume gewesen?! Welch ein wunderbar freies Gefühl war es, in den Ästen der Fichte im Park nahe unseres Wohnhauses umher zu klettern, Schwindel und Höhenangst überwindend, dem Eichhörnchen Ratatök der Edda gleich. Wie liebten wir KInder es, Bäume zu erklettern, die  hohe, freie Aussicht und das „Sehen-Aber- Nicht-Gesehen-Werden“ zu genießen, um Himmelskundschafter und Boten der Ferne zu werden, dem  Erdboden entrückt, sich frei zu fühlen wie ein Vogel, dem nur  beim Hinunterspringen das Fliegen misslang. Doch selbst dieses Unmögliche schien möglich, zumindest im Traum – die Arme auszubreiten, um mit leichten Bewegungen oder mithilfe eines Flugsteins sich in die Kronen der höchsten Bäume zu erheben …

 Die Höhlen und Bäume unserer Kindheit und Jugend – wiederholt sich darin nicht etwas vom Gang der Menschheit? Doch bevor der Mensch im Schutz der Höhle hauste, holte er das Feuer aus den Wäldern. Der vom Blitz entflammte Baum schenkte dem Menschen der Urzeit das Feuer und damit Licht, Wärme und Leben. Er hütete es fortan als Göttergeschenk und hielt es heilig …

Zurück zum Ursprung

Der vom Sturm  gefällte, zerborstene und langsam vermodernde  Baumstamm geht wieder zurück zur Mutter Erde, aus der er hervorspross, sich aufrichtete, sich dann jahrzehnte- oder jahrhundertelang vermaterialisierte, und dabei  zwischen Stoffeswelt und der Welt des Lichtes vermittelnd nach einem geheimnisvollen – form- und gestaltbildenenden gesetzmäßigen Kraft wuchs. Diese Kraft ist nun wieder entbunden, losgelöst von der Materie – beide, Stoff und formgebundenes Leben – kehren zurück zu ihren Ursprüngen.

So auch der Mensch, der „umgekehrte“, der wandelnde, von der Erdgebundenheit befreite  Baum, der sonnenverwandte, oft auch sonnenabgewandte, in sich verschlossene Baum.

Wie tief symbolisch ist es, wenn zwei Liebende ihre Namen und ein Herz in einen Baumstamm ritzen. Es ist, als übergäben sie ihre Liebe, ihre Herzen und ihre Verbundenheit einem mächtigen Lebensgeist, der diese Verbindung nun mitträgt, miterleben lässt, aufnimmt u. wachsen lässt: ein lebendes Denkmal, das sagt: diese Liebe ist lebendig, unterliegt dem Wachstum und der Entfaltung, der Vergrößerung. Sie trägt etwas in sich, was – wie der Baum – zwischen Himmel und Erde vermittelt.

Über den Autor

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– verheiratet, 1 Kind
– Hörtherapeut, Pädagoge, Musiker, Psychotherapie (HP)
– Ausbildungen in Audio-Psycho-Phonologie, Klangtherapie
– Grundschulpädagoge, Musikschulpädagoge
– Musikstudium
– umfangreiche musikalische Tätigkeit
– diverse Publikationen

Mehr Infos

Mittlerweile als freischaffender Mensch tätig, nach vielen Jahren Lehrerberuf in der Grundschule.

Daneben – nach dem Studium von Kirchenmusik, alter Musik und v.a. scandinavischer Folk-Musik – Hörtherapeut nach Alfred Tomatis und Buch- und Musiknotenautor.

In Caputh am Schwielowsee hat er seit 2005 das HAUS DER KLÄNGE aufgebaut – interaktives Musikinstrumentenmuseum und Aufführungsstötte für musikalische Lesungen und Figurenschattentheater

 

 



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