Rowan Coleman: Wolken wegschieben

Titel: Wolken wegschieben

Author: Rowan Coleman

Verlag: Piper, 2016

Preis: 448 Seiten, 9,99 Euro

ISBN: 978-3492307963

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Heilwerdung

Mit 38 merkt Willow Briar, dass sie so eigentlich nicht weiterleben und etwas ändern will. Die Türen der Vergangenheit klappern in ihrem Kopf, aber es fehlt der Mut, sie zu öffnen, und so drückt sie sie mit aller Gewalt immer wieder zu.

Eine richtige Ausbildung hat sie nie gemacht, hat hier und dort gearbeitet und ließ sich treiben, jetzt arbeitet sie seit fünf Jahren erfolgreich als Assistentin in einer Agentur zur Betreuung exzentrischer Künstler für eine noch exzentrischere und geldhungrige Chefin. Der Einstieg in den Roman ist leicht und amüsant, kann man doch gut verstehen, warum Willow den ultimativen Drang verspürt, ihre nervtötend-hohle Kollegin direkt an den Schreibtisch zu tackern. Man folgt Willow weiter durch ihren Tag, Seiten, auf denen man zunächst ihren seltsam losgelösten Selbsthass auf ihren dicken Körper verfolgt und die durchaus zunächst eher den Unwillen zum Weiterlesen fördern. Doch langsam schält sich die eigentliche Geschichte heraus. Schicht um Schicht trägt Rowan Coleman ganz behutsam ab und entblättert so den eigentlichen Kern, warum Willow so ist, wie sie ist. Warum sie so viel mit sich herumschleppt, diese Taubheit verspürt, sich selbst für zu kaputt für Beziehungen hält. Ihren Körper verachtet, ihn inhaltsleer verschenkt, sich nicht für wert hält, geliebt zu werden, ihre Wohnung unwohnlich lässt, weil sie sich selbst ein Heim nicht vergönnt.

Ein Mensch, der überzeugt ist, dass er andere nur unglücklich machen kann, und sich deswegen von anderen fern hält. Scham, Schuld, Angst treffen hier aufeinander. Sie weiß ja, dass sie anders sein könnte – schließlich gibt es da Holly, ihre genetisch identische Zwillingsschwester. Ihr geliebtes Spiegelbild, allerdings in schlank, schön, beziehungsfähig und mit eigener Familie. Also was macht sie so anders? Seit wann kann sie eigentlich nicht mehr lauthals lachen? Wo war der Scheidepunkt, der ihr Leben in eine so gänzlich andere Richtung wandern ließ? Willow weiß es, als Leser/in ahnt man es, sie traut sich aber gedanklich kaum daran zu rühren. Die mit Mann und fünf Kindern – darunter auch ein munteres Zwillingspärchen – in Hertfordshire in Großbritannien lebende Autorin Rowan Coleman lässt die Story Fahrt aufnehmen, als Willow in einem verschrobenen Second-Hand-Shop im „Bleeding Heart Court“ (Der Hof des blutenden Herzens) über drei – für sie magisch erscheinende – Gegenstände stolpert, die ihr Rüstzeug werden und sie stärken. Der große Katalysator ist aber das plötzliche Auftauchen ihrer hochschwangeren 15jährigen Ex-Stieftochter. Die mühsam aufrechterhaltene Fassade beginnt zu wanken, Mechanismen, festbetonierte Beziehungsstrukturen, Zurückweisungen, Selbsthass und Verleugnung fangen an zu bröckeln und Raum für Neues zu schaffen. Natürlich steckt auch hier eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen in den Seiten. Aber die eigentliche Liebesgeschichte ist die von Willow, die lernt sich selbst zu lieben. Es ist eine Geschichte davon, ein kindliches, lebenszerstörendes Trauma zu überwinden und eine Heilwerdung anzustoßen.

Fazit: Wer hier nur ein schlichtes und oberflächliches Feel-good-Büchlein und gerne als seicht belächelte „Frauenliteratur“ erwartet, wird angenehm überrascht und mit einem erstaunlich vielschichtigen Roman (und einer klitzekleinen Prise Magie) belohnt werden, der so berührend ist, dass man ihn am liebsten direkt in einem Rutsch weglesen würde.