Von Dorothée Jansen

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“. Diese erste Zeile des Gedichts „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht, das er in den 30er- Jahren des letzten Jahrhunderts verfasste, mag so manchem auch heute passend erscheinen, der sich einer anhaltenden Corona- Epidemie, einem russisch-ukrainischen Krieg, Inflation, Energieknappheit, Klimakatastrophen und Bildungsnotstand gegenübersieht. Die Felder, die einer Neuerung bedürfen, sind zahllos. Wo beginnen? Wie beginnen? Woher die Kraft nehmen? Wie nicht verzweifeln? Resilienz, also psychische Widerstandskraft, ist das Stichwort der Stunde. Es braucht stabile Wurzeln, um nicht im Trubel der Ereignisse unterzugehen. Gleichzeitig braucht es weite Flügel, um sich überhaupt noch vorstellen zu können, dass all dies nicht in einer Katastrophe endet und eine Schreckensvision Wirklichkeit wird. Eine Flut an Netflixserien erzählt von einem solch finsteren Morgen und malt es in aller Ausführlichkeit aus. Wollen wir das? Willst du das? Was brauchst du, um an ein sinnstiftendes Morgen glauben und es gestalten zu können?

Lebst du dein Heute in voller Präsenz? Oder lässt du lediglich deinen Körper alle Arbeit tun und funktionierst? Um ganz anwesend im Jetzt zu sein, braucht es Verbindungen zu deiner Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft. Wir können als Menschen nicht umhin, alle Zeiten in uns zu verbinden, um erfüllt und sinnvoll zu leben. Es braucht Gezeitenkundige, die in der Lage sind, aus den Fäden der Gezeiten einen neuen Teppich, eine neue Geschichte zu formen. Wo kommst du her? Was hat dich zu dem Menschen werden lassen, der du heute bist? Wie sind die Fäden zu den Ahnen? Und die in ein Morgen? Wo willst du hin? Anders als zu früheren Zeiten wird das Lebens-Narrativ heutzutage nicht nur einmal in der Jugend gefunden, um dann gelebt zu werden. Wir sind als Menschen des 21. Jahrhunderts aufgefordert, ein Leben lang unsere Geschichte neu zu schreiben. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat dies das Ende der großen Erzählung genannt.

Meine Vergangenheit erspüren – eine neue Ausrichtung finden

Meine Eltern sind beide im 2. Weltkrieg groß geworden. Sie mussten ihre Heimat verlassen, mussten flüchten. Vater und Mutter waren Heimatlose und sind es zeitlebens geblieben. Beide haben sie als Sonderpädagogen ihr Tun anderen Flüchtlingen und Ausgegrenzten gewidmet. Ich habe sehr gelitten unter meinem gewalttätigen Vater. Die Corona-Zeit hat mir Offenbarungen über seinen Vater beschert. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Vernichtung und Verfolgung von Juden und Andersdenkenden in Bendzin, nahe bei Auschwitz. Mein Vater musste vielen Ermordungen beiwohnen. Seitdem bin ich innerlich friedlicher mit den Gewaltausbrüchen meines Vaters geworden. Ich kann sie in einer Kette von Gezeiten besser einordnen und ihm verzeihen. Was mich selber freundlicher sein lässt. Das Feld des Großvaters war das Feld der Politik: Mitarbeiter im Innenministerium, Freund Adenauers, Bonner Klüngel. Ich habe Politik zeitlebens gemieden. Matriarchale Theologie war mein Feld. In Frauengruppen ließen wir alte Hexenrituale wieder aufleben, tanzten ums Feuer, feierten unseren Körper und die Natur. Corona, aber auch die Entdeckungen über meinen Großvater haben mir nun gezeigt: Ich werde gebraucht auf dem politischen Feld. Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann und will die Politik nicht länger meiden. Sie wird sonst zu meinem Schatten. Der Blick in die Familiengeschichte hat mir geholfen, eine neue Ausrichtung im Jetzt zu finden als Gezeitenkundige.

Vom inneren Krieg zum Frieden

Inneren Frieden zu finden und somit in der Lage zu sein, diese Welt zu einem friedlicheren Ort werden zu lassen, setzt meiner Ansicht nach voraus, dass man sich erst einmal selbst erlaubt, die inneren Kriege wahrzunehmen, den Schmerz, der mit ihnen einhergeht, um dann Frieden in allen Körperschichten finden zu können. Das Erbe der Ahnen sitzt in unseren Zellen. Dass ich auf Grund der Taten meines Großvaters immer angespannt war, weil ich nämlich seine Angst übernommen hatte, erkannte ich im Zuge der Vergangenheitsaufarbeitung. Da war auch Schmerz darüber, dass eines meiner Familienmitglieder solche Gräuel begangen hatte. Doch es geht nicht darum, etwas damit zu machen, sondern einfach diesen Schmerz zu fühlen und ihm nicht auszuweichen. Wer lebt in deinen Zellen? Welche Botschaften sind dort noch gespeichert? Welche Kriege toben in dir, welcher Schmerz?

Wir leben in Zeiten, in denen das Wissen um transgenerationale Traumata und Glaubenssätze kein Geheimnis mehr ist. In denen es eine Fülle an Techniken und Verfahren gibt, sich dem Körper und seinen gespeicherten Botschaften zuzuwenden: Hypnose, Somatic Experience, schamanische und Seelenreisen, kreativtherapeutische Verfahren wie die Tanz-, Musik- und Kunsttherapie können alte Gezeitenschichten ans Tageslicht befördern. Meinen Eltern und Großeltern waren solche Verfahren wie Gezeitenkundige sowie ein solches Wissen nicht zugänglich.

Zukunft erschaffen

„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind…“, setzt Brecht seine Zeilen an die Nachgeborenen fort. An die also, die nach ihm kommen. Werden sie es besser, schlechter, ganz anders machen? Der nachfolgenden Generation die Verantwortung zu übergeben für die kommende Welt ist gerade gang und gäbe im politischen öffentlichen Diskurs. Nicht nur, dass sie es sind, die besonders unter den Corona-Maßnahmen zu leiden hatten, jetzt soll ihnen noch ein soziales Jahr aufgebrummt werden. Dabei sind sie in unserer überalterten Gesellschaft eine Minderheit – zahlenmäßig als auch vom gesellschaftlichen Gewicht. Minderheitenschutzprogramme wären hier schon lange fällig. Sind es also nicht vielmehr wir alle gemeinsam, die wir mutig auftauchen müssen aus der Flutwelle, die über uns zusammenzubrechen droht? Tief eintauchen in die eigene Geschichte, um neu auftauchen und mitwirken zu können? Wo ist dein Einsatz gefragt? Wo setzt du dich ein? In der alten Maya-Kultur gab es sogenannte Chilam Balams, Menschen, die einige Tage in Zurückgezogenheit lebten, um bei einem rituellen Fest in Trance die Zukunft für ihr Volk zu tanzen. Gerade drehende Bewegungen sind es, die ins Reich der Träume, der Imagination führen. Wann hast du zuletzt deine Zukunft ertanzt – für dich oder für diesen Erdball? Wir erschaffen minütlich Zukunft und hinterlassen Vergangenheit. Was für ein Vorfahre möchtest du gewesen sein für deine Nachkommen? Was möchtest du hinterlassen? Wie soll das Morgen aussehen, das du heute kreierst? Wir Menschen gehören zu den Lebewesen, die in der Lage sind, ihre Vergangenheit zu reflektieren und sich in ein Morgen hineinzudenken. Wir sind in der Lage, uns selbst mit Abstand zu betrachten und somit in einem Kontinuum der Gezeiten. Unsere Vorfahren haben es seit der Moderne versäumt, sich Fragen über ihre eigene Existenz hinaus zu stellen, und uns somit eine desaströse Welt hinterlassen.

Zum Autor der eigenen Geschichte werden

In der mexikanischen Mythologie gibt es eine weibliche Gottheit, die Ixchel genannt wird. Wie alle Mondgottheiten hat sie viele Gesichter. Sie ist Göttin der Fruchtbarkeit sowie Göttin des Todes, steht somit für den Anfang und für das Ende menschlichen Lebens. Oft wird sie dargestellt mit einem großen Webstuhl. Sie lässt die Zeiten zusammenfließen, formt aus ihnen eine Geschichte. Das Geschichtenerzählen ist in unserer aktuellen Kultur außer Mode geraten. Vielleicht werden Geschichten noch kleinen Kindern erzählt. In der Schulzeit werden wir im Deutschunterricht dazu verdammt, uns mit Geschichten der Klassiker zu beschäftigen. Das Fach Geschichte wartet mit Faktenwissen auf und hat mit lebendigen, berührenden Geschichten meist gar nichts zu tun. Sind wir dann erwachsen, lassen wir uns vielleicht noch von Netflix & Co berieseln – Geschichten von anderen also, die mit unserem täglichen Leben wenig zu tun haben.

Wer liest noch ein zeitgenössisches Buch oder trifft sich mit Freunden zum Erzählen? Wie würde deine jetzige Geschichte lauten, würdest du sie erzählen oder zu einem Roman verarbeiten? Wo setzt du den Anfang? Wo das Ende? Kennst du den Roman deines derzeitigen Lebens? Ja, es erfordert Mut, einen solchen Beginn zu setzen und damit zum Autor der eigenen Geschichte zu werden. Du kannst nicht alle Geschichten der Menschheit kennen, musst es auch nicht. Auch die Welt als Ganzes wirst du nicht zu retten vermögen. Wie aber könnte dein individueller, ganz eigener Beitrag aussehen, bei dem du dein Gewordensein, deine erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse mit einfließen lässt? Wie lautet deine aktuelle Geschichte? Wo siehst du die großen Themen deines momentanen Lebens? Wo sind deine Ziele? Gegen wen hast du zu kämpfen? Wer unterstützt dich? Das Narrativ unseres Lebens will von uns erzählt, immer wieder neu gefunden und erschaffen werden. Tatsächlich reicht es nicht, einmal die Geschichte deiner Existenz gefunden zu haben. Du wirst und darfst sie immer wieder neu erfinden. „Walking forever“, bezeichnet Thomas Hübl diese Aufgabe. Ich habe diesen Sommer meinen 9. Roman veröffentlicht, in dem ich die Geschichte meines Großvaters verarbeitet und mir eine neue Geschichte erschrieben habe: Die Angstschluckerin (KDP, als Dorothée Brüne).

Gezeitenkundige – Teil des Menschheitsnetzes

Joseph Campbell war es, der sich in seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ mit den Mythen der Menschheitsgeschichte beschäftigt hat. Die sogenannte Heldenreise wurde – da archetypisch, also in jedem von uns angelegt – von Christopher Vogler erfolgreich für das Schreiben von Hollywood-Blockbustern nutzbar gemacht. Heutzutage wird dieses mythologische Geschichtenkonzept von Coaches und Therapeuten herangezogen, um die eigene Geschichte zu verstehen und erzählbar zu machen. Doch manche Geschichten sind nicht immer so kohärent und klar vermittelbar wie in diesem Rahmen vorgegeben, sondern eher ein Patchwork-Teppich. Aber auch sie wollen geschrieben werden. Und die meisten haben ihre Wurzel in verdrängtem Leid. Wie drückt sich dein Leiden aus, dessen Erinnerung du aus deinem Leben verbannt hast? Welche Sprache hat dein Schmerz? Ich nenne Menschen, die um die Zusammenhänge des eigenen Gestern, Heute und Morgen wissen, Gezeitenkundige. Es sind diejenigen, die um die Verflechtungen der eigenen Geschichte mit den Geschichten ihres näheren als auch des globalen Feldes wissen, die sich als Teil eines großen Menschheitsnetzes begreifen. Die für sich und ihre Geschichte die Verantwortung übernehmen. Es sind diejenigen, die den Mut haben, ihr Leben als Geschichte zu erzählen. Es wird Zeit, dass es mehr Gezeitenkundige gibt.

 

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