Von Till Ferneburg aus Potsdam

Seit mehr als hundert Jahren fährt der Stadtbewohner unserer modernen Zivilisation im Sommer gerne ans Meer. Warum das? Warum sitzen sie dort massenhaft an den Stränden herum, wo es nichts als Wasser, Sand und Wellen gibt und viele andere Menschen? Der Künstler und Mystiker Till Ferneburg deutet und umschreibt hier unsere Sehnsucht nach dem Meer, dem Strand und dem Wasser mit poetischen Worten und entdeckt darin die Essenz von Tantra

Im Sommer geht es ans Meer. Dabei ist der tägliche Aufbruch an den Strand eine Prozession. Bereits als Kind habe ich Burgen aus Sand gebaut. Mein Vater half mir dabei, während mein Großvater ein paar Meter entfernt stand und lange aufs Meer hinaus schaute.
Am Meer bekommt man eine Ahnung, was Unendlichkeit bedeuten kann. Die Welt ist weit und der eigene Bereich überschaubar; hier ist der Strand, dort vorne sind die Wellen und hinter uns die Dünen.
Die Erholung, die ein Urlaub am Strand gewähren kann, ist so fundamental, dass viele von dort aufgeräumt in ihren Alltag zurückkommen. Warum ist das so? Warum hat der Aufenthalt am Meer eine fast spirituelle Qualität und dient der Entschleunigung, Erdung und Selbst-Entdeckung?
Das Meer ist ein Mythos, es fasziniert uns Menschen. Es ist blau, so wie ein Fohlen jung und der Regen nass ist. Blau ist die Farbe der Ferne, der Freiheit, der Grenzenlosigkeit. Blau löst Innenräume auf, deshalb wird es selten als Raumfarbe eingesetzt.
Das Meer kann auch türkis leuchten oder sich flaschengrün präsentieren, auch dann wirken seine Farben beruhigend, ausgleichend und regenerierend.

Setting als Stimulus

Rieselnder Sand zwischen den Fingern und salzige Luft. Der Horizont dehnt sich aus ins Endlose, und die Wellen murmeln beruhigend – es ist ein Fest für die Sinne. Insofern ein tantrisches Fest, denn die Erweckung der Sinne gehört im Tantra zu den Grundlagen. Ebenso die Rückkehr zur Nacktheit: Wir geben uns die Blöße. Am Strand ist fast jeder weitgehend unbekleidet, nicht selten sogar ganz nackt.
Man spürt den Wind und die Sonne auf der Haut. Wer den Blick schweifen lässt und dabei einen anderen Blick auffängt, kann flirten, wenn er oder sie das mag. Hier kann man das Knistern und die Natürlichkeit genießen, fernab aller Konventionen, die durch Wahl von Kleidung, Unterkunft und Transportmittel im Hinterland sonst gegeben sind.

Wenn alle das tun, was ansonsten als verpönt oder kindisch gilt, verschwimmen die Unterschiede: Als Eltern matschen und albern wir mit Wasser und Sand rum, wir raufen mit den Kindern oder lassen uns bis zum Hals im Sand eingraben. Sand stimuliert den Tastsinn. Das Barfußlaufen oder eine Wattwanderung durch schmatzenden, glucksenden Schlick wirken wie eine Massage. Das Meer lässt uns Dinge spüren, die aus der Alltagswahrnehmung des heutigen Stadtbewohners verschwunden sind oder für die anderswo kein Platz mehr ist. Für mich ist das tantrisch.

Unbeschwertheit, Lebendigkeit

Die Verbindung von körperlicher Betätigung und den Ruhephasen unterm Sonnenschirm ist ein Jungbrunnen, das gilt für das Schwimmen im Wasser ebenso wie für das Ballspiel am Strand. Der Büro-Alltag dagegen ist unsinnlich und weitgehend ohne Glücksmomente: keine Zehen, die sich im Sand eingraben, keine aromatische Luft und kein Salz auf der Haut, das die Phantasie anregt.
Die Kulisse am Meer könnte nicht gegensätzlicher sein, sie besteht aus Farben, Klängen und der Unendlichkeit des Wassers.
Die Ozeane sind dunkel und tief, sie laden die Gedanken ein, auf Reise zu gehen. Nach dem Auftanken der Lungen mit der sauerstoffreichen Meeresluft ist der Schlaf tief und fest.
Ein Aufenthalt am Meer bietet Genuss, aktive Entspannung und Meditation. Allein das Eigengeräusch des Meeres, diese Geräuschkulisse des Rauschens und Brausens, hat eine Qualität, die Tontechniker seit Jahrzehnten einzufangen versuchen. Man kann in diesem Geräusch versinken, durch die Monotonie der Wellen in Schlaf oder Trance eintauchen. Nur am Meer spüren wir diese Ästhetik, ein angenehmes Rauschen, das überall anders als störend und nervend empfunden würde.

Elementare Dinge

Am Meer machen wir uns Gedanken über elementare Dinge wie die Wellen als Ausdruck von Lebendigkeit. Der Wechsel der Gezeiten, Ebbe und Flut sind der Atem des Planeten. Alles atmet, alles ist Bewegung, und wenn ein Erdbeben den Meeresboden schüttelt, erheben sich die tektonischen Platten wie mächtige Elefantenrücken, so dass gefährliche Riesenwellen alle Strandbewohner in Lebensgefahr versetzen.
Wasser ist ein geheimnisvolles, rätselhaftes Element. Wir alle stammen aus dem Wasser des Urozeans, die Amphibien waren
die ersten, die von dort an Land gekrochen sind, erst später wurden aus ihnen Vögel, Säugetiere, Affen und der Mensch.
Aus dem salzigen Fruchtwasser unsere Mütter kommen wir noch heute und wollen so gerne in jene Schwerelosigkeit zurück.
In Salzwasser zu treiben, sich Wellen entgegen zu werfen oder sich von ihnen tragen zu lassen, ist ein erhebendes Gefühl.
Die Legenden unterschiedlicher Kulturen von der Entstehung der Welt berichten, dass am Anfang alles einem Meer ohne Licht glich. Wasser als Wohnort der Götter, als Manifestation göttlicher Essenz wird zum Wasser als Element der Einweihung. Regen, Lebenssaft, Milch und Blut sind die Substanzen, die durch die Natur kreisen und mit der Macht fließenden Wandels begabt sind. Ins Wasser tauchen heißt, nach den letzten Geheimnissen suchen.

Wasser und Wandel

Wer ins Fließen kommt, spürt intuitiv, dass alles im Fluss ist. Alles ist bewegte Masse. Materie strömt: Die Ströme des Meeres und die Wirbel der Wellen. Die Strudel der Energie lösen die Formen auf. Die Welt ist nur linear geronnen. Was fest oder steif ist, wird leicht und weich, bis es sich wieder zu neuen Formen und in neuen Bindungen vereint.
Die Sicht des Universums als Zwischenspiel sich bewegender Kräfte ist einerseits durch die Erkenntnisse moderner Wissenschaft belegt, andererseits das Ergebnis einer ganz besonderen Wahrnehmung. Das herkömmliche Wachbewusstsein betrachtet die Welt als feststehend. Schwarz und weiß, gut und böse, ein Leben in Grenzen und Denken in Schubladen sind die Gewissheiten, an die wir uns zu halten versuchen. Bis wir sie eines Tages hinterfragen, weil sich darin Brüche auftun. Schattenarbeit und das Eintauchen in Grauzonen lässt uns jener Non-Dualität gewahr werden, ohne die der tantrische Pfad nicht begangen werden kann.

Zerrinnender Sand

Vielleicht ist dieser Weg ein sandiger. So mancher Wunsch – vielleicht jeder – ist von Anfang an auf Sand gebaut. So können wir es uns nie in unseren kleinen Welten bequem einrichten. Der zerrinnende Sand steht für das Unterbewusste, für die andere Art der Wahrnehmung, die breit, ganzheitlich und undifferenziert ist und die eher Muster und Zusammenhänge denn fixierte Objekte
sieht. Wir können Widersprüche lieben lernen. Wir können Ambiguitätstoleranz üben und das Aushalten anderer Sichtweisen, Meinungen und Einstellungen als eine neue Art der Berührung erleben. Es gibt so viele Wege zu Hingabe und Fülle; am Anfang der Reise ahnen wir noch kaum etwas davon.
Ein Aufenthalt am Meer bedeutet: Loslassen, Ankommen im Augenblick und bei sich selbst. Eine Fahrt übers Meer bedeutet: Bereit sein für Veränderung, sich Einlassen auf Entdeckungen, die auch in Riffen, Strömungen und Stürmen bestehen. Mag die See auch hoch hergehen, wer einmal sprühende Gischt im Gesicht gehabt hat, weiß um deren Frische und Belebung.

Dieser Text erschien zuerst in der Connection special 93. Buchempfehlung: Wolf Schneider, Das Tao des Wassers, Connection Books 2004, 16,90 €

 

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