Wir sind eine Gesellschaft der Raser, sind ständig in Eile, laufend unter Druck, und dauernd in Sorge, unsere To-do-Listen nicht abarbeiten zu können. Die Sorge ist berechtigt. Die To-do-Listen werden immer länger, die Zeit, die einzelnen Punkte darauf zu erledigen, bleibt gleich, gleich kurz, viel zu kurz. Wer Arbeit hat, ist nie fertig damit, nimmt sie mit nach Hause, in der Tasche, in der Mailbox, im Kopf. Wir lassen zu, dass man uns fast ständig, fast überall erreichen kann und reagieren auf fast alle Anliegen so schnell wie möglich. Den wenigsten von uns tut das gut. Kollegen, Freunde, Nachbarn klagen einander vor, wie sehr sie das steigende Tempo ihres Alltags stresst. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten über Menschen, die sich so ausgebrannt fühlen, dass ihnen nichts mehr gelingen will. Gerade jetzt macht vielen von uns zu schaffen, dass wir zugleich reich und arm sind – reich, weil wir uns leisten können, Güter zu kaufen; arm, weil wir kaum Zeit haben, etwas mit ihnen anzufangen. Kaum Zeit, Bücher zu lesen, CDs zu hören, Spiele zu spielen…

Eine Studie hat ergeben, dass Menschen in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit über ein geringeres Stressgefühl klagen, als Menschen, die in Regionen leben, welche eine geringe Arbeitslosigkeit aufweisen. Hessen, Bayern und Baden-Württemberg zählen zu den Bundsländern mit der geringsten Arbeitslosigkeit und die Menschen dort empfinden höheren Stress im Vergleich zu Bundesländern, die von hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind, wie es in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der Fall ist. Die Logische Folge dieser Entwicklung ist, dass die Kaufkraft in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gering ist und die relative Armut groß, während Baden-Württemberg, Hessen und Bayern zu den reichsten Bundesländern zählen.

Der schwedische Ökonom Steffan Linder hat auf den Zusammenhang zwischen Güterwohlstand und Zeitwohlstand bereits in den 70er Jahren hingewiesen. Gesellschaften sind entweder reich an Gütern oder reich an Zeit, aber Güterwohlstand und Zeitwohlstand verhalten sich umgekehrt proportional. Das heißt, entweder wir sind arm an Gütern, eine arme Gesellschaft, die aber viel Zeit zu verschenken hat und nicht das Gefühl hat, Zeit ist knapp; oder wir sind eine Wohlstandsgesellschaft wie unsere heutige Gesellschaft, die unter permanentem und wachsendem Zeithunger leiden.

Ob das ein Trost für die vielen Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sein kann? Wohl kaum. Denn in der globalisierten Spätmoderne ist es sogar möglich, an beidem zugleich zu verarmen: Über kein Geld zu verfügen und trotzdem keine Zeit zu haben. Wer reich ist, oder auch nur ein gewisses Vermögen angespart hat – wem also die Zeit knapp wird – der lebt in beständiger Sorge, das Geld zu verlieren; wer Zeit hat, wird bald finden, dass sie ihm gesellschaftlich entwertet wird, weil er als Arbeitsloser, Überflüssiger, Exkludierter zwangsentschleunigt ist, im Hamsterrad nicht mehr mitlaufen darf, und somit weder über Geld noch über Ansehen, Anerkennung, Status, Privilegien oder Positionen verfügt. Wir können nicht etwa wählen, ob wir lieber ein bisschen mehr Einkommen oder ein wenig mehr Zeit haben: Ständig haben wir Angst um beides… Entschleunigung bleibt ein Traum!

Die Geschwindigkeit in den täglichen Abläufen spürbar zu drosseln, Terminkalender nachhaltig abzuspecken, nicht mehr chronisch zu viel von sich zu verlangen – das alles kann man sich vornehmen. In die Tat umsetzen wird man es aber nur, wenn man bereit für einen wirklich großen Schritt ist, wenn man der Logik unserer ökonomischen Ordnung ein ganzes Stück weit trotzt, wenn man seinen bisherigen gesellschaftlichen Status aufs Spiel setzt. „Die soziale Wurzel des Beschleunigungsspiels … liegt im Wettbewerbsprinzip moderner Gesellschaften. Am deutlichsten zutage tritt das natürlich … in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dort ist Zeit ganz unmittelbar Geld“ formuliert der Jenaer Soziologe und scharfsinnige Beschleunigungstheoretiker Hartmut Rosa. Und er spitzt kritisch zu: „Wer nicht rennt in einer sozialen Dimension, rutscht automatisch schon zurück, verliert tendenziell an Wettbewerbsfähigkeit“. Genau das ist es, was die wenigsten von uns wollen, was kaum jemand auszuhalten bereit ist.

„Zeit wird zur entscheidenden Kategorie: Mache ich genug aus mir? Was kann, was muss ich herausholen aus meiner Lebenszeit?“ hat der Sozialpsychologe Harald Welzer gerade in einem glänzenden Essay über den Fetisch Wachstum „der als Wert längst in unsere Mentalität eingezogen (ist)“ geschrieben. Und wer ehrlich ist, wird zugeben, dass er seinen Alltag bewusst oder unbewusst sehr stark auch an diesen Fragen ausrichtet.

Gewiss, man muss vor solchen Tatsachen nicht kapitulieren. Aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen. Nur dann kann man mit ihnen umgehen, kann entscheiden, ob man in seinem bisherigen Koordinatensystem bleibt oder für sich, soweit möglich, ein neues entwirft.

Ferdos Forudastan, Hartmut Rosa

 

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