Wo die Feile Gottes immer tiefer ansetzt – Die horizontale und vertikale Dynamik der Aufmerksamkeitsschulung in der Tradition des Herzensgebetes

Aufmerksamkeit

ist das unablässige Schweigen

des Herzens, das frei ist

in allen Gedanken.

(Hesychios von Jerusalem)

 

Der Mensch mag verwundet oder schon im Heilungsprozess sein, das Leben liebend oder am Leben leidend. Stets beschreitet er den Weg seines Werdens und Seins und es heißt in der Tradition des Herzensgebetes, dass die „Feile Gottes“ immer tiefer ansetzt, um uns als Ebenbild der Schönheit herauszuformen. Menschen, die sich auf spirituelle Wegerfahrungen einlassen, werden diese Spannungsbögen der scheinbaren Gegensätze, die wir in uns erleben, vertraut vorkommen. Zugleich kann sich im Bewusstsein immer schöner und leuchtender eine leise Ahnung um das Wissen der Verbundenheit allen Seins abbilden, die in Gestalt von innerer und äußerer Schönheit und Harmonie herausgeformt werden möchte. Auf diesem „Werdeweg“ des Lebens kann unser einzigartiges Sein in seiner ganzen Fülle und gottesebenbildlichen Kostbarkeit immer sichtbarer werden. Diese Entfaltung der Aufmerksamkeit kann im Alltag einen lebensnahen Übungsraum finden.

Nachfolgender Beitrag skizziert die Grundmerkmale der Aufmerksamkeitsschulung als einen zentralen Übungsaspekt in der Tradition des Herzensgebetes. Die unterschiedlichen Wirkkräfte und Stufen der Aufmerksamkeit wurden seit den ersten Jahrhunderten des Christentums von den sogenannten Abbas und Ammas, den erfahrenen Vätern und Müttern dieses spirituellen Weges über Jahrhunderte genauestens studiert und in unterschiedlicher Gestalt systematisiert und überliefert. Die hier vorgestellten Aspekte geben einen winzigen Einblick in die verschiedenen Zugänge und Perspektiven der Aufmerksamkeitsschulung und betrachten deren heilsame und transformative Entwicklungs-potenziale. Die überlieferten Erfahrungen können für den Praktizierenden zu einer Quelle zeitloser Weisheit werden und den persönlichen Schulungsweg bereichern. Doch zunächst eine hinführende Kurzdarstellung des Herzensgebetes, um das Nachfolgende entsprechend einordnen zu können.

Der Weg des Herzens

Viele Menschen, die sich auf die Suche nach bewährten Wegen in der eigenen christlichen Tradition begeben, finden im Herzensgebet die Grundlage einer spirituellen Lebensgestaltung, die bewährtes Erfahrungswissen mit zeitgemäßer Spiritualität kombiniert. Mit dem Herzensgebet existiert ein gereifter transformativer Weisheitsweg, welcher der spirituellen Sehnsucht heutiger Menschen einen geeigneten Entfaltungsraum geben kann. Das mystische Gebet des Herzens beginnt seinen Weg nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen des Christentums. Die spirituelle Praxis im Herzensgebet geschieht einzig und allein mit einem kurzen Satz oder Wort (Mantra), das – an den Atem gebunden – die Wahrnehmung für das Dasein in der Gegenwart Gottes öffnet. Im treuen Vollzug der mantrischen Gebetspraxis können sinnstiftende und heilsame Einsichten wachsen und transformative Klärungs- und Wandlungsprozesse angeregt werden. In dieser Ausprägung ist das Herzensgebet mit der Tradition anderer mantrischer Weisheitswege verbunden.

Die horizontale und vertikale Dimensionen der Aufmerksamkeitsschulung

Ähnlich wie in der integralen Theorie lassen sich in der Schulung der Aufmerksamkeit eine horizontale Erfahrungsebene und eine vertikal sich entfaltende Stufendynamik betrachten und aufzeigen. Die horizontale Erfahrung öffnet das Bewusstsein für einen Lernraum, der sich auf eine gegenwärtig manifestierende Wahrnehmung eines Gedankens und deren Umgangsweise im Jetzt bezieht. Die vertikale Darstellung beschreibt einen stufenförmigen Entwicklungsweg, der sich über das ganze Leben erstreckt und permanent zugängliche Bewusstseinsmöglichkeiten initiieren kann. Auch in der mantrischen Praxis mit dem Herzensgebet erlebt die oder der Praktizierende Entwicklungsfortschritte, die sich in einzelnen Zuständen und vorübergehenden Qualitäten des Bewusstseins sichtbar machen oder es vollziehen sich Fortschritte, die in nachhaltig wirkenden Veränderungen sichtbar werden. Der Stufenfortschritt prägt häufig die gesamte Lebensgestaltung und kann als Kennzeichen einer fortgeschrittenen Bewusstseinsreife oder –stufe interpretiert werden. Nachfolgend beschreibe ich zunächst anhand der Weisungen eines Weisheitslehrers der Wüstenvätertradition, Hesychios (vermutlich um 450 n.Chr.), die horizontale Dynamik der Aufmerksamkeitsschulung. Anschließend stelle ich in einer kurzen Übersicht die vertikalen Aspekte einer stufenweisen Entwicklungsspirale der Aufmerksamkeit vor. Auch wenn es so erscheint, als ob sich die Dynamik der Aufmerksamkeits-schulung linear, aufeinander aufbauend und im Nacheinander vollzieht, gilt bei aller gewünschten und für das Lernen hilfreich formulierten Systematik zu beachten, dass sich Bewusstseinstransformation und –schulung viel eher zirkulär, unberechen-bar, sprunghaft und oftmals scheinbar unlogisch vollzieht und als gnadenhaftes Geschehen, dem Bewusstsein ganz eigene Wege, Tempi und Lernerfahrungen anbietet. Diese Haltung der „Nichtmachbarkeit“ bildet die Grundlage dieser Ausführungen zur horizontalen und vertikalen Dynamik der Aufmerksamkeitsschulung.

Die Stationen des Erkennens

Eine hilfreiche Anweisung des Hesychios, zum Umgang mit den Gedanken auf einer horizontalen Ebene, finden wir in der Philokalie, einer umfangreichen Schriftensammlung verschiedener Weisheitslehrer zu dieser Tradition und dort in der „Abhandlung über die Nüchternheit und die Tugend“ im 46. Satz:

Stephan Hachtmann Stationen-des-Erkennens-Aufmerksamkeit-für-SEIN„Das erste ist die Einflüsterung, dann kommt die Verbindung, d.h. unsere Gedanken und jene der bösen Dämonen vermengen sich; als drittes folgt die Zustimmung – wie es zwischen den beiderseitigen Gedanken, welche auf Böses sinnen, auch geschehen muss -; und das vierte ist die Tat, d.h. die Sünde. Wenn also der Geist aufmerksam und nüchtern ist und durch Widerspruch und Anrufung des Herrn Jesus die Einflüsterung verjagt, sobald sei eingegeben wird, bleiben die Folgen aus. Da nämlich der Böse unkörperlicher Geist ist, kann er die Seelen nicht anders verführen als durch Vorstellungen und Gedanken. Über die Einflüsterung sagt David: ‚Des Morgens habe ich sie getötet‘ usw.; und der große Moses über die Zustimmung: ‘Stimme ihnen nicht zu.‘“

In dieser kurzen und sprachlich vielleicht etwas unzeitgemäßen Ausdrucksweise, finden wir eine systematische Wegweisung zum aufmerk-samen und bewussten Umgang mit den Gedanken. Wir alle kennen es, dass Gedanken uns in die Vergangenheit oder Zukunft ziehen und sehr machtvollen Einfluss auf unser Leben haben können. Die Einsichten des Hesychios können eine wunderbare Schablone sein, um die Entwicklungsdynamik und die typischen Wesensmerkmale der Auswirkung eines Gedankens bewusst zu machen, um bewusst den Umgang mit den Gedanken steuern zu können. Mit dem Wort Gedanken umschreibt die Überlieferung das ganze Spektrum aller Bewusstseinsmanifestationen. Die Gedanken in dieser Perspektive umfassen alle körperlichen Aspekte und Empfindungen, alle emotionalen und gefühlsmäßigen Regungen und alle mentalen Verstandesregungen des Bewusstseins. Wenn in diesem Text von Gedanken gesprochen wird, meint es dieses ganze Spektrum aller Bewusstseinsmanifestationen.

1. Die Einflüsterung
Zunächst erscheint ein Gedanke. Das kann irgendein Ereignis, eine Begegnung mit jemandem, eine Berührung, ein Bild, ein Traum, ein Schmerz, eine Lust … irgendetwas sein, das die Bühne meines Bewusstseins betritt. Zum Beispiel könnte ich mir vorgenommen haben, in einer Fastenzeit auf Schokolade zu verzichten. Nun erscheint in meinem Bewusstsein der Gedanke an Schokolade. Scheinbar aus dem Nichts kommend lenkt dieser Gedanke nun meine Aufmerksamkeit auf sich. Woher kommt er? Warum ist er da? Ist es ein guter Gedanke oder ein eher destruktiver? usw. Ich nehme den Gedanken und auftauchende Fragen einfach nur wahr und registriere die entstehende Resonanz in mir. „Da ist ein Gedanke. So ist es.“ Diese gedankliche Anregung kann von außen oder innen kommen. Sie kann aus dem Reich der körperlichen Empfindungen kommen, eine Gefühlsregung sein oder ein wie auch immer geartetes Gedankenspiel. Mein aufmerksames Beobachten gleicht dabei einem Spiegel. Es ist ein reines Wahrnehmen. Ohne Gefühlsregung – ohne Kommentar. Eher kühl fokussierend und betrachtend. Dabei versuche ich, der Erscheinung, gleich welcher Kraft, Art oder Gestalt sie ist, möglichst wert- und urteilsfrei zu begegnen. Ich „betrete diese Bühne“ einfach nicht! Wie mit einem Fernglas, nehme ich jede Bewusstseinsmanifestation klar und un-getrübt in den reinen und unverstellten Blick. Die Geduld und das treue „am-Ball-bleiben“ sind hilfreiche Fähigkeiten meines Bewusstseins, die dieses Beobachten ermöglicht. Ein Ausstieg und eine Unterbrechung oder ein Loslassen des Gedankens wären noch relativ einfach.

2. Das Interesse am Gedanken
Mit einem offenen Herzen begegne ich dem Gedanken und das Bewusstsein willigt in eine Verbindung mit diesem Gedanken ein. Um beim Beispiel mit der Schokolade zu bleiben, entsteht nun im Bewusstsein eine lustvolle Vorstellung von dem Verkosten eines Schokoriegels. Ich wende mich diesem kulinarischen Gedanken bewusst und willentlich zu und sage Ja zu ihm. Damit ist ein wärmendes Feuer des Interesses geweckt und der Gedanke gewinnt an Präsenz und Macht. Vielleicht bin ich fasziniert oder angewidert. Vielleicht löst der Gedanke in mir Freude oder Ärger aus. Vielleicht verlockt er mich in seiner Unklarheit oder mit seinem Glanz. In diesem zweiten Aspekt gehe ich bereits einen Schritt weiter. Nachdem ich die Manifestation meines Bewusstseins rein und wertfrei in den Focus genommen habe, verbünde ich mich in diesem Schritt – bewusst oder unbewusst – mit dem Gedanken und reichere damit meine urteilsfreie Wahrnehmung mit meinem Interesse und einer Bejahung an. Wenn ich es wollte, wäre es vermutlich immer noch recht einfach und folgenlos, die fortschreitende Dynamik dieses Gedankens zu unter-brechen.

3. Die Prüfung
In diesem Schritt unterziehe ich den Gedanken einer aufrichtigen Prüfung und befrage ihn. „Prüfet alles, das Gute aber behaltet.“ (Thessalonicher 5,21) Wer bist du? Wo kommst du her? Was ist deine Absicht? Kann ich dir vertrauen? Meinst du es gut oder schlecht mit mir? Mit welchen anderen nun entstehenden Gedanken verbündet er sich? Die Prüfung ist nicht so ganz einfach, da sich die Gedanken meistens sehr geschickt und raffiniert verbergen und sich in helle oder auch in dunkle Gewänder kleiden können. Oftmals erkenne ich auch die positive Absicht nicht und unterbreche vielleicht an dieser Stelle den weiteren Kontakt oder ich verharmlose, bagatellisiere und harmonisiere vorschnell einen Gedanken, da er mir unverständlich erscheint und folge ihm nicht weiter. Das Feld für Irrtum und Verblendung ist an diesem Punktgroß! Am Beispiel des Schokoladengedankens entsteht nun vielleicht eine geschickte Rechtfertigung und ich erinnere einen Zeitschriftenartikel, in dem von der positiven Auswirkung von Schokolade auf den Kreislauf gesprochen wurde. An dieser Wegmarke geschehen häufig Fehlentscheidungen. Die Kraft des Gedanken hat nährende Aufmerksamkeit bekommen und Fahrt aufgenommen und ist nicht mehr ganz so einfach zu bremsen.

4. Die Zustimmung
Aufgrund meiner vorgenommenen Einschätzung kann in meinem Bewusstsein nun die Zustimmung zu diesem Gedanken wachsen. Ich entscheide mich dafür, dass ein Schokoladenriegel meine Fastenverabredung ja gar nicht grundsätzlich in Frage stellt und außerdem ist Schokolade gesund! Die Überprüfung scheint abgeschlossen zu sein. Die Dinge nehmen ihren heilvollen oder unheilvollen Verlauf. Mit meiner inneren Zustimmung werden auf den unterschiedlichsten Ebenen meines Daseins oftmals auch im Verborgenen und Unbewussten folgenschwere Weichen gestellt. Verschiedenste Gefühlsregungen und Empfindungen gesellen sich dazu und andere Gedankenketten unterstützen und verstärken das einmal Bejahte. Blitzschnell und unwillkürlich geschehen körperliche und emotionale Prozesse auch in Gestalt biochemischer Veränderungen, die diesen Gedanken mit Kraft anreichern und ihn machtvoll im Bewusstsein des ganzen Leibes manifestieren und verankern. Ein Ausstieg wird nicht mehr ganz so einfach möglich sein und erfordert einiges an Wille, Bewusstsein und Kraftanstrengung.

5. Das Interesse an der Tat
Was sich bisher noch ganz im Innersten, Geistigen und Unkonkreten (obwohl im Körper spürbar) vollzog, möchte nun in der Welt Wirklichkeit werden. Der Gedanke drängt zur Tat. Die Dominanz und Kraft und die Gestaltungsenergie des Gedanken ist inzwischen derartig angewachsen, dass eine Realisation unmittelbar bevorsteht. Im Bewusstsein entstehen schillernde Phantasien und konkrete Bilder oder Handlungsabläufe, wie sich das Vorgestellte erfüllt. Ich stelle mir jetzt die Verpackung des Schokoriegels vor. Ich höre schon das genussvolle und etwas ungeduldige Aufreißen der knisternden Verpackung. Der Geruch steigt mir schon förmlich in die Nase. Wir werden diesen entscheidenden Wendepunkt aus unserem Verhalten bei kleinen oder größeren Anhaftungsmustern, Süchten und Begierden kennen. Die Eskalationsspirale hat ihren Höhepunkt erreicht und eine Umkehr wird alle unsere Geisteskräfte erfordern.

6. Die Tat
In dem Vollzug der Tat verwirklicht sich der Gedanke und manifestiert sich entsprechend. Dem gereiften Gedanken an den Schokoriegel folgt nun tatsächlich der Griff in die Schublade und das vielleicht etwas zu hastige Verspeisen der Köstlichkeit. Die ausgeübte Handlung verwirklicht alle vorangegangenen Stationen und ist deren scheinbar unausweichliche Folge. Positiv wie negativ. Die Leidenschaft oder die Tugend erhält einen entscheidenden und wichtigen Impuls, um sich permanent im Verhalten als Muster oder Gewohnheit zu etablieren.

7. Die Gewohnheit
Die häufige Wiederholung eines Gedankens mit der daran anschließenden beschriebenen Spirale verstärkt die Erfahrungen eines einmaligen Verhaltens und kann sich über Jahre und Jahrzehnte zu handfesten Verhaltensweisen, die entweder sehr zerstörerisch oder im positiven Sinne sehr heilvoll wirken, entwickeln. In diesem Aspekt wird die horizontale Ebene verlassen und das Verhalten kann sich zu einem permanent sich ausdrückenden Verhaltensmuster formen, die einer vertikalen Stufenentwicklung entspricht. Aus einem einmaligen vorübergehenden Ereignis hat sich eine fest etablierte Stufe als Sucht/Leidenschaft/Begierde oder als Tugend/Ethik/Weisheit/Potential/Kunst herausgebildet. Diese stetig sich entfaltende fortschreitende Entwicklung wirkt sich auf alle Ebenen meines Daseins aus und beeinflusst und prägt mein ganzes inneres und äußeres Leben und Verhalten. Im Falle einer zerstörerischen Entwicklung erfolgt die heilsame Veränderung und Umkehr oftmals ebenso langwierig und komplex in ihren Genesungsschritten, wie ihre Entstehungsgeschichte sich manifestiert hat. Im Beispiel des Schokoladeessens könnte sich aus dem seltenen Genuss vielleicht eine manifeste Essstörung entwickeln. Um dieses zerstörerische Verhalten zu ändern, braucht es dann möglicherweise eine längere therapeutisch begleitete Ursachenforschung und Einübung in ein neues Verhalten.

Die Aufmerksamkeit in ihrer vertikalen Stufenentfaltung

Die nachfolgende vertikale Stufen-beschreibung folgt den griechischen Begriffen und den damit verbunden Erfahrungen, die sich im Herzensgebet in einer langen Entwicklungsgeschichte bewährt haben und in verschiedenen Schulungszusammenhängen heutzutage weiterhin Verwendung finden. Als Grundvoraussetzung aller Entwicklung wird dem Praktizierenden empfohlen, während aller Phasen und Zustände seines Lebens, seinem mantrischen Herzensgebet treu zu bleiben. Wir könnten auch sagen, dass der gottsuchende Mensch sich in jedem von ihm gesprochenen Mantra auf eine bestimmte Klangatmosphäre ausrichtet, in der sich sein / ihr Bewusstsein der Gegenwart des Heiligen anvertraut und diese für wahr hält. In dieser Haltung und lang erprobten Praxis kann alle Erfahrung der Entwicklung heilsam geborgen sein und maßvoll geschützt werden. Es ist eine Geisteshaltung, die um ein Größeres weiß und sich diesem freiwillig und dienend anvertraut.

1. Die reine Beobachtung – nepsis
Am Beginn des spirituellen Weges steht die beschriebene Hinwendung zur Einübung der reinen Aufmerksamkeit. Der oder die Praktizierende übt sich treu und in kleinen Schritten in die Fähigkeit zur reinen Wahrnehmung. Diese Fähigkeit beobachtet und bezeugt das, was ist und das, was erscheint. Urteilsfrei. Ohne Warum. Wie ein Spiegel. (vgl. auch die Beschreibungen im vorangegangen Abschnitt unter dem Punkt „Einflüsterung“)

2. Die Gabe der Unterscheidung – diakrisis
Der sich dem Weg treu anvertrauende Praktizierende erfährt nach Jahren kontemplativer Praxis mit dem Herzensgebet und des fortgeschrittenen Umgangs mit den Gedanken, die immer feinere und differenzierte Gabe, alle Manifestationen des Bewusstseins in ihrem Charakter und in ihrer Wirkungsweise präzise zu unterscheiden. In geduldiger und jahrlanger Übung hat er die dynamischen Feinheiten und die komplexe „Mechanik“ des Bewusstseins genauestens studiert und erforscht. Die sogenannte „Gabe der Unterscheidung“ kennzeichnet den Erfahrenden des Weges, der die fest verankerte Fähigkeit besitzt, auf der Ebene des Körpers, der Gefühle/Emotionen, der Gedanken – Innen und Außen, sich selbst, das Du/die Welt zu erkennen und das Göttliche zu erahnen. Auch die Wahrnehmung und Unterscheidung spiritueller oder mystischer Erfahrungszustände oder spiritueller Krisen bezieht diese Fähigkeit mit ein. (Bibelstellen zur Gabe der Unterscheidung: 1. Johannes 4,1; 1. Korinther 12,10; 1. Thessalonicher 5,21)

3. Die Erkenntnis des Herzens – cardiognosis
Aus der Gabe der Unterscheidung kann die Erkenntnis des Herzens erwachsen, dass die Liebe, die alles umfassende und alles durchdringende Kraft ist, die das Leben heilsam in allen ihren Geschöpfen durchströmt. Aus diesem liebevollen Erkennen des Herzens heraus, ist der Mensch bereit und gewillt, sich dem Nächsten und allen Erscheinungen liebevoll und mit Respekt und Wertschätzung zuzuwenden. Mit der tief gegründeten Erkenntnis, dass diese göttliche Liebe, im eigenen Herzen anwesend ist und unendlich darüber hinausweist, geschieht eine neue umarmende Bewusstseinsperspektive auf das Du, auf die ganze Schöpfung, auf den Nächsten, auf Gott. Da alles Fremde und jedes Du als zugehörig und eingewoben in diese Liebe neu wahrgenommen werden kann, geschieht eine natürliche und freiwillige Hinwendung zu diesem Du in der Haltung der Herzensliebe.

4. Die Ruhe des Herzens – hesychia
Das Herz im Zustand der Herzensruhe (hesychia) wird als das erhabene, geklärte, in Gott und sich selbst gegründete, nüchterne Bewusstseins-Herz beschrie-ben. Es ist das „polierte“ Herz, in dem sich das Ebenbild der Schönheit und Liebe widerspiegelt. Es ist das unruhige Herz, das nun beruhigt in der Gedankenstille und Gedankenfreiheit der gött-lichen Stephan Hachtmann Wandlungsstufen-AufmerksamkeitGegenwart ruht. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott“ (Augustin) Der Zustand der Herzensruhe wird als Gnadenstufe des Weges beschrieben und markiert eine Bewusstseinsreife, die den Fortgeschrittenen auszeich-net. Eine Ahnung um die Qualität dieser Stufe bekommt der oder die Praktizierende, wenn sie oder er in kurzen und vorübergehenden Zuständen eine tiefe innere Ruhe und einen alles durchströmenden Frieden erfährt. Diese Erfahrungen können das Herz erwärmen und ermutigen zur hingebungsvollen Weiterreise auf dem Weg des Herzens.

5. Die Kontemplation und Schau Gottes – theoria
Das Herzensgebet als kontemplative Wegtradition beschreibt in dem Wort Kontemplation einen Zustand, in dem sich das menschliche Bewusstsein in einem Raum (con= Eins, templum= heiliger Raum) mit dem Göttlichen erlebt. Kontemplative Praxis beschreibt in dieser Weise ein erwachendes Werden zu dem Hin, was ich in meinem tiefsten Wesensgrund bereits bin. Kontemplatives Werden fördert ein schauendes und erkennendes Erwachen in das Bewusstsein der Einheit allen Seins. Auf dieser Erfahrungs- und Erkenntnisstufe kann das Bewusstsein heilige Gewissheit über das Wesen des Einen erlangen, das in Allem gegenwärtig ist und von dem nichts getrennt sein kann. Diese mystische Stufe schenkt die lichtvolle Schau (theoria) des Göttlichen, von dem die Mystikerinnen und Mystiker aller Zeiten, als dem „Licht vom unerschaffenen Licht“ berichtet haben. Es ist das Bewusstseins eines neuen Seins, wie es Paulus beschrieben hat: „Nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Galater 2, 19), eines neuen Himmels („Ich sah einen neuen Himmel und einen neue Erde“ Offenbarung 21,1) und eines neuen Herzens („Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ Hesekiel 36, 26).

6. Die Einung der Seele mit Gott – theosis
Der Begriff der Theosis bezieht sich auf die Vergöttlichung des Menschen und bezeichnet die Erfahrung der untrennbaren und sich gegenseitig durchdringenden Einheit des menschlichen Seins mit dem göttlichen Seins. Einheit von Himmel und Erde. Mensch und Gott. Das WORT wurde „Fleisch“. Oder wie es das Christusbewusstsein ausdrückt: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes10,30). In dieser Teilhabe des menschlichen Herzen am göttlichen Herzen wird mit dem Begriff der theosis eine Erfahrung beschrieben, die sich der verstandesmäßigen Beschreibung entzieht und zugleich prägend für die Beschreibung der spirituellen Entwicklung auf dem Weg des Herzens ist. Den Begriff der theosis finden wir im Zentrum der orthodoxen Spiritualität, worin das Herzensgebet historisch und geistlich gründet und mit der es eng verbunden ist. Die Vergöttlichung der menschlichen Seele beginnt mit den Anstrengungen dieses Lebens, wächst durch die Erfahrungen des Gottsuchenden und kann seine Erfüllung in dem erwachten Bewusstsein des Menschen finden. Dieser Mensch bewegt sich auf einer Stufe, auf der die Kraft der Gedanken überwunden wurde und ihre Macht über ihn für immer verloren hat. Wie eingangs erwähnt, ist dieser Erfahrungsweg bis hin zur theosis Gnadengeschehen, wir können den Raum durch unsere Übung dafür bereiten, aber ob wir etwas davon erleben, bleibt unverfügbares Geheimnis und Geschenk.

Ein Schlussgedanke

In den ausgeführten Darstellungen zur Aufmerksamkeitsschulung werden vielleicht einige Spuren und Schritte sichtbar, die einer spirituellen Entwicklung dienlich sein können. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass eine über Jahrhunderte gewachsene Weisheitstradition dem Suchenden ein gutes Fundament anbieten kann. Als hilfreich hat sich die Übungspraxis in einer Gruppe und die spirituelle Begleitung durch eine/n Wegerfahrene/n erwiesen. Ansonsten und zu 99 % geschieht alles Reifen und Werden im Vertrauen und mit Hingabe an eine Kraftquelle, die segnend und liebend unseren Verstand überschreitet, in uns verwandelnd wirkt und durch uns in der Welt heilsam sichtbar werden möchte.

 

von Stephan Hachtmann, © 2016
Veröffentlicht in „Integrale Perspektiven“, Ausgabe 34, Juni 2016, (ungekürzte Fassung)

 

Seminar: Sonntag, 19. Februar 2017, 10 – 17 Uhr in Potsdam: HIER

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