Wenn wir auf die Welt der Religionen blicken, können wir fasziniert werden – durch den Gesang, den Tanz und die Gewänder. Das macht auch ihre äußere Wirkung aus. Wenn wir in ihre Welt hinein blicken, können wir einen Halt finden, in der Community, in ihrer Zeremonie und im Gebet. Das ist die dem Wesen der Religion eigene innere Wirkung. Und wenn es in unseren Tagen Gläubige gibt, die empfindlich auf polemische Kritik an ihrem Glauben reagieren, dann ist es oft so, dass es gerade dieser Halt im Glauben ist, der den Anhängern des jeweiligen religiösen Weges als etwas Heiliges gilt, das sie von Außenstehenden beschmutzt sehen. Wenn wir aber diese beiden Stufen spiritueller Erkenntnis gegangen sind und konfessionelle Formen durchdrungen haben, kommen wir auf ein geistiges Fundament, das allen Religionen gemein ist. Es liegt unter den Religionen, und verweist auf ihre elementare Wirkung. Im Hinduismus und Buddhismus wird es die Lehre vom Karma genannt. Der Mensch, der sie beherzigt, kann nie unglücklich sein, weil er sich über das Geschehen in seinem Leben nicht nur nicht beklagen kann, sondern auch weiß, was er zu tun hat.

Deshalb haben meine Schüler sich mit einem buddhistischen Märchen befasst, das immer wieder einmal von Wahrheitssuchern neu entdeckt wird. Und es ist im wahrsten Sinne des Wortes erhellend und kann Erleuchtung bringen! Ich möchte an dieser Stelle meine Fassung vorstellen:

Ein buddhistisches Märchen

Ein reicher Juwelier ist mit seinem Sklaven und seinem Gold unterwegs nach Benares, um dort Geschäfte zu machen. Als er einen Mönch überholt, der in dieselbe Richtung wandert, denkt er sich – denn er selbst stammt aus der Kaste der Brahmanen – dass der Umgang mit heiligen Leuten Glück bringt und lädt den frommen Pilger ein auf seinen Wagen zu steigen.

An einer Wegenge steht ihm ein armer Bauer mit seinem Gespann im Wege, der auch nach Benares unterwegs ist um Reis zu verkaufen. Der Sklave des Reichen, ein Hüne von Gestalt, der gern mit seinen Kräften protzt, erhält den Befehl den Wagen des Bauern aus dem Wege zu räumen wobei er diesen umkippt. Daraufhin verabschiedet sich der Mönch vom Juwelier und hilft dem Bauern den verschütteten Reis wieder aufzuladen. Danach setzen auch sie gemeinsam ihren Weg in dieselbe Richtung fort. Da scheut plötzlich das Zugtier des Bauern, weil mitten auf dem Weg ein glänzendes Hindernis liegt. Es handelt sich um einen Goldbeutel, den der reiche Juwelier verloren haben musste. Der Mönch sagt dem armen Bauern, dass er ihn aufheben solle, um ihn nach Ankunft in der Stadt dem  Juwelier zurückzubringen.

Der Juwelier ist inzwischen in der Stadt eingetroffen, hat in einer vornehmen Herberge Quartier genommen und ist gerade dabei seinen Schmuck und das Gold zu sichern, wobei er das Fehlen seines großen Goldbeutels feststellen muss. Er verdächtigt den Sklaven, der ihn ja als einziger die ganze Zeit begleitet hatte, des Diebstahles, lässt ihn auspeitschen und wirft ihn anschließend in die Gosse. Kurz darauf meldet sich der arme Bauer in der Herberge, um den Beutel mit dem Gold zurückzugeben. Der Juwelier aus der Kaste der Brahmanen ist sprachlos und zutiefst beschämt über sein Verhalten, bittet nicht nur um Entschuldigung, sondern gibt dem armen Landsmann einen beachtlichen Finderlohn. Der Bauer aber hat es eilig, weil er sehr spät in der Stadt angekommen war, um seinen Reis auf dem Markt zu verkaufen. Er begegnet einem Händler, der auch auf den Markt will, um Reis zu kaufen, sich aber ebenfalls verspätet hat. Und in seiner Freude über die unverhoffte Begegnung mit dem Bauern, der eine große Ladung Reis mit sich führt, kauft er dem armen Bauern seinen Reis für den dreifachen Preis ab.

Der reiche Juwelier begegnet nach einer durch das merkwürdige Geschehen verursachten schlaflosen Nacht am nächsten Morgen dem Mönch. Dem stellt er die Frage nach der Bedeutung des Geschehenen. Der Mönch öffnet ihm die Augen für das Gesetz, das jenen Vorgängen zu Grunde liegt. Auf diese Weise erkennt der Juwelier, dass der Mensch das wird, was er tut. Er ändert sein Leben und stiftet ein Kloster, in dem vielen Menschen Gutes getan wird und manch ein Ratsuchender Erleuchtung für seinen Lebensweg findet.

Der Schleier der Maja 

Der Sklave aber bildet eine Räuberbande, die davon lebt Karawanen zu überfallen und auszurauben. Als diese Bande nun ihren größten Raubzug begangen hat – sie hat das kostbarste Schmuckstück erbeutet, das der Juwelier je geschaffen hat und das für den König eines fremden Landes bestimmt ist – erschlagen die Räuber ihren Anführer. Und als sie denken, dass er tot sei, lassen sie ihn am Wegesrand liegen. Da kommt ein Mönch des Weges und nimmt sich des Sterbenden an. Der beichtet ihm, wo der Schatz vergraben ist und fragt, wie er denn hätte leben sollen, um solch einem Schicksal zu entgehen. Der Mönch antwortet: Sucht die Ursache allen Übels bei euch selbst. Das Heilmittel gegen allen Misserfolg liegt ebenfalls in euch selbst. Möge der geistige Blick niemals vom Schleier der Maja verdunkelt werden.

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*