Alternativen und Ergänzungen zur monogamen Liebesform

In den letzten Jahrzehnten hat sich parallel zur immer noch herrschenden monogamen Einehe eine Vielzahl von Lebens- und Liebesformen etabliert, so dass wir uns heute in einer komplexen Liebenslandschaft wiederfinden.

 

Viele Menschen ziehen es vor, als Single zu leben, in Großstädten sind es mittlerweile fast 40 Prozent. Für etwa die Hälfte davon ist das ein freiwillig gewählter Lifestyle, weil er viele Freiheiten und Ungebundenheiten verspricht. Für andere gilt, was in der Literatur inzwischen als „serielle Polygamie“ beschrieben wird: man hat einen „Lebensabschnittspartner“ für eine bestimmte Zeit, mit dem man dann monogam zusammen ist, aber ohne den Anspruch, einen Bund fürs Leben einzugehen. Wenn es keine Freude mehr verspricht, wechselt man zum nächsten Partner. Und die vielleicht statistisch häufigste Form: man lebt in einer monogamen, langfristig angelegten Zweierbeziehung oder Ehe und betrügt den Partner immer mal wieder heimlich, ohne dass er es merkt.

Es gibt auf jeden Fall berechtigen Anlass zu Zweifeln, ob der Mensch wirklich für die lebenslange Monogamie geschaffen ist. Und ob das für den modernen Menschen von heute mit seiner hohen örtlichen und sozialen Mobilität nicht noch viel mehr in Frage steht. Die Zahl der Ehescheidungen beträgt in Deutschland ca. 50 Prozent und lebenslange komplette eheliche Treue hat Seltenheitswert, obwohl sie sich fast jeder von seinem Partner wünscht und beansprucht. In einem großen Report des Stern kam heraus, dass die meisten Paare nach etwa fünf bis zehn Jahren Ehe mit Kindern nur noch ein äußerst eingeschränktes Sexualleben haben.

Namhafte Paartherapeuten wie etwa Jürg Willi oder Hans Jellouschek scheinen zu erkennen, dass der Wunsch nach anderen Sexual- und Liebespartnern für die meisten Menschen irgendwann ein Thema ist. Sie empfehlen in diesem Fall eher den diskreten Seitensprung, um den Partner eben nicht so zu verletzen. Denn andererseits reagieren ganz viele Menschen auf diese Art von „Verletzung“ intensiv mit Eifersucht und Verlustangst, die von Depression, Sucht und Aggression bis zum Mord oder Selbstmord führen kann.

Ist die Liebe also ein Fass ohne Boden, eine Quelle des Frustes, ein Ort der Ernüchterung?

Neue Wege der Liebe

Tatsächlich gibt es auch noch andere, freiere Arten der Lebensgestaltung, die mittlerweile immer mehr im Kommen sind, obwohl man selten etwas darüber hört oder liest. Einzelne Paare oder Gruppen von Menschen versuchen das zu leben, was vielleicht in wenigen Jahrzehnten schon Normalität sein kann. Als Tantralehrer und Gemeinschaftsbewohner habe ich Zugang zu vielen Gruppen oder Szenen, in denen neue Wege in puncto Liebe gegangen werden. Viele Menschen versuchen z.B. eine offene Zweierbeziehung zu leben. Das heißt, sie sind ein Paar und als solches auch ganz klar zusammen. Sie lassen den jeweils anderen aber seine Sexualität offen auch mit anderen ausleben. In der Swinger-Szene hat man sich einen Bekanntenkreis mit ähnlich denkenden Paaren aufgebaut und trifft sich oft auf Parties etc., in denen es sexuell sehr freizügig zugeht. Allerdings gilt die Freizügigkeit nur im sexuellen Bereich. Sollte sich einer der Partner in jemand anderen verlieben, ist das außerhalb des Agreements und es kann Ärger geben.

Andere Formen der offenen Beziehung lassen auch Zweit- oder Drittpartnerschaften zu. Dabei wird aber Wert darauf gelegt, dass die Hauptbeziehung nicht in Frage gestellt wird und entsprechend zentral bleibt.

 

Verbindliche Mehrfachbeziehungen

Schließlich gibt es eine schnell wachsende Szene von Polyamory-Anhängern, die verbindliche Mehrfachbeziehungen zu ihrem Lebensstil erklärt haben. Diese Menschen haben eben nicht nur einen, sondern zwei oder mehrere Partner, auf die sie sich gleich stark beziehen oder einlassen. Weil die Partner oft (aber nicht immer) eine ähnliche Ausrichtung haben, kommt es zusätzlich zur Dreierbeziehung zu allerhand Konstellationen wie die Kette, das Viereck oder den Kreis. Polyamoristen kennen eine hohe Ethik der Verbindlichkeit, der Herzlichkeit untereinander und der Offenheit und Transparenz mit allen Partnern.

In den USA kämpft eine wachsende Szene inzwischen um ihre offizielle Anerkennung und Minderheitenrechte. In manchen Städten wie Philadelphia gibt es ca. 3000 Anhänger dieses Lebensstils. In Deutschland findet man all diese Formen wie Polyamory, Mehrfachbeziehungen, offene Beziehungen und frei liebende Individuen im Umfeld des Gemeinschaftsprojektes ZEGG in Belzig südlich von Berlin, im Umfeld anderer Gemeinschaftsprojekte und Initiativen, beim Netzwerk Noyana sowie vielerorts in der Tantra-Community.

Eine Untersuchung, die ich als Diplom-Psychologe an Paaren, die in offenen Beziehungen oder Mehrfachbeziehungen leben, vorgenommen habe, zeigt, dass diese Paare große Kompetenz in der Bewältigung von Eifersuchtsgefühlen und ein hohes, differenziertes Niveau beim Umgang mit Liebesthemen haben.

Über den Autor

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Jg. 70, Dipl.-Psych., Tantralehrer seit 1997, Therapeut, Coach und Autor.
Intensive Praxis des westlichen, des hinduistischen und seit 2004 auch des buddhistischen Tantra.
Fortbildungen in Yoga, Zen und humanistischer Psychologie. Lehrt und lebt Tantra, auch innerhalb seiner Gemeinschaft im Fläming nahe Berlin. Mitbegründer und Leiter des Secret-of-Tantra-Instituts für neue Lebenskultur.

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