von Barbara Stützel

Gesellschaftlich ist eine Polarisierung wahrnehmbar, die auch vor uns Gemeinschaften nicht Halt gemacht hat. Angesichts der sich verstärkenden Krisen wird die Frage dringlicher, welche Antwort unser Lebensstil geben kann (und soll). Sind wir denn noch auf dem richtigen Weg, um eine Antwort zu sein? Die Diskussionen der letzten beiden Jahre haben gezeigt, dass wir in unserer Gemeinschaft ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, gegründet 1991) zu der Frage unterschiedliche Antworten haben. Und dies beeinflusst erheblich die Frage, wie wir weitergehen wollen. Braucht es eine „radikale Umkehr“, ein „Weiter so“ oder ein „Weiter so mit Korrekturen“? Um festzustellen, ob wir noch auf dem Weg sind, ist es wichtig zu fragen, wo wir herkommen und wo wir hin wollen…

Wofür sind wir angetreten? 

Das Ziel, wofür ich 2001 an diesen Platz gekommen bin:  eine Gemeinschaft aufzubauen, die in dieser Welt einen Unterschied macht. In der wir uns nicht nur Liebe wünschen, sondern miteinander erforschen, wie wir sie wirklich leben können, wie wir einen Alltag erschaffen können, der unseren Werten entspricht. Konkret geht es darum gemeinsam zu reflektieren, was genau zwischen uns geschieht, warum in Interaktionen welche Gefühle entstehen, wie wir daraus handeln und uns dabei unterstützen können, liebevoller zu werden und verantwortlicher zu handeln –  mit uns selbst, in unseren Beziehungen, der Gemeinschaft, mit der Natur und der Welt. 

Wo stehen wir? 

Aus meiner Sicht sind wir darin seit 2001 ein ganzes Stück weitergekommen. Was sichtbar ist – und auch von niemandem bestritten wird: wir haben es in dieser Zeit geschafft, uns finanziell und ökologisch nachhaltiger aufzustellen. Wir haben für viele Menschen sichere Lebensbedingungen geschaffen, haben eine fast vollständig klimaneutrale Energie- und Stromversorgung, haben einen eigenen Wasserkreislauf mit Brunnen und Pflanzenkläranlage, wir verbessern den Boden mit Düngung, Laubkompost und Terra Preta, haben einen wunderbaren Garten, der einen Großteil unseres Gemüses anbaut. 

Zudem schaffen wir mit der immer tieferen Implementierung von Soziokratie ein Instrument, das die kollektive Intelligenz sinnvoller nutzt als alle Organisationsformen vorher und auch unbewussten Machtstrukturen entgegenwirkt. Denn es gibt in der soziokratischen Organisationsform immer auch Raum zu sprechen für Menschen, die sonst nicht zuerst reden. In verschiedenen Runden werden Lösungen sukzessive generiert und anfängliche Ideen verbessert. Soziokratische Wahlen haben schon viele Gemeinschaftsmitglieder in ihre Kraft gebracht. Und: kontinuierliche Auswertungs- und Feedbackprozesse machen uns zu einer lernenden Organisation. 

Und die Gemeinschaft? 

Manche bemängeln, dass in den letzten Jahren neben dem blühenden Betrieb das gemeinschaftliche Miteinander zu kurz gekommen sei. Wie ist das zu bewerten, dass z.B. nicht mehr alle zu Gemeinschaftstreffen kommen oder wie früher ins Forum gehen? 

Das Forum als gemeinschaftsbildendes Element fand tatsächlich in den letzten Jahren seltener im Großen statt. Im Moment erlebt es wieder ein Revival: in der aktuellen Intensivzeit gab es täglich Forum für die Gemeinschaft. Auch unabhängig von seiner Häufigkeit ist Forum seit 30 Jahren ein verbindendes Element für alle Gemeinschaftsmitglieder. Denn der Kern des Forums ist ja nicht die Form der Treffen, sondern das zugrundeliegende Menschenbild, welches uns im ZEGG in der Tiefe verbindet. Wir sind alle in dieser Gemeinschaft gelandet, weil wir die Welt nachhaltiger, gerechter und liebevoller gestalten wollen. Und wir wissen, dass wir Menschen in unserer Kultur eine innere Veränderung brauchen, um im Außen den notwendigen Wandel zu bewirken.

Diesen inneren Weg (auch „Innenarbeit“ genannt) könnte ich wie folgt beschreiben: Wir versuchen, bewusster zu werden über das, was in einer Situation jeweils wirkt, um dann als Menschen verantwortlicher handeln zu können – in dem, was wir tun und dem, was wir damit auslösen. Und wir üben, eine tiefere Verankerung in uns selbst zu finden. Diese beinhaltet die Fähigkeit, Komplexität (inklusive der eigenen Traumata) in sich zu beinhalten genauso wie den Respekt vor Andersartigkeit. 

Natürlich können wir das noch nicht in allen Situationen. Dafür sind wir gemeinsam auf diesem Weg, wir geben uns gegenseitig Feedback und unterstützen uns da, wo wir eben noch nicht selbstverantwortlich handeln (können). Aus dieser gemeinsamen Forschung erwachsen ein Vertrauensfeld und unser Handeln in der Welt. So handeln wir gemeinschaftlich auf zwei Ebenen: wir entwickeln unser Lebens-und Arbeitsmodell (Gemeinschaft, Soziokratie) und geben unser Wissen weiter (Seminare und Festivals). 

Das Forum ist ein Werkzeug, welches wir im ZEGG dazu entwickelt haben. Und es gibt viele andere Werkzeuge. Im ZEGG haben sich inzwischen vielfältige Formen und Wege gebildet und verfeinert. Ich sehe in der Gemeinschaft lebendig wachsende und sich stetig verändernde Gruppen, Angebote, Untergruppen, Treffen, gegenseitige Unterstützung, Gespräche. Und dies selbstverantwortlicher und häufiger als früher. Damals gab es noch eine zentralere Steuerung, z.B. wurde jeden September eine soziale Struktur für die Gemeinschaft entworfen und Gruppen organisiert. Dass dies jährlich neu geschah, zeigt, dass diese Strukturen selten stabil waren.

Heute ziehen sich Menschen zeitweise aus den Gruppenprozessen heraus, weil sie andere Prioritäten haben (für Kinder da sein, Projekte ins Leben rufen etc.). Hier ist die Bewertung sehr unterschiedlich: Manche erleben dies als lebendigen und gleichwertigen Teil der Gemeinschaft – ihre Bitte an die Unzufriedenen ist, dies stärker wertzuschätzen und Andersartigkeit zu integrieren. Andere bemängeln, dass die Priorität dann zu wenig auf der Gemeinschaft liegt. Hier wird der Ruf laut, mehr Zeit in kollektiven Prozessen zu verbringen. Da sich gemeinschaftliche und individuelle Prozesse gegenseitig bedingen, glaube ich, dass wir definitiv beides brauchen!

Ein lebendiger Weg 

Für mich entspricht das, was ich im ZEGG erlebe, dem, weswegen ich vor fast 22 Jahren in diese Gemeinschaft gekommen bin. Formen verändern sich. Immer wieder gibt es Entwicklungen, die ein Nachsteuern erfordern. Und wir steuern nach. Gerade ist z.B. das große Thema der Generationswechsel. Neue Menschen bringen neue Inspirationen. Und wir werden bewusster darüber, wo wir Veränderung manchmal verhindern, weil wir an liebgewordenem Alten festhalten wollen. Jetzt suchen wir einen Weg, der sowohl das Errungene wertschätzt als auch das Neue willkommen heißt.

Mit all diesen Bewegungen sehe ich uns immer noch und immer wieder neu auf dem Weg. 

Über den Autor

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Mehr Infos

Dipl. Psych. und Psychologische Psychotherapeutin, Yoga-Lehrerin, Sängerin und Gemeinschaftscoach, geb. 1966 in Saarbrücken

1997 führte sie die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten, nachhaltigen und intimen Miteinander ins ZEGG. Seit 2001 lebt sie in der Gemeinschaft und leitete dort viele Jahre Festivals, Seminare und die Öffentlichkeitsarbeit. Das Wirken von Barbara Stützel liegt an der Schnittstelle von Gemeinschaft, Kreativität und Heilung – dort, wo Menschen zusammen kommen, um ihr Potenzial zu erweitern und ein Leben in größerer Verbundenheit zu leben.

Heute begleitet sie vorrangig Gruppen zu der Frage, wie aus vielen Ichs ein bewusstes und heilendes Wir entsteht. Dazu gehören Forumsworkshops und Forumsleitungsausbildungen (in Frankreich, Brasilien und Spanien sowie Transfor(u)m in Deutschland), Gesangsworkshops, Gemeinschaftsberatungen und jährliche Tantra Yoga Lehrer Ausbildungen (Durgas Tiger School). Hier fließen ihre Erfahrungen aus der Arbeit als Dipl. Psychologin und Künstlerin genauso ein wie über 20 Jahre Gemeinschaftserfahrung. Ihre Arbeit ermöglicht einen Raum von Präsenz und Kontakt, in dem hindernde Strukturen wahrgenommen werden und neue innere Bewegungen entstehen. Die Integration von Geist, Körper, Gefühlen, Kreativität ermöglichen einen ganzheitlichen Zugang zum Menschsein und eine Öffnung für die Möglichkeiten der Zukunft.

www.zegg.de 
www.durgas-tiger-school.com



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