Bild: © pixabay.comNeue Heldinnen braucht das Land 5. Oktober 2021 von Sabine Groth & Johanna Fröhlich Zapata Viele Frauen (und Männer) tragen nicht ohne Grund ähnliche Probleme mit sich herum, die nicht allein durch persönliche Selbsterforschung erkannt und gelöst werden können. Natürlich gibt es Probleme, die allein in der Biografie begründet sind. Aber es gibt eben auch gesellschaftlich zementierte Glaubenssätze, Abhängigkeiten und strukturelle Missstände, die uns hemmen, unser Potenzial zu entfalten. Diese zu erforschen, zu erkennen und zu benennen ist Teil einer ganz neuen Bewegung in Therapie und Beratung. Mann- oder Frau-Sein: Zu selten beachtet in Therapie und Coaching Ein Eisbär ist perfekt für die Arktis ausgestattet mit seiner schwarzen, wärmeabsorbierenden Haut und dem weißen, tarnenden Fell. Der Mensch dagegen kann theoretisch überall auf der Welt leben, er hat sich dieser Welt auf unterschiedlichste Weise angepasst und umgekehrt die Welt geformt und bewohnbar gemacht. Und dennoch: Wir werden in ein ganz bestimmtes Umfeld und in eine Gesellschaftsstruktur hineingeboren, in der Vieles vorgeformt ist. So hängt der emotionale Gesundheits- und Krankheitsstatus einer Bevölkerung stark von der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Struktur ab. Wohlbefinden ist nicht nur durch den genetischen Code oder das bloße Vorhandensein von Gesundheitsdiensten oder Versicherungen gegeben. Es gibt unfaire und potenziell vermeidbare strukturelle Unterschiede in einem oder mehreren Aspekten des Menschseins. Diese Unterschiede sind sozial, wirtschaftlich, demografisch oder geografisch definiert. Gender, also die gesellschaftliche Konstruktion der Rolle oder Kategorie „Frau” und „Mann”, ist auch eine Achse, an der entlang Gesundheit, Krankheit, Stellung und Rollenerwartung vordefiniert sind. Viele Frauen (und Männer) tragen nicht ohne Grund Probleme mit sich herum, die nicht allein durch individuelle Selbsterforschung in Gänze erkannt werden können. Aus diesem Grund hat sich eine neue Bewegung in Therapie und Coaching formiert: das Feministische Coaching. Sein Anliegen ist es, die persönlichen Herausforderungen mit der individuellen Biographie und den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Zusammenhang zu stellen und durch diesen umfassenderen Blick zu lösen. Grundsätzlich glauben wir, dass Leiden wie Depressionen und Ängste, oft gesunde Reaktionen auf ungesunde Umstände waren. Aufgabe von Therapie und Coaching ist es, andere Formen des Umgangs damit zu finden. Feministisches Coaching bedeutet, das Leben aus der weiblichen Perspektive zu betrachten. Die weiblichen Lebensphasen werden in den Coaching-Prozess mit einbezogen. Der kulturgeschichtliche Hintergrund und die Auswirkungen auf das weibliche kollektive Unterbewusstsein werden in Beratung, Coaching und Psychotherapie mit einbezogen. Weil Frauen aufgrund ihres Frau-Seins einer besonderen sozialen Situation ausgesetzt sind, braucht es einen therapeutisch geschützten sowie gendersensiblen Rahmen, um strukturelle Missstände im Alltag der Klientin zu entlarven. In der Feministischen Beratung werden gesellschaftliche Probleme deshalb, nicht – wie in anderen Formen der Psychotherapie – ausschließlich individualisiert, sondern im Kontext des Lebensumfelds betrachtet. Ein heilsamer Raum von Frauen für Frauen Eine Therapeutin kennt aus eigener Erfahrung die spezifischen Befürchtungen, Abwertungen und Probleme, die in unser patriarchales Umfeld hervorbringt. Das rein weibliche Setting, was im Rahmen feministischer Beratung oft gewählt wird, garantiert, dass sich die Klientinnen aufgehoben fühlen und sich direkt auf die Arbeit am eigenen Selbst konzentrieren können Der Raum unter Frauen ermöglicht deshalb in jedem Fall ein laborartiges Setting, um Heilung zu erfahren und Selbstwert so zu stärken, denn sobald ein Mann den Raum betritt, läuft bei vielen Frauen ein sehr altes, archaisches Muster ab: Sie prüft unbewusst, ob dieser Mann attraktiv für sie ist und ob sie begehrt werden möchte oder ob sie sich vor männlicher Übergriffigkeit schützen muss. Hinzu kommt, dass bei der Anwesenheit eines Mannes häufig Konkurrenz unter Frauen entsteht. Dies lässt sich auf die jahrhundertealte patriarchale Geschichte zurückführen, in der Frauen von der Gunst eines Mannes abhängig waren, um Einfluss auf Politik, Kultur, Finanzen, Bildung etc. nehmen zu können. Humanistische und insbesondere Gestalttherapie als Methode der Wahl Therapeut*innen wollen der Vielfalt von Individualität gerecht werden. Sie fördern die persönliche Veränderung ihrer Klient*innen, indem sie diese dabei unterstützen, mit sich selbst und anderen Menschen aktiv neue Erfahrungen zu machen, auf lebendige Weise neue Erlebens- und Verhaltensweisen zu erlernen und bestehende Schwierigkeiten zu überwinden. Frederick S. Perls, der die Gestalttherapie gemeinsam mit seiner Frau Lore Perls begründete, hat einmal gesagt, „dass Lernen Entdecken ist”. Deshalb wird beispielsweise in einer Gestalttherapie nicht nur geredet, sondern auch ausprobiert und experimentiert: mit Verhaltensweisen, körperlichen Bewegungen und Haltungen, mit Gedanken, Gefühlen und Einstellungen, und zwar sowohl mit den altbekannten als auch mit möglichen neuen. Es werden möglichst alle Bereiche menschlicher Erfahrung einbezogen und erforscht, der zwischenmenschliche Bereich, der emotionale, der körperliche und der intellektuelle. Die Gestalttherapie bietet individuelle Wege und ein Experimentierfeld für Frauen, um ihren persönlichen Weg zu finden, denn es gibt kein Patentrezept für Feminismus im Leben. Außerdem lebt das Patriarchat von Hierarchien und Asymmetrien, also ungleichen Möglichkeiten, zu entscheiden und selbstbestimmt zu leben. Die Gestalttherapie bricht mit diesem Gefälle. Ich gebe mich in den Sitzungen als Mensch mit meinen eigenen Widersprüchen durchaus zu erkennen. Das schafft Nähe und unterstreicht mein Anliegen: Frauen auf dem Weg in eine gleichberechtigte Struktur zu begleiten anstatt aus einer höheren Position zu belehren. Care Gap und Mental Load sind eine Hauptursache weiblichen, psychischen Leids Die Fürsorge-Krise wird neuerdings – vor allem im Zuge der Pandemie – in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert: Sorge um und Fürsorge für Andere gilt in unserer Gesellschaft in erster Linie als eine in das weibliche Rollenspektrum fallende Aufgabe und entsprechend empfinden Frauen auch eine gesteigerte Verantwortung dafür, sich sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht um andere zu kümmern. In Familien erfolgt die Aufgabenverteilung nachweislich entlang tradierter Geschlechterrollen – auch heute noch! Es sind primär Frauen, die sich hier engagieren. Das Problem: Fürsorge ist unbezahlt und erfährt deutlich weniger Wertschätzung als bezahlte Arbeit. In der Folge ist die Verteilung von Ressourcen immer auch eine Frage der Vergütung und der Zeit. Dass Frauen die Fürsorgearbeit zugeschrieben wird ist Ursache aller anderen Gender Gaps. Bei Wegbruch alter Familienstrukturen wird die Fürsorgearbeit vor allem Müttern zugeschrieben. Mit kleinen Kindern von 0-6 Jahren ist die Anzahl der Stunden, die eine Frau dem Mann „den Rücken freihält” eine Farce: Im Durchschnitt übernimmt eine Frau 19 Überstunden pro Woche. Das ist Arbeit, die Sie unbezahlt für den Mann ausgleicht (Quelle CareRechner von Alltagsfeminismus). In Therapie und Beratung vollkommen auszublenden, dass neben der Erwerbsarbeit genau diese Last der Fürsorge, der emotionalen Arbeit, der unsichtbaren Denkarbeit und Organisation auf dem Rücken von Frauen lasten, ist ignorant und blendet eine Realität aus, die im Sinne der Burnout-Prophylaxe ins Zentrum jeder therapeutischen Intervention mit fürsorge- und/oder erwerbs- arbeitenden Frauen und insbesondere Müttern gehört. Eines der großen Anliegen der feministischen Psychotherapie und Beratung ist es daher, Frauen darin zu unterstützen, Missstände zu erkennen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und sich für ihre Rechte einzusetzen. Auch zu erkennen: Selbstzweifel, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle sind nicht nur in meiner eigenen Lebensgeschichte begründet, sondern auch Folge einer jahrtausendelangen Abwertung des Weiblichen. Und zu erleben: Der selbstzweifelnden inneren Stimme kann ich eine ermutigende entgegensetzen. Ich kann es schaffen, aus der Opferrolle auszusteigen und Verantwortung für ein gutes, erfülltes Leben zu übernehmen, für mein Leben. Quellen: Was ist eigentlich Gestalttherapie? – Eine Einführung für Neugierige“ von Frank-M. Staemmler (2009) Mit diesem Ansatz haben wir eine Ausbildungswoche zur Feministischen Coach konzipiert. Wissenschaftlich fundiert. Ganzheitlich. Konkret. Der erste Durchlauf startet am 26. November 2021. Anmeldeschluss ist der 15.10.2021. Weitere Informationen unter: feministische-coaching-akademie.de Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.