Ruth Melcer, Ellen Presser: Ruths Kochbuch

Titel: Ruths Kochbuch

Author: Ruth Melcer, Ellen Presser

Verlag: Gerstenberg, 2015

Preis: 160 Seiten, 19,95 Euro

ISBN: 978-3836920957

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Erinnerungen & Rezepte

Ruths Kochbuch lädt nicht nur dazu ein, neugierig die Nase in die Welt der aschkenasischen (osteuropäisch-jüdischen) Küche zu stecken und traditionelle Rezepte zu erforschen – es ist so viel mehr: Nicht nur ein simples Kochbuch, sondern ein Erinnerungsbuch. Ruth schrieb dieses Buch zusammen mit Ellen Presser eigentlich als Familiengeschenk zur Bar Mitzwah ihrer Enkel, um etwas Greifbares zu schaffen, denn zeitgleich mit dem Gedenken an ihre Familie ist es ein Buch, das den Leser/innen viel über die jüdische Kultur und deren (Essens-)Bräuche beibringt. Damals und auch noch heute aktuell.

Ruth – die selbst als berufstätige junge Mutter im München der 1960er zunächst eigentlich wenig Begeisterung zum Kochen aufbrachte – beginnt ihre Erzählung mit ihren kochverliebten polnischen Ahninnen und mit ihrer eigenen Geburt. Das erste, heißgeliebte Enkelkind, das von Eltern, Tanten und Großeltern in einer gutsituierten jüdischen Familie verwöhnt wird und später in der harten Realität des Konzentrationslagers Auschwitz/Birkenau landet – und überlebt. Wie durch ein Wunder finden die traumatisierten Überlebenden der Familie nach dem Krieg zunächst im polnischen Dorf wieder zueinander, wandern nach einem Pogrom 1946 aber nach Deutschland aus.

Die Familiengeschichten und Berichte sind mit den wenigen, sehr persönlichen noch erhaltenen Fotografien der Familie illustriert – beispielsweise mit dem etwas verschwommenen Foto mit dem blondlockigen, lachenden Kindergesicht, Ruths kleinem Bruder Mirek, der mit sechs Jahren im Konzentrationslager der Mutter entrissen und zusammen mit anderen Kindern ermordet wurde. Authentische Schwarzweißfotografien ergänzen die Zeitberichte. Optisch ist das Kochbuch schön aufgemacht, der Stil des Covers setzt sich konsequent im Innern fort, ist allerdings fast etwas überladen. Schade ist, dass den Fotografien der Gerichte kaum Raum geschenkt wird. Oft sind die Speisen nur relativ klein oder stark optisch verfremdet abgebildet.

Nicht alle Rezepte und Zutaten sagen einem vielleicht auch zu… aber Ruth hat auch nicht den Anspruch ein universelles jüdisches Kochbuch zu schreiben, es ist ihr persönliches Familienkochbuch. Ein Sud aus Überlieferungen, Erfahrungen und persönlichen Vorlieben, gewürzt mit ihren Gedanken und Geschichten.

Serviert wird eine bodenständige und nicht zu verzierte polnische Küche mit vielen Fleisch- und Krautgerichten, ein Kapitel widmet sich mit seinen Rezepten auch ausschließlich dem Pessachfest. Kasche (Buchweizengrütze), Latkes (Kartoffelpuffer), Blini (Eierkuchen), Sauerkraut, Borschtsch, Gefilte Fisch, Krupnik (Graupensuppe), Kreplach (Teigtaschen für die Suppe), Matzeknödel, Tscholent (Eintopfgericht), Charosset (süßes Fruchtmus), Challah (Hefebrot), Hamantaschen (süßes Gebäck) und viele schöne Kuchen – ideen sind nur einige der reichhaltigen Rezepte, die einem hier neben den Geschichten und Anekdoten begegnen.

Fazit: Nur ein steinernes Herz bleibt wohl von Ruths Familiengeschichte während und nach der Nazizeit gänzlich unberührt. Es ist mehr als eine bloße Rezeptsammlung, es ist ein Erinnerungsbuch. Und im Angesicht von ungezählten Kindern, die heutzutage wieder sterben, Menschen in Sammellagern, Bomben, verhungernden Menschen, brennenden Flüchtlingsheimen und Zäunen, die geplant werden, um „uns“ von „denen“ zu unterscheiden, macht dieses Buch auch nochmal bewusst, wie gefährlich und beängstigend der Weg ist, auf den sich unser Land zum Teil wieder begeben hat. Ein bittersüßes Buch. Zum Weinen, zum Freuen, zum Genießen, vor allem aber: zum Leben.