Praktische Philosophie zur Lebensbewältigung

Einige Gedanken von Dorothée Brüne

Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo werde ich hingehen? – Welche Rolle spielt der Mensch im Universum? – Was ist das Sein? – Gibt es Kräfte, die größer sind als das sinnlich Wahrnehmbare? – Wie gelingt gutes Leben? – Wann ist Leben schön? Große Fragen. Diese Grundfragen der abendländischen Philosophie wurden im Laufe der Jahrhunderte in den Disziplinen Anthropologie, Ontologie, Metaphysik, Ethik und Ästhetik behandelt. Wer kennt die noch? All diese lateinischen Wörter. Was können die uns heute noch sagen?

Derzeit ist die Philosophie des Abendlandes in spirituellen Kreisen nicht sehr en vogue. Da werden buddhistische Schriften gelesen. Da wird aus den Veden zitiert. Am liebsten jedoch wird Buchwissen vermieden. Es geht um Erfahrung, nicht um konserviertes Wissen. Man beruft sich auf mündlich oder praktisch überlieferte Traditionen.

Das hat seine Berechtigung. Denn auf Herzensbildung hat die Klassische Philosophie wenig Wert gelegt. Auch die Frauen kamen dort weniger zu Wort. Und dem menschlichen Leib wurde in der Philosophie nach Platon und Aristoteles wenig Beachtung geschenkt. Einzig und allein den Geist galt es zu schulen. Bis…? Ja, bis ins 19. Jahrhundert hinein.

Es waren Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche, die die asiatische Philosophie und den Körper in die Philosophie zurückgebracht haben. Seitdem hat sich da viel getan. Buddhismus, Voodoo, Santeria, Schamanismus. Jede philosophische Tradition dieser Welt findet mittlerweile Beachtung in philosophischen Kreisen. Doch wer kennt Philosophen wie Henri Bergsson, Ernst Cassirer, Maurice Merleau-Ponty? Jean-Paul Sartre, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno waren in den 70er Jahren Bestseller, beeinflussten Studentenbewegung und Reformpädagogen.

 

Philosophische Praxen

Als ich 1984 in Düsseldorf mein Studium der Philosophie begann, hatte bereits die erste Philosophische Praxis in NRW ihre Pforten geöffnet. Gerd Achenbach beschloss 1982, die Philosophie aus der Mottenkiste bzw. aus dem Elfenbeinturm auf die Erde zu holen und sie praktisch nutzbar zu machen. Bis heute hat er in Mönchengladbach seine Praxis und bildet Praktische Philosophen aus. Seither gibt es nicht nur in Deutschland, sondern weltweit die Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis mit ihrem Sitz in Berlin.

Ja, es geht in einer solchen Philosophischen Praxis um das Denken. Aber wie damals schon mein Professor Rudolf Heinz sagte: Nicht nur der Kopf, sondern der gesamte Körper denkt. Heute wird vom Leibgedächtnis oder englisch von Embodiment gesprochen. Was aber denkt mein Fleisch und wie gelange ich an diese Gedanken?

Zunächst einmal dadurch, dass ich mich mit möglichem Gedankengut beschäftige – sagen die Philosophischen Praktiker. Ich muss eine Ahnung haben, was solch ein Körper denken KANN, um erkennen zu können, was meiner so vor sich hindenkt.

Erkenne dich selbst – das war der Leitspruch von Sokrates. Deinen Geist, deine Gefühle und deinen Körper. Menschliche Trinität.

 

Philosophie und Fragen von Welt

Sich wieder mit philosophischen Fragen zu beschäftigen kommt in der aktuellen Weltlage niemand umhin. In Anbetracht von Klimakrisen, Corona-Pandemie, Fremdenfeindlichkeit, Flüchtlingsproblematik, aber auch in Bezug auf sich verändernde Arbeitswelten, zunehmende Digitalisierung, Plattform-Kapitalismus, Reisen ins Universum gilt es immer wieder aufs Neue, sich zu positionieren.

Wie aber gelangt Mensch zu einer Position? Welche Werte, welche Kriterien können dem zu Grunde liegen? Welche Werte stehen überhaupt zur Debatte? Sind wir nicht alle so sehr daran gewöhnt, die Ökonomie über alles zu stellen, dass andere Werte längst in Vergessenheit geraten sind?

Richard David Precht fragt in seinem zu Pandemiezeiten herausgekommenen Buch nach der Pflicht. Welche Rechte haben Bürger in einem liberalen Sozialstaat, aber auch welche Pflichten? Er fragt danach, welchen Bezug der Einzelne zum Gemeinwohl hat und braucht. Wie kann eine stärkere Verbundenheit hergestellt werden? Ist dies aber ein liberaler Sozialstaat? Leben wir nicht vielmehr in einer Diktatur – wie mir vielerorts zu Ohren kommt? Manchmal habe ich den Eindruck, dass an dieser Stelle eine Begriffsklärung vonnöten ist.

Arbeit am Begriff aber ist ursächlich philosophische Arbeit. Anstrengend! Ich weiß. Aber es lohnt sich. Denn nur, wer diesbezüglich Klarheit hat, ist in der Lage, eigenverantwortlich und mündig Entscheidungen zu treffen.

Es sind Fragen von großem Belang, die sich jeder Einzelne plötzlich zu stellen hat. Ist es alleine meine Angelegenheit, ob ich mich impfen lasse oder bin ich für meine Mitmenschen, für Alte, Kranke und Schwache mitverantwortlich? Mag ich mich mitverantwortlich fühlen? Sonst interessiert sich doch auch niemand für meine Belange. Gilt nicht vielmehr die Freiheit des einzelnen Individuums? Freiheit grenzenlos? Macht es Sinn, dass Freiheit auch Grenzen hat?

 

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Dass die Abendländische Philosophie in Verruf geraten ist, liegt auch daran, dass Philosophen gerne Fragen stellen. Wer viele Fragen stellt, findet nicht immer Antworten. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, lautete eine der Erkenntnisse jenes Sokrates der griechischen Antike. Nicht-Wissen ist oft nicht leicht auszuhalten. Der Sinn solchen Tuns ist dann nicht gleich einsichtig. Wo bleiben die schnellen Resultate, die wir alle so gewohnt sind? Weshalb das Fragen vermieden wird, wenn es nicht schon im Kindesalter ausgetrieben wurde oder in Schule und Beruf.

Philosophische Praktiker eröffnen einen Raum des Fragens, der Neugierde, des offenen Geistes. Manchmal lassen sich dann auch Antworten finden. Neue Antworten. Antworten, die aus einer größeren Tiefe kommen und die mehr Anbindung an das eigene Selbst haben.
Neugierig geworden?

 

Philo-Cafés

Seit den 60er Jahren hat sich in Paris die Institution des Philosophischen Cafés etabliert. Lutz von Werder und Maurice Schumann haben sie in Berlin eingeführt. In Paris trifft man sich sonntagmorgens um 10 Uhr – in Berlin würde das bedeuten: frisch nach der Clubnacht. Ein jeder, der Interesse hat am philosophischen Austausch, ist eingeladen. Besondere Vorbildung ist nicht nötig. In einer Anfangsrunde wird geklärt, welche Themen die Anwesenden derzeit bewegen. Der Moderator wägt ab, wo sich die Interessen bündeln. Dieses Thema wird dann im Miteinander fragend erspürt, berochen, beredet, ersonnen.

Philo-Cafés bieten die Chance, dass auch heterogenes Gedankengut aufeinander trifft. Ja, man ist dann nicht immer einer Meinung. Es pflichten einem auch nicht immer alle einhellig bei wie im Freundeskreis. Gerade aber in dieser Pluralität hat Denken die Chance, auf stabilere Füße gestellt zu werden. Kontemplative Philosophie nennt das Ran Lahav, der neue Formen des Philosophierens für das 21. Jahrhundert sucht.

Ob Philo-Café, ein Einzelgespräch bei einem der Philosophischen Praktiker oder die Philosophische Nacht per Zoom-Call, ich freue mich, dass das Interesse an der Philosophie wieder neu entfacht und lade jeden ein, gemeinsam mit mir zu philosophieren.

 

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Ran Lahav: Handbuch für Philosophische Kameradschaften, Loyev-Verlag 2017

Richard David Precht: Von der Pflicht, Goldmann-Verlag 2021

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