„Lassen wir unser Herz ganz weit werden, damit wir wahrnehmen können, dass die Bedingungen für unser Glücklichsein schon da sein.“
(Thich Nhat Hanh)

Wenn ich erst ‚richtig‘ bin, werde ich glücklich sein. Ich werde ausreichend oder sogar mehr Geld haben. Ich werde in einer Partnerschaft leben und kann einfach alles tun, was ich will. Wenn ich erst ‚richtig‘ bin, wird mir die Welt offenstehen. Die Dinge werden sich fügen, alles wird sich zum höchsten Wohl arrangieren.

Wer kennt sie nicht, solche Gedanken, die sich nahezu endlos ausweiten lassen. Denen nur ein einziger Glaubenssatz, ein treues Denkkonstrukt zugrunde liegt: „Ich bin nicht ‚richtig‘.“ Ich beispielsweise sollte weiblicher sein und schöner. Ich sollte mich in dieser Welt mehr zeigen, um erfolgreicher zu sein. Ich sollte geselliger sein, weniger still und verschlossen. Überhaupt sollte ich nicht so empfindlich sein. Und vor allem: Ich sollte Formen annehmen, die mir nicht entsprechen, um von anderen gesehen zu werden.
Und als ob dies, für sich genommen, nicht ausreichen würde. Denn allein dieses Glaubenskonstrukt führte dazu, dass ich allzuoft auf unsicheren Beinen durch mein Leben stolperte. Meine Strategien, mit diesem Glauben umzugehen, taten ihr weiteres. Ich beobachtete andere Menschen und Verhaltensweisen, probierte Dinge aus, entdeckte neue, scheinbar passendere Strategien und verwarf meine alten Ideen. Dies trieb ich bis zur Perfektion. Immer mit dem Ziel, nun endlich ‚richtig‘ zu werden. Mein Leben verfolgte diesen einen Sinn. Den Sinn von ‚richtig‘ und ‚falsch‘. ‚Richtig‘ war, was meiner Idee davon entsprach, wie ich sein sollte. ‚Falsch‘ war alles andere.
Es war und ist dies die Wurzel von Unruhe, Unfrieden, ja sogar Krieg, die ich damit immer wieder in mir selbst sähe und nähre. Die ihren Ursprung in einem Alter hat, an das ich noch nicht einmal eine bewusste Erinnerung habe.

Vom Mantel zur Haut

Bei aller Kostümierung habe ich eines vergessen: Wer bin ich ohne den Mantel, den ich mir anziehe, um ‚richtig‘ zu sein? Wer bin ich, wenn ich diesen langen, schützenden Mantel ablege? Meinen Mantel, der durchaus schön ist und der mir äußerlich passt. Designerware. Der mir einen Namen gibt. Meinen Mantel, der mich anwidert, weil dieser Name nicht mein Name ist und weil ich mit ihm meine schöne Haut verstecke.
„Nackt musst Du sein“, sagte vor kurzem ein lieber Freund von mir. „Nackt müssen wir alle sein, wenn wir uns begegnen. Alle müssen nackt sein. So, wie sie geschaffen wurden – ohne die verkrusteten Narben, ohne teure Mode oder Schmuck, ohne den Ölschmutz der Industrieproduktion, ohne den Spei anderer Menschen. Nackt und sauber von einem reinigenden Regen.“
Tatsächlich, ohne meinen Mantel bin ich nackt. Ich bin berührbar, lasse mich in der Tiefe berühren, werde ganz Berührung. Ich bin weich und zart, mit meinem Herzen verbunden und verbinde mich mit anderen über mein Herz. Ich verbinde mich in einer Tiefe und Intensität, die manchen Menschen Angst macht. Sie fühlen sich bedroht, wittern Ansprüche, befürchten mein Festhalten. Dabei öffne ich nur mein Herz und lasse fließen, was da fließen will. Fließe hin zu meinem Gegenüber, zu Bäumen, zum Wasser, verbinde mich mit der Erde. Ohne meinen Mantel bin ich das Fließen und bin das Feuer. Ich bin schwer zu greifen – und bin doch da, innig verbunden und vollkommen treu.
Und ja, ich kann diese Menschen verstehen. Auch mir selbst macht diese Herzensverbindung oft Angst. Es scheint viel sicherer, sie zu verstecken. Ich verstecke sie in Bauch- und Schulterschmerzen, in Ungeduld und schlechter Laune, in Angst und Stress. Inzwischen kenne ich mich gut und kann schon die ersten Anzeichen deuten: Wieder einmal verstecke ich meine Kraft, meine Weichheit, meine Schönheit und meine Lebensfreude. Ich verstecke mich selbst, weil ich glaube, funktionieren und einem Bild entsprechen zu müssen.

Bedingungslastige Liebe

Die Verbindung mit meinem Herzen macht mir Angst, weil ich als Kind eines gelernt habe: Ich liebe Dich, mein Kind, wenn Du für mich, deine Mutter, und für mich, deinen Vater, da bist. Ich brauche Dich, mein Kind. Du sollst mir Nähe geben und Zuwendung, Du sollst mich bestätigen und meinem Leben einen Sinn verschaffen. Dafür gebe ich Dir die Nähe, die Du Dir wünschst. Eine Hand wäscht die andere. So bekam ich durchaus Nähe, doch irgendetwas blieb leer in mir. Irgendetwas verhungerte, wurde nicht genährt. Später drehte ich den Spieß um: Ich nährte mich selbst nicht mehr, verweigerte Essen und Schlaf, um die Leere in mir nicht mehr spüren zu müssen.
Ich lernte schon als kleines Kind, dass ich etwas geben muss, um Nähe zu bekommen und geliebt zu werden. Ich lernte meinen Gegenüber als ein bedürftiges Wesen kennen, das mich aufsaugt und seine Bedürftigkeit mit mir stillt. Ein weiteres Glaubensmuster entstand: „Mich der Liebe, der Nähe und der Geborgenheit hinzugeben, bedeutet den sicheren Tod.“
Dieses Bild nahm ich mit in mein Leben. Ich machte es mir zum Vorbild dafür, wie Beziehungen funktionieren. Seitdem schwankte ich hin und her zwischen der tiefen Sehnsucht nach Nähe sowie danach, geliebt und endlich als ich selbst gesehen zu werden. Und der Abwehr von Liebe, Nähe und Geborgenheit, waren diese doch mit dem Gefühl verbunden, inhaliert zu werden und im anderen vollkommen zu verschwinden.
Und während ich mich verschlossen und weggedreht habe und mein Leben in Alleinsein und Unabhängigkeit ausrichtete, verwechseln andere Menschen ihre Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit mit Liebe. Sie glauben, jeden zu lieben, der ihnen Nähe schenkt, der sie bestätigt, der ihnen Wärme und Geborgenheit entgegenbringt. Hört der nährende Fluss auf, endet auch ihre Liebe. Denn diese ist eben an Bedingungen gekoppelt.

Konzepte der Liebe

Unser Bemühen danach, all unsere Lebensstrategien in ‚richtig‘ und ‚falsch‘ einzuordnen, schließt auch die Liebe nicht aus. Wir erschaffen Konzepte, in die wir die Liebe einpferchen wollen. Partnerschaft ist das vielleicht gängigste dieser Konzepte. Besteht zwischen dem Menschen, den wir lieben, und uns keine Partnerschaft, lassen wir die Liebe nicht fließen und suchen weiter. Wir verschließen unsere Herzen und lassen die Liebe weder hinein noch hinaus. Zugleich leiden wir darunter. Wir fühlen uns nicht geliebt und wir spüren, dass wir selbst nicht wahrhaft lieben. Auch haben wir keinen Blick für die vielen Momente, in denen uns das Leben mit Liebe verwöhnt. Mit einer Liebe, die sich allen Konzepten entzieht. Wie soll sie auch? Liebe will fließen, will brennen und lodern. Sie lässt sich nicht festhalten oder in eine Form pressen. Und doch ist sie da. Ist einfach immer da.

Es braucht einen Abschied…

… einen Abschied vom alten Glauben, nicht ‚richtig‘ zu sein. Und obgleich mir der Duft der Freiheit verführerisch um die Nase weht, tut mir dieser Abschied auch weh. Es ist ein Abschied von etwas Altem und Gewohntem, das mir sehr ans Herz gewachsen ist. Viele Jahre hat mich dieser Glaube begleitet. Ich habe mein Leben nach ihm ausgerichtet, habe mit ihm gelacht und über ihn geweint.
Ja, es ist nun dran, diesen Glauben loszulassen, und damit einen Teil meines Lebens. Ich verabschiede mich von der Kontrolle, von meinen engen Grenzen, von der Vorhersehbarkeit. Von tradierten Konzepten und dem Gefühl, von anderen abhängig zu sein. Auch löse ich mich von Freunden, die sich von meiner Lebendigkeit nicht berühren lassen wollen. Vielleicht weil sie spüren, dass ich damit auch an ihrer Fassade und an ihren Glaubensmustern kratze. Ich lasse los und öffne mich für Neues, für den einzelnen Moment, für die Lebendigkeit und die Liebe in mir.

Liebe und Frieden: Weil ich richtig bin

Liebe ist die einfachste und unmittelbarste Form des Friedens. Frieden in der Welt entsteht durch die Liebe der Menschen untereinander. Liebe ist eine Haltung zum Leben. Liebe ist der Boden unter meinen Füßen. Liebe ist auch ein Gefühl. Manchmal hat sie einen Gegenüber, manchmal nicht. Manchmal zeige ich mich mit ihr, immer mit Herzklopfen. Und immer ist sie ein Türöffner. Ein Moment, in dem ich meinen Mantel öffne oder sogar wage, ihn ganz auszuziehen.

Wenn ich es wage, mir meine Liebe einzugestehen, sie zu zeigen und mein Leben nach ihr auszurichten, entsteht Frieden. Doch diesen Weg kann ich nur gehen, wenn ich in Frieden mit mir selbst bist. Wenn ich weiß, „dass ich immer und bei jeder Gelegenheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin und dass alles, was geschieht, richtig ist“, um es mit Charly Chaplin zu sagen. Dann muss ich nicht mehr kämpfen und kann beginnen, mein Leben selbst zu gestalten. Dies aber geht nur in einer Welt, die weder gegen mich, noch gegen andere oder sogar gegen sich selbst kämpft.
Ich weiß, wie kostbar Frieden ist. Denn ich habe erlebt, wie es ist zu kämpfen, zu kämpfen gegen mich selbst. Und ich weiß, was es heißt zu leiden. Zu leiden an diesem aussichtslosen Kampf gegen mich selbst.

Und so verpflichte ich mich dazu, meinem Wesen und meiner Nacktheit entsprechend, der Liebe und dem Frieden in mir selbst und auf der Erde zu dienen.