Schönheit ist als Grundqualität unseres Daseins immer anwesend, ist Autor Mike Kauschke überzeugt. Sie liegt nicht auf der glatten Oberfläche, sondern in den Tiefen des Lebens verborgen. Wenn wir das Schöne sehen können, kann es gelingen, auch die Gesellschaft schön und gerecht zu gestalten.

Über die Bedeutung der Kunst für unser Leben

Stellen wir uns eine Welt vor ohne Kunst, ohne Musik, ohne Dichtung, ohne Gemälde und Skulpturen, ohne Literatur, ohne Theater, ohne Filme … Es wäre eine kalte, eine traurige, letztlich eine sinnlose Welt. Vielleicht können wir ohne alldem überleben, aber leben wir noch?

Was ist eigentlich die Bedeutung und der Sinn unseres Hierseins? Was ist die Grundlage unserer Beziehungen als Menschen? Was die Vision unserer gesellschaftlichen Zukunft? Solche Fragen gewinnen auch mit der Corona-Pandemie und anderen Herausforderungen wie dem Klimawandel eine brennende Dringlichkeit. Und der Raum, wo diese Fragen auch verhandelt werden, ist die Kunst, die Ästhetik.

Diese Fragen werden wir nicht allein durch rationale Überlegungen lösen. Einen wirklichen Wandel unseres Menschseins, der heute als Forderung im Raum steht, hat auch einen ästhetischen Aspekt: „Was ist ein schönes Leben?“, fragt die Kunst, aber im Grunde auch die Philosophie, wie es der Philosoph Wilhelm Schmid als Kernfrage der Lebenskunst benennt. Er antwortet, ein schönes Leben sei ein „bejahenswertes Leben“. Aber ein bejahenswertes Leben hängt auch davon ab, dass es Werte gibt, für die es sich zu leben lohnt, und Erfahrungsräume, in denen sich die Schönheit des Lebens zeigen kann.

Das Schöne im Unvollkommenen

Ein Grund, weshalb wir Kunst, Ästhetik und das Schöne meist als „Nebensachen“ bezeichnen, liegt auch in unserem verkürzten und verflachenden Verständnis des Schönen. Der Philosoph Byung Chul-Hanh schreibt in „Die Errettung des Schönen“:

„Heute befinden wir uns insofern in einer Krise des Schönen, als das Schöne zu einem Objekt des Gefallens, des Like, zum Beliebigen und Behaglichen geglättet wird.“ Es ist eine „leichte Schönheit“, aus der eine „Konsumästhetik“ erwächst, die sich an den glatten Oberflächen, der Mode, dem Glamour orientiert, wie Yuriko Saito es in einem Interview mit der Zeitschrift evolve (1) ausführt.

Als eine Alternative zu dieser Ästhetik des Makellosen und Glatten, die zu einer Wegwerfkultur geführt hat, setzt Saito die japanische Ästhetik des Wabi-Sabi. Diese aus dem Zen-Buddhismus inspirierte Praxis nimmt unsere widersprüchliche, unvollkommene, vergängliche Existenz an und öffnet den Blick in eine existenzielle Schönheit inmitten aller Gebrochenheit.

Leonard Cohen fand mit seiner Zeile: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“ – In allem gibt es einen Riss, dort kommt das Licht hinein – einen poetischen Ausdruck dafür. Und tatsächlich wird in der ästhetischen Praxis des Wabi Sabi, beispielsweise in der „Goldreparatur“, damit gearbeitet, Gegenstände zu reparieren und die Bruchstelle nicht unkenntlich zu machen, sondern sie mit einer Goldspur hervorzuheben.

Saito zeigt die Relevanz einer solchen Ästhetik in Zeiten von Corona auf: „Ästhetik kann uns helfen, etwas zu akzeptieren, was jenseits unserer Kontrolle liegt. … Die Ästhetik des Wabi-Sabi bedeutet auch ein Bejahen der positiven Elemente, die aus dem Unvollkommenen entspringen oder aus Situationen, die schwer zu akzeptieren sind.

Wenn Sie etwas besitzen, was alt und ziemlich heruntergekommen ist, können Sie das annehmen als Zeichen der Vergänglichkeit. Sie können eine positive, zustimmende Haltung zu dieser Unvollkommenheit entwickeln oder einen wirklich kreativen Umgang mit ihr. Die Ästhetik des Wabi-Sabi hilft uns, einen Schritt über die Resignation hinaus zu tun. Wir können das Zerbrochene akzeptieren und dann nach Aspekten suchen, die wir wertschätzen können, und so einen kreativen Umgang mit schwierigen Situationen finden.“

Erfahrung des Einsseins im Schönen

Heute leben wir in vielfacher Weise in einer schwierigen Situation. Nicht nur in Zeiten einer Pandemie, sondern auch inmitten weiterer und noch umfassenderer Krisen, die mit dem Klimawandel, globaler Ungerechtigkeit, einem neoliberalen Kapitalismus mit einer wachsenden Schere zwischen Arm und Reich, mit der Zunahme psychischer Erkrankungen, einem Sinnvakuum, einer Verarmung und Polarisierung des öffentlichen Diskurses nur kurz und vollständig benannt sind.

In solch einem Kontext scheint es fehl am Platz oder zumindest fragwürdig, als eine Antwort das Schöne ins Gespräch zu bringen. Oder? Denken Sie jetzt einmal an die schönste Erfahrung Ihres Lebens, die Ihnen in den Sinn kommt. Eine Begegnung, ein Anblick, eine innere Wandlung, ein Erwachen. Diese Erfahrungen sind uns kostbar und wertvoll, es sind die Momente unseres Lebens, deren Wirkung wir oft kaum beschreiben können, die uns aber für immer verändert haben.

Die Illusion, dass wir ein getrenntes Wesen sind, das die Welt nicht berühren, sie aber manipulieren und ausbeuten kann, zerreißt im Spüren, dass uns etwas mit der Welt verbindet, dass wir im Grunde in Einem Sein wurzeln und atmen. Der Philosoph Plotin schrieb: „So kann auch die Seele das Schöne nur sehen, weil sie selbst schön ist.“

In der Erfahrung und der Gestimmtheit dieses existenziell Schönen werden wir dem anverwandt, was in uns dieses Empfinden hervorruft. Es ist ein Wiedererkennen in der grundlegenden Einheit der Existenz.

Gibt es einen Weg, solche Erfahrungen des Einssein im Schönen so zu erweitern, dass sie uns auch Orientierung darin geben können, wie wir heute und zukünftig Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft neu und schöner gestalten?

Eine schöne Gesellschaft

Ein weiterer Satz von Plotin zeigt uns eine Richtung: „Verwunderung, liebliches Staunen, Sehnsucht, liebende Hingabe – das muss die Empfindung sein bei allem, was schön ist“. Eine Erfahrung des existenziell Schönen löst in uns solche Empfindungen von Ehrfurcht, Respekt oder Andacht aus.

Der Philosoph und Dichter John O’Donohue schreibt in seinem Buch „Divine Beauty“: „Wenn wir der Welt aus Ehrfurcht begegnen, wird etwas Großes sich entscheiden, uns zu begegnen. Unser wahres Leben kommt an die Oberfläche und sein Licht erweckt die verborgene Schönheit der Dinge.“

Aus dieser ästhetischen Sicht können wir fragen: Wie könnte eine politische Kultur aussehen, die dem anderen Menschen mit einem solchen Respekt begegnet? Wie könnten sich unsere sozialen Beziehungen verändern? Wie würde eine Wirtschaft aussehen, die diese Ehrfurcht der Natur und ihrer Geschenke entgegenbringt, und auch den Mitarbeitenden, der Gesellschaft? Wie könnte eine Wissenschaft aussehen, die diese Haltung des andächtigen Staunens, das große Forscher kennzeichnet, kultiviert? Oder eine Kunst, die nicht auf Kommerz und Ruhm setzt, sondern sich den Respekt vor der wesensmäßigen Tiefe des Schönen bewahrt.

Es gibt auch Ideen, die das Schöne in diesem gesellschaftlichen Sinne aufgreifen: zum Beispiel die Idee der Resonanz, wie sie Hartmut Rosa als gelungene Weltbeziehung beschreibt, oder die Idee de Gemeinwohls: Wie orientiere ich mein Handeln an den umfassenden Lebensbezügen, in denen ich eingebettet bin, so dass sich alles Leben entfalten kann?

Diese Idee ist schön, weil sie aus dem Respekt und einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ kommt, wie es Albert Schweitzer formulierte. Und sie ist gut, weil sie allen und dem Ganzen dient. Und sie ist wahr, weil sie der Wirklichkeit unserer wechselseitig verbundenen Existenz gerecht wird. Hier verbinden sich das Schöne, Wahre und Gute zu einem handelnden Erwachen zum Wesen unseres Daseins.

Elizabeth Debold beschreibt dieses ethischen Aspekt des Schönen ausgehend von dem Essay „On beauty and being just“ der Philosophin Elain Scarry (2): „Es gibt einen lebenspendenden oder lebensfördernden Pakt zwischen dem Schönen und demjenigen, der ihm begegnet. Das Schöne, was immer es sein mag, hebt uns in die Ganzheit, die größer ist als wir selbst, und erweckt gleichzeitig unsere Fürsorge. ‚Die Tatsache, dass etwas als schön wahrgenommen wird,‘ erklärt Scarry, ist verbunden mit dem Drang, es zu schützen oder in seinem Sinne zu handeln.“

Das Empfinden für Schönheit kann uns darüber hinaus auch als ein richtungsgebender ethischer Leitstern dienen: „Scarry ist der Ansicht, dass Schönheit und Gerechtigkeit zutiefst wesensverwandt sind. Menschen empfinden Symmetrie als schön. … Symmetrie bedeutet Proportion, Balance, Gleichheit auf beiden Seiten. Genauso geht es der Gerechtigkeit um den Ausgleich, die Gleichbehandlung, die Gleichheit in den Folgewirkungen, die Fairness. Scarry erklärt: ‚Die Symmetrie der Schönheit führt uns zur Symmetrie, die schließlich im Bereich der Gerechtigkeit geschaffen wird – oder das Schöne unterstützt uns bei der Entdeckung dieser Symmetrie.‘“

Für das Schöne in der Welt anwesend sein

Das Leben ist schön und wir können es als unsere Aufgabe verstehen, es durch uns schöner, fürsorglicher und auch gerechter werden zu lassen. Gerade jetzt und gerade in einer Zeit der Krisen. Byung-Chul Han schreibt dazu: „Das Schöne als Ereignis der Wahrheit ist generativ, hervorbringend, ja dichtend. … Das Zeugen im Schönen weicht dem Schönen als Erzeugnis, als Gegenstand des Konsums und des ästhetischen Gefallens.“

Um in diesem Sinne gewissermaßen zu „Zeugen des Schönen“ zu werden, ist die Grundvoraussetzung, dass wir für das Schöne in der Welt anwesend sind, auch in aller Gebrochenheit, Unvollkommenheit, Unsicherheit oder manchmal auch Hilflosigkeit. Auch und gerade in solchen herausfordernden Zeiten ist das Schöne als Grundqualität unseres Daseins anwesend, wenn wir dafür anwesend werden. Einen Weg in diese Anwesenheit ebent uns immer wieder der poetische Blick der Kunst. Darin liegt die Systemrelevanz des Schönen, der Kunst und Ästhetik für jede Kultur, die diesen Namen verdient.

Der Dichter David Whyte schreibt „Beauty is the harvest of presence“ – „Schönheit ist die Ernte des Gegenwärtigseins“. Reverence und Presence – Ehrfürchtig-sein und Anwesend-sein – haben im Englischen einen resonanten Klang. Eine Haltung der ehrfürchtigen Anwesenheit kann uns so stimmen, dass wir uns dem Schönen öffnen können, wo es uns begegnet, und schöpferisch zeugend an der Entfaltung seines Geheimnisses mitwirken, welches das unsrige ist.

In einer solchen Anwesenheit, wenn wir sie miteinander teilen, finden wir möglicherweise auch neue Wege in die Zukunft, die nicht nur unser Überleben sichern, sondern unser gemeinsames Leben für mehr und mehr Menschen auch reicher, gerechter, sinnvoller, bejahenswerter und schöner werden lässt.

(1) + (2) evolve 27, Schönheit in einer zerrissenen Welt

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Online-Portal Ethik heute www.ethik-heute.org

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