Wie bekommen wir Abstand zu unserem Kopfkino? Wie werden wir leiser und unsere innere Stille lauter? Yogapsychotherapie geht weit über die Ansätze von Psychotherapie und Yoga hinaus. Durch die Verbindung von westlicher Psychologie und Yoga entsteht eine neue und ganzheitliche Perspektive. Vom Kopfkino zur inneren Stille – Die Praxis der Yogapsychotherapie gibt Antworten. Lesen Sie hier mehrere Buchauszüge.

Von Steffen Brandt

 

Die Stille in mir finden
Als Wolke so im Blauen schweben, das ist und bleibt das wahre Leben!
Sie fühlt sich wenn es blaut, sehr wohl in ihrer Haut.
Pu der Bär[1]

Unverhofftes Glück

Momente, in denen es bei uns blaut, sind meist Augenblicke von Stille. Im Urlaub verlieren wir uns auf einmal in der Weite der grenzenlosen Bergwelt und sind ganz still dabei. Oder wir erfahren das wild-tosende Meer ganz lebendig und unmittelbar. Trotz des Tosens wird es still in uns. Oder plötzlich hören wir auf einem Konzert keine störenden Umgebungsgeräusche mehr, werden stattdessen eins mit der Musik. Nur noch die Schönheit der Chance ganz mit der Musik zu sein. Jeder Ton ein körperliches Erlebnis. Gänsehautmomente.

Alltäglicher und wahrscheinlicher aber ist ein anderes Wohlgefühl. Dabei sind wir aktiv und beeinflussen unser Tun. Wir spazieren durch den Wald, die frische Luft in den Lungen, nur das Zwitschern der Vögel und der Wind in den Blättern – ansonsten Ruhe. Und bei jedem Schritt werden auch wir ruhiger. Die Unruhe des Alltags weicht vor die Tore des Waldes. Oder wir vergessen uns selbst bei der Gartenarbeit, vergessen die Zeit während wir unseren blühenden Garten wässern. Genießen still das Farbenmeer aus Lavendel, Dahlien und Gladiolen. Oder wir erleben eine dieser Yogastunden, wo das unruhige innere Treiben sich ordnet und ruhiger wird. Erleben Stille in Bewegung und fühlen uns wohl in unserer Haut.

Was die Stille stört

Das Wohlbefinden nach der Yogastunde nehmen wir mit nachhause. Doch ohne es zu merken, haben wir es nach kurzer Zeit wieder verloren. Manchmal ist der Auslöser offensichtlich: Kaum zu glauben, aber nach unseren stillen Höhenflügen auf der Yogamatte sind wir unsanft im grauen Beziehungsalltag gelandet oder befinden uns keine zwei Stunden später mitten im Zentrum eines Hurrikans aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen, streiten über die Socke am falschen Ort oder das Entfernen von Zahnpastaflecken am Badspiegel.

Andere Stillestörungen kommen mit Pflichten und verlockenden Angeboten daher: „Sag ja zum Leben. Sag ja zum Job. Sag ja zur Karriere. Sag ja zur Familie. Sag ja zu einem pervers großen Fernseher. Sag ja zu Waschmaschinen, Autos, CD-Playern und elektrischen Dosenöffnern. Sag ja zur Gesundheit, niedrigem Cholesterinspiegel und Zahnzusatzversicherung. Sag ja zur Bausparkasse. Sag ja zur ersten Eigentumswohnung.“ [2]

Wir haben alle Bedürfnisse nach Sicherheit, einem erfüllenden Job, einem schönen Zuhause, nach trauter Familie und guten Freunden, nach Geltung und Anerkennung. Bisweilen beschleicht uns dabei ein Gefühl von Unsicherheit. Eine Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Warum nur sind wir selten zufrieden und ausgefüllt? Etwas zu bejahen ist doch positiv. Mit vollen Händen greifen wir nach unserem Leben. Sagen ja zum „Lebst du schon, oder wohnst du noch?“-Zuhause, sagen ja zum pervers großen Fernseher, sagen ja zum neusten Smartphone. Anders als in den Werbespots suggeriert, macht uns dieses Jasagen nicht glücklich und von Zeit zu Zeit macht sich das Gefühl breit, dass trotz allem etwas fehlt.  Warum fühlt es sich manchmal so an, als griffen wir ins Leere?

Zurzeit sagen viele von uns Ja zum Yoga. Dabei entspannen wir, werden ruhiger, bekommen einen umfassenderen Blick auf unser Leben und mit ein wenig umsichtiger Mühe bekommen wir auch Einblicke in die leuchtende Welt von Stille und Gelassenheit. 

Nur, wer kommt da wirklich an? Ist es nicht wieder eines dieser leeren Versprechen? Wir werden beweglicher, gut. Aber nimmt diese innere Leere tatsächlich ab? Dieses Ringen, dieses Suchen? Es zieht und zerrt uns bald wieder weiter. Wir wechseln und probieren verschiedene Formen aus: vom Yoga zum Pilates, Progressive Muskelrelaxation statt Autogenes Training oder Gestalttherapie statt Psychoanalyse. Das schale Gefühl bleibt. Vor dem Ankommen und Einlassen im jeweiligen Übungsmodus sind wir längst wieder auf der Suche nach einem neuen Ja. Eilen von einem flüchtigen Ja zum nächsten.

Am blauen Himmel ziehen Wolken auf. Und statt zu blauen wird alles grau.

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Die Eigenheiten unseres inneren Karussells

Um Ihnen dieses innere Karussell zu veranschaulichen, möchte ich Sie zu einem Gedankenexperiment einladen. Stellen Sie sich Folgendes vor: „Es ist der erste Abend Ihres wohlverdienten Sommerurlaubes. Es ist ein schöner milder Abend an der Rivera. Die Abendsonne unterstützt den stürmisch-jugendlichen Impuls, das faszinierende Trampolin eines Vergnügungsparkes am Strand zu entern. Die nicht mehr ganz so jungen, urlaubsreifen Knochen beginnen zu springen. Nach immer mutiger und höher werdenden Sprüngen mit Meeresblick ein unsanftes Landen. „Aua!“ Stechende Schmerzen! 

Der Gang ins Hotel ist die Konsequenz. Kühlen, Salbenverband und Nachtruhe. Nächtliches Wälzen bei pochendem Fußgelenk. Am nächsten Morgen wachen Sie bei strahlendem Sonnenschein auf. Der Schmerz ist weg. Der Fuß fast wieder heil.“Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Das märchenhafte Happy End klingt fast nach Hollywood. Die wahrscheinlichere Variante ist nachfolgende.

Ich möchte Sie einladen, sich die Erfahrung von „Dumm gelaufen mit Meeresblick“ erneut vorzustellen: „Es ist der erste Abend Ihres wohlverdienten Sommerurlaubes. Es ist ein schöner milder Abend an der Rivera. Die Abendsonne unterstützt den stürmisch-jugendlichen Impuls das faszinierende Trampolin eines Vergnügungsparkes am Strand zu entern. Die nicht mehr ganz so jungen, urlaubsreifen Knochen beginnen zu springen. Nach immer mutiger und höher werdenden Sprüngen mit Meeresblick ein unsanftes Landen. „Aua!“ Stechende Schmerzen!

Kurz nach dem stechenden Schmerz setzen Gedanken ein. „Ist da was gerissen?“ Mit Sicherheit ist das was gerissen?“ Warum war ich nur so trottlig?“ „Jetzt ist der ganze Urlaub ruiniert!“  „Ich bin doch so urlaubsreif“ „Den Urlaub brauchte ich so dringend!“ „So was Ähnliches ist mir doch in Spanien auch passiert…“ Dazu gesellen sich Gefühle. Panik, Angst, eine Menge Sorgen, Wut (auf sich selbst), Traurigkeit. Und nachdem der Körper sich in den ersten Stunden des Ankommens und spätestens nach dem Baden und dem Strandspaziergang entspannt hatte, nun das genaue Gegenteil: Anspannung, Unruhe, Magengrummeln und – bei genauem Hinspüren – der flache, fahrige Atem. Kein besonnener Gang zurück ins Hotel, um den leicht verstauchten Knöchel zu versorgen. Stattdessen wird aus Schmerz Leid. Die Schmerzen bringen uns in Unruhe. Wir werden eng.“

In Variante 1 handeln wir ruhig, besonnen und zielgerichtet, ohne in das Kreisen des inneren Karussells einzusteigen. In Variante 2 hingegen erfahren wir die kraftvolle Dynamik des leidvollen Zusammenspiels von Gedanken, Gefühlen, Körper und Verhalten. Beide Varianten stehen uns als Potential zur Verfügung. Das einzige Problem ist, dass Variante 2 uns sehr vertraut ist und Variante 1 aus einer Märchenwelt zu kommen scheint.  

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„Glaube nichts alles, was du denkst“ – Ausstiegsmöglichkeiten

Warum aussteigen? Und überhaupt: Woraus aussteigen? Im Alltag sind wir meist gestresst und jagen von Termin zu Termin, von Aufgabe zu Aufgabe. Wir tun zehn Dinge auf einmal, sind von A nach B unterwegs, innerlich aber schon bei C. Wir arbeiten den Tag über unsere To-Do-Listen ab, die To-Do-Listen, die wir brauchen und die uns eigentlich definieren. Wir arbeiten und wir bewerten uns dabei: wir sollten schneller, besser, eleganter sein; wir sollten weniger Fehler machen und nicht begriffsstutzig, ungeduldig, harsch, feindselig, egoistisch sein. Automatisch führen wir robotergleich unsere Aufgaben aus und sind gut darin, uns dabei – meist negativ – zu bewerten. Wir beschäftigen uns ohne Unterlass damit und sind deshalb häufig nicht ganz bei der Sache, sind dabei abwesend und in Gedanken. Mechanisch regeln wir unsere Alltags-To-Do` s. Wir sind aus, und unser Roboter-Ich läuft auf Hochtouren.

Aufmerksamkeitslenkung und Präsenz – „An-Sein“

Wenn es um bei-einer-Sache-bleiben und An-Sein geht, lohnt es sich bei einem Meister dieses Faches in die Lehre zu gehen: bei Beppo, dem Straßenkehrer aus Momo. „Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter: Schritt – Atemzug – Besenstrich. … Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“[3]

Erinnern wir uns an den ersten Teil dieses Buches wird schnell klar, warum Beppo ein Meister ist. Denn wären wir an seiner Stelle, schauten wir auf und dächten die Straße als Ganzes und dächten „Das schaffen wir nie!“ oder „Mein Gott, ist das langweilig!!“ oder „Es so anstrengend, mit dem Wind, dem Regen, der heißen Sonne…“. Wir dächten und würden denkend und fühlend elendig wiederkäuen.  

Schritt-Atemzug-Besenstrich ist eine simple und vollständige Anleitung für eine Bewegungsmeditation. Es ist eine Übung der Aufmerksamkeitsfokussierung. Und immer dann, wenn ich die ganze Straße denke oder mich anderweitig ablenke, kehre ich zurück zu meinem Fokus: Schritt-Atemzug-Besenstrich. Ganz simpel, aber überhaupt nicht einfach. Denn meine Gedanken wandern mit mir und meine Gedanken führen mich aus dem Jetzt des Kehrens in die Zukunft („…noch so viel Arbeit“) oder die Vergangenheit („Warum habe ich damals in der Schule nicht besser aufgepasst, dann müsste ich heute nicht endlos kehren“).

Unsere Aufmerksamkeit ist wie ein Muskel. Leider ein Muskel von dem wir bisher nichts wussten. Die gute Nachricht ist: Aufmerksamkeit kann – wie jeder Muskel – trainiert werden. Was wir dazu brauchen: Trainingsprogramme mit Trainingsübungen und einem Trainingsplan.  

Was meint Aufmerksamkeitsfokussierung? Wenn wir aufmerksam zuhören, dann hören wir genau hin. Wir bekommen die Inhalte und vielleicht auch die Untertöne des Erzählten mit und sind innerlich nicht bei anderen Gedanken oder haben gar auf Durchzug geschaltet. Unsere Aufmerksamkeit ist ausgerichtet und auf den gegenwärtigen Moment fokussiert. Im Jetzt lässt sich schwer nachdenken oder träumen. 

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten, sind wir ganz da: Schritt-Atemzug-Besenstrich. Wir sind nicht länger „von Sinnen“ sondern sind „bei Sinnen“, riechen, schmecken, hören unsere Umgebung. Trinken wir dann Cappuccino, dann schmecken wir den Kontrast von Milch und dem Bitteren der Kaffeebohnen und spüren den Milchschaum an den Lippen und auf der Zunge.

 

[1] Pu der Bär, A.A. Milne

[2] Trainspotting, Irvine Welsh

[3] Momo, Michael Ende

 

Vom Kopfkino zur inneren Stille
Steffen Brandt
ISBN: 3347115627
EAN: 9783347115620
Die Praxis der Yogapsychotherapie.
Auflage 1.
Paperback.
tredition
11. September 2020 – kartoniert – 268 Seiten

Über den Autor

Avatar of Steffen Brandt

Steffen Brandt arbeitete als Diplom-Psychologe und Yogalehrer (BDY/EYU) seit 2004 in verschiedenen klinischen und beraterischen Kontexten. 2015 gründete er die Praxis für Psychotherapie und Yogapsychotherapie und begleitet dort als Psychologischer Psychotherapeut mit Niederlassung, Yogatherapeut (BYZ) und Yogameditationslehrer (SIY) Menschen mit unterschiedlichsten Anliegen. Als Dozent für Achtsamkeit und Yogapsychotherapie bildet er Therapeut*innen und Yogalehrende fort.

Kontakt
Praxis für Psychotherapie und Yogapsychotherapie
alle Kassen und privat
Karl-Liebknecht-Str. 28
14482 Potsdam
E-Mail: info@steffenbrandt.com
Tel.: 0171-1863424
Homepage: www.steffenbrandt.com


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