Dave Stringer zählt zu den international bekannten Stars des Kirtan-Gesangs. In den letzten Jahren gab er rund 4000 Konzerte – vor allem in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa – und brachte drei hoch gelobte Alben heraus. Jetzt kommt der Musiker mit dem unverwechselbaren Stil nach Berlin. Petros Haffenrichter wollte von ihm wissen, was Kirtan-Singen so besonders macht.

Petros Haffenrichter: Dave, Sie sind lange Zeit durch Amerika getourt und haben dann vorletztes Jahr Ihre erste Europa-Tournee gemacht – macht es irgendeinen Unterschied, ob man auf der einen oder der anderen Seite des Atlantiks auftritt?

Dave Stringer: Die Zuhörer unterscheiden sich von Stadt zu Stadt im Temperament, aber die Erfahrung des Chantens scheint dieselbe zu sein, egal wohin ich komme. Das Singen öffnet emotionale Türen wie eine Art Reinigung oder Katharsis. Dies hat den Effekt, dass sich das Zentrum der Aufmerksamkeit vom Kopf zum Herz verlagert. Der Geist ist darauf geeicht, Dinge in Kategorien einzuordnen, aber das Herz sucht nach Liebe, ist überall gleich.
Die Kirtan-Sprache Sanskrit ist die Muttersprache vieler moderner Sprachen (darunter Deutsch und Englisch) und deshalb ein Punkt linguistischer Einheit. Klänge wie „Oh“ und „Mmmm“ und „Ah“ oder „Shhh“ vermitteln Bedeutungen, die jedes Baby versteht. Die meisten Menschen sowohl in Europa als auch Amerika erleben Sanskrit als eine seltsam vertraute Art von Nonsens. Da eines der Ziele des Chantens darin liegt, den Geist davon abzubringen, dass er sich mit dem Denken identifiziert, erweist sich dieser Nonsens als sehr nützlich. Wenn man den Geist von dem Gewirr von Bildern und Worten befreit, auf die er für gewöhnlich gerichtet ist, wird man sich einer weiten und freudvollen Stille bewusst, die den Geist in sich zu halten scheint. In diesem Zustand des Bewusstseins gibt es keine Wahrnehmung von Trennung und Unterschieden.

Könnten Sie erklären, was Kirtan ist?

Kirtan ist ein spirituelles und künstlerisches Modell davon, wie Körper und Seele das größere Universum berühren. Es ist eine Meditation über Teilchen und Wellen, Geist und Herz, Dualität und Einheit. Und es ist auch ein wahres Vergnügen. Die Intention von Kirtan ist bewusstseinsverändernd, die Singenden werden dazu gebracht, in den Gesängen aufzugehen wie Tropfen, die mit dem Ozean verschmelzen. Die Form ist einfach, problemlos erlernbar und leicht zu merken. Eine leitende Gruppe oder Person ruft die Mantras oder Melodien aus und die Menge antwortet, singt, klatscht und tanzt, während die Rhythmen von Tablas, Rasseln, Harmonium, Tamboura, Bass, Gitarre und anderen Instrumenten sich aufbauen und beschleunigen.
Die Sanskrit-Mantras sind primär Rezitationen von Namen des Göttlichen. Aber vielleicht ist das eigentliche Verständnis dieser Mantras im Gefühl der Einheit, des Wohlbefindens und der Zeitlosigkeit zu finden, das sie auslösen. Die Mantras beruhigen den Geist, und die Musik befreit das Herz. Ekstase ist sowohl der Prozess als auch das Ergebnis. Auf diese Weise stimmt das Chanten vollkommen mit der Philosophie überein, die von den Mantras ausgedrückt wird. Eines der Dinge, die mich am Kirtan am meisten interessieren, ist, wie sein „Call and Response“-Aspekt den Unterschied zwischen dem „Vorsänger“ und den Zuhörern verwischt. Ich lasse die Mantras über der Band an die Wand projizieren, um den Leuten das Mitsingen leicht zu machen – sie können so sofort einsteigen. Gegenüber Liedzetteln hat dies den Vorteil, dass wir den Raum abdunkeln können, was offenbar vielen hilft, ihre Beklemmungen zu überwinden und zu singen.
In meiner Arbeit versuche ich, die alten Traditionen von Kirtan und Yoga in eine zugängliche moderne Kunst zu übersetzen. Kirtan als Form ist sowohl extrem expansiv als auch außerordentlich reduktionistisch. Es ist eine Herausforderung für einen Musiker, das Arrangement zu entwickeln und das musikalische Interesse aufrecht zu erhalten, aber die Leute dennoch nicht aus dem hypnotisierenden Raum des Chantings herauszureißen. Ich beschwöre gleichzeitig die Traditionen von Gospel-Zeltshow, Performance-Kunst, Musiktheater und Stadion-Rock-Konzert herauf, weil dies alles Formen sind, zu denen westliche Zuhörer Bezug haben, und ihnen einen Kontext gibt, in dem sie sich zurechtfinden.

Aber wenn die gesungenen Sanskrit-Wörter Namen des Göttlichen sind – ist Kirtan dann nicht so etwas wie ein Anrufen der „Götter?“

Auch wenn ich die Namen von Hindu-Göttern und -Göttinnen anrufe, so singe ich doch nicht im eigentlichen Sinne zu ihnen. Bhagavan Das, den viele als den „Original Gangsta des Kirtan im Westen“ bezeichnen und vor dem ich eine Menge Respekt habe, interpretierte dies einmal als Anzeichen, dass ich nicht an Gott glaube. Für ihn und die vielen anderen, die starken Bezug zu den Göttinnen und Göttern haben, sind diese Namen selbst Formen der Götter, und sie zu singen bedeutet für sie, diese Götter real werden zu lassen. So öffnet sich für sie diese Tür.
Für mich fungieren die Gottheiten und ihre mythologischen Funktionen als psychologische Metaphern und als Ausdruck der verschiedenen Kräfte, die gemeinsam das Universum bilden. Aber motiviert werde ich durch mein Bestreben, an einen Ort reiner, liebender Bewusstheit jenseits von Bildern und Konzepten, Subjekten und Objekten zu gelangen. Das ist Gott für mich. Es ist eine Bewusstheit, die ich nur in Momenten tiefer innerer Stille erleben kann, und Chanten bringt mich dorthin. Mal ehrlich, es spielt doch keine Rolle, welchen Weg man wählt. Letztendlich gibt es nur eine Richtung in diesem Universum. Wohin du auch die Fühler ausstreckst, letzten Endes berührst du denselben Ort.

Mit welcher Einstellung sollte man herangehen, wenn man die Namen und Mantras singt?

Ich denke, es ist am besten, einfach dort zu beginnen, wo man gerade ist, ohne zu versuchen, irgendeine bestimmte Haltung einzunehmen. Unehrerbietigkeit und Skepsis können ebenso viele Türen öffnen wie demütige Hingabe. Mantras sollen ein Werkzeug sein, um das Gefängnis der Bindungen zu durchbrechen, das vom Geist erschaffen wird, also sollte man sich auf keinerlei Weg festlegen, genau dieses Gefängnis zu wiederholen. Es ist schön, mit einer speziellen Absicht zu chanten, aber es ist auch okay, einfach zu relaxen und zu genießen. Alles, was ich von Leuten verlange, die zum Chanten kommen, ist, dass sie willens sind, mitzumachen und wahrzunehmen, was sich für sie dabei ergibt.


Hörproben:

Gunghata.mp3
Guru Kripanjana.mp3

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2 Responses

  1. Andrea

    hey david, still glad that i was able to take part at the sunday moring session at vishnus couch. it was great! still working on my handstand:) thanks and maybe i’ll join your teachertraining in brazil. hello heat, bye germany in winter. namaste9, anne

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