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Das explodierte Ich

Das explodierte Ich

Titel: Das explodierte Ich

Author: Jana Simon

Verlag: Ch. Links Verlag, 2014

Preis: 16,90

ISBN: 978-3861537939

Link: Bestellen bei Lehmanns Fachbuchhandlung

Das explodierte Ich – Menschen zwischen Abgrund und Aufbruch

Menschenbilder

Jana Simon, mehrfach ausgezeichnete Journalistin, Lebensgeschichtenerzählerin, beobachtet, erkundet und forscht in den Tiefen fremder Lebensentwürfe. Sie stöbert Fragmente auf, einzelne Stücke und setzt mit ihren Worten ein facettenreiches Mosaik der gerade im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stehenden Persönlichkeit zusammen. Jedes kleine Wort in jeder beschriebenen Szene scheint sorgfältigst ausgewählt und zurechtpoliert, damit es eine angemessene Bühne bereiten kann.

16 Personen – die unterschiedlicher nicht sein könnten – werden hier portraitiert und entscheidende Phasen in ihren Leben skizziert. Den meisten porträtierten Personen im Buch gemein ist ein Wendepunkt – der eine Moment im Leben, der Umbruch, der alles ändert und sie dazu bringt, einen anderen Weg einzuschlagen.
Jana Simon selbst untertitelt ihr Werk mit „Menschen zwischen Abgrund und Aufbruch“. Das Ich geht nicht immer unbeschadet aus diesen Dreh- und Angelpunkten des Seins hervor. Erfolg, suchendes Herumirren, Zersplitterung, mühsames Wieder-Zusammensetzen, Neu-Werdung, ewiges Bedauern, Nachhängen, Verdrängung, Verharren in Erinnerung – eine große Palette der Reaktionen der menschlichen Psyche finden sich hier.

So treffen Lesende zum Beispiel auf den Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck (der heute Edward Snowden vertritt), der wegen der – gegen die Genfer Konventionen verstoßenden – furchtbaren Misshandlungen, Folter und menschenunwürdigen Behandlungen der Häftlinge in den Gefängnissen Abu Ghreib und Guantánamo Anklage gegen den US-amerikanischen Politiker Donald Rumsfeld und andere hochrangige Personen erhob. Oder auf die Polizisten, die 1998 beinahe die NSU verhaftet hätten. Auch die Geschichte von dem jüdischen Jungen erzählt sie, der in Laucha in Sachsen-Anhalt von einem Nazi verprügelt wurde und dessen Heimatstadt sich danach auf die rechte Seite stellte.

Oder die von Mandy, die als Jugendliche in Leipzig zur Prostitution gezwungen wurde und noch heute gegen ihre damaligen Freier und Diffamierungen kämpft. Jana Simon versucht auch das widersprüchlich erscheinende Wesen von Waris Dirie zu erfassen – das Model, das durch ihre unter dem Titel „Wüstenblume“ veröffentlichte Lebensgeschichte inzwischen weltbekannt ist und gegen Genitalverstümmelung kämpft.
Fazit: Wer es faszinierend findet, in die Psyche anderer Menschen hinabzusteigen und versucht herauszufinden, was diese antreibt und wie sie ticken, der findet hier eine gut geschriebene und oftmals auch beklemmende und erschreckende Lektüre. Sehr spannend auch einleitend zu lesen, wie Jana Simon arbeitet, welchen Arbeitsanspruch sie dabei hat („Für ein Porträt treffe ich nicht nur mehrmals meine Protagonisten, […] sondern spreche im Schnitt mit zehn bis zwanzig Menschen aus ihrem Umfeld. Das gebietet der Respekt. Manche begleite ich auch länger als ein Jahr […].“) und wie im klassischen printjournalistischen Umfeld die Rezeption von Reportagen und Portraits ist (oftmals belächelt).

Mit ihren Reportagen liefert Jana Simon auch eine Art Portrait über sich selbst. Sie scheint beseelt von diesem Wunsch, dieser analysierenden Neugier, zu erfahren und zu verstehen, wie Menschen auf neue, lebensverändernde Situationen reagieren und wie sie daraus hervorgehen. Und das alles trotz der von ihr oft als unangenehm geschilderten Situationen, in denen sie sich selbst als Verräterin und unwillkommenen Eindringling in fremde Leben empfindet.

(256 Seiten)

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