Die craniosacrale Therapie ist eine Sonderform der Osteopathie, deren Fokus mehr auf der achtsamen und sensiblen Berührungsqualität liegt als auf der Ebene der Manipulation. Die craniosacrale Arbeit mit Geburts – traumata ist kein in sich geschlossenes Behandlungskonzept, sondern eine Verbindung craniosacraler Behandlungsmöglichkeiten mit Konzepten der Traumatheorie von Peter Levine und der perinatalen Psychologie. Mit dieser Methode kann man Geburtstraumata bei Babys, Kindern und Erwachsenen effektiv behandeln.

von Wolfgang Rühle

Einer der grundlegenden Gedanken der craniosacralen Therapie ist, dass ein vitaler lebendiger Organismus gekennzeichnet ist durch rhythmisches Geschehen: des Atems, des Herzens und durch das, was wir den caniosacralen Rhythmus nennen – eine Art Atem des ganzen Körpers –, der eine ganze Bandbreite von Frequenzen umfasst. Leben ist Rhythmus. Aus dieser Perspektive betrachtet äußert sich ein Trauma als ein „Aus-dem-Rhythmus-Sein“, der Atem ist oft flach, das Herz schlägt zu schnell und unregelmäßig und das craniosacrale System ist kontrahiert, das heißt, alles fühlt sich zusammengezogen an, eine Öffnungsbewegung findet nicht mehr wirklich statt.

Was ist eigentlich ein Trauma?

Ein Trauma ist kein Ereignis, sondern das Ergebnis eines Ereignisses, das von Organismus, Psyche und Nervensystem des Betroffenen nicht angemessen verarbeitet werden konnte. Somit ist Geburt nicht identisch mit einem Geburtstrauma, aber die Geburt ist ein Ereignis, bei dem solch intensive Kräfte wirken, dass sie ein hohes Potential der Traumatisierung in sich tragen. Der menschliche Schädel ist im Durchmesser wenigstens einen Zentimeter größer als der Beckeneingang. Unabhängig von der Zeit vor der Geburt, darin sind sich alle Fachleute aus dem Bereich der Prä-, Peri- und Postnatalen Psychologie einig, enthalten die meisten Geburten, schon allein aus körperlichen Gründen, traumatische Elemente. Die Prägungen, die während der Geburt entstehen, bleiben unbearbeitet oft das ganze Leben lang erhalten. Die Unterscheidung, dass ein Trauma kein Ereignis ist, sondern ein Verarbeitungsproblem, erscheint mir wichtig, weil es den Blick auf das für den betroffenen Menschen Wesentliche lenkt: nicht dass etwas Bestimmtes passiert ist, sondern dass sein Organismus nicht in der Lage war, das, was geschehen ist, zu verarbeiten. Da ist etwas erstarrt und wurde abgespalten. Und auch das, was nicht in der Erinnerung ist, wirkt.

Oft stellt sich im Gespräch mit einem Klienten heraus, dass sich problematische Verhaltensweisen und Symptome mit Bezügen zum Verlauf der Geburt assoziieren lassen. Bei der Geburt entstandene Traumata wirken besonders nachhaltig, weil das Nervensystem sich in einem Zustand befindet, in dem es alle Reize richtiggehend aufsaugt. Frühe Reize sind prägender als später entstandene, darin ist sich die Fachwelt einig. Erfahrungsmuster, die während der Geburt entstehen, werden häufig in späteren Altersstufen reinszeniert, ohne dass der Betroffene einen Entstehungszusammenhang erkennen kann – zum Beispiel die Neigung, schnell aufzugeben, schubweise intensive Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Überempfindlichkeit am Hals, Verlassenheits- und Ohnmachtsgefühle, Bindungsängste und Ähnliches. Aber auch Symptome wie Depressionen und Panikattacken können mit traumatischem Erleben während der Geburt oder im Mutterleib verknüpft sein.

Das Gedächtnis des Körpers

Ein Geburtstrauma ist ein vorsprachliches Trauma und aus diesem Grund bin ich der Überzeugung, dass ein solches Trauma nicht ausschließlich auf der sprachlichen Ebene adäquat behandelt werden kann. Die craniosacrale Arbeit mit Geburtstraumata verfolgt das Ziel, über Berührung behutsam die perinatale (= alle Vorgänge, die um den Geburtszeitraum stattfinden) Situation in der Erinnerung aufzurufen und den Raum dafür zu schaffen, dass Spannungen, Blockaden und Dissoziationen (Abspaltungen), die bei der Geburt entstanden sind, sich lösen können. Solche Lösungen haben einen befreienden und vitalisierenden Effekt auf den Klienten im Jetzt. Wenn wir davon ausgehen, dass wir einen Zustand beim Klienten herstellen können, in dem er mit dem perinatalen Geschehen in Kontakt treten kann, brauchen wir eine Vorstellung, die darüber hinausgeht, dass nur unser Nervensystem Informationen speichern kann.

Aus diesem Grund nehmen wir an, dass es so etwas gibt wie ein Körpergedächtnis, das das Erleben unseres Körpers speichert – nicht nur bei der Geburt, sondern auch schon während der Zeit im Mutterleib –, dass also unser ganzes Werden in uns abgespeichert ist. David Boadella, einer der Pioniere der Körperpsychotherapie, schreibt: „Wir brauchen Erinnerungsfähigkeit – so verstanden – nicht auf das Gehirn zu beschränken. Organismen ohne Hirngewebe oder Nervensysteme haben Erfahrungen…

Es scheint, dass sogar einzelne Zellen ein bestimmtes System primitiver Erinnerungsfähigkeit an vergangene organische Zustände besitzen… mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Erregungsmuster des Fötus, angenehme wie unangenehme, und die mit ihnen verbundenen Reflexbewegungsmuster in irgendeiner Form aufbewahrt, die möglicherweise später wiederentdeckt werden kann. Wenn das so ist, ist es auch legitim anzunehmen, dass die Art und Weise, wie diese Erinnerungen an die Erfahrungen festgehalten werden, den Organismus ebenfalls formt und lenkt.“

Das Urtrauma hinter dem aktuellen Trauma

Dass unser Körper als Erinnerungsspeicher funktioniert, kann man beim Praktizieren einer craniosacralen Technik namens „Unwinding“ erfahren, was so viel bedeutet wie Entwindung oder Entwirrung. Beim „Unwinding“ nimmt der Behandler Kontakt mit einem Körperteil auf, zum Beispiel einem Arm, enthebt ihn so weit wie möglich der Schwerkraft und begleitet die Bewegungen dieses Arms so passiv wie möglich. Was bei diesem Prozess oft passiert, ist, dass der Arm in einer bestimmten Position regelrecht erstarrt und diese Körperposition beim Klienten eine Flut von Erinnerungen auslöst, manchmal eben auch Geburtserinnerungen oder sogar Erinnerungen an die Zeit im Mutterbauch – ohne dass dies vom Behandler intendiert war.

Und so kann sich, wenn der Behandler die Situation richtig erkennt und begleitet, beispielsweise auch die Behandlung eines durch einen Sturz schmerzenden Armes in eine Geburtstrauma-Behandlung verwandeln. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ich den Arm eines Mannes behandelte, der einen Motorradunfall hatte und dessen Wiedererleben des Sturzes sich im Bewegungsprozess in eine Geburtssitzung verwandelte. Es ist schwer zu beschreiben und zu vermitteln, woran man so etwas erkennt, es ist einfach so, dass die Qualität der Bewegung sich verändert. Und das abschließende Gespräch hat diesen Wechsel des inneren Erlebens bestätigt. Die Schmerzen im Arm hatten sich nach dieser Sitzung enorm reduziert und waren nach drei weiteren Sitzungen, in denen der Geburtsraum nicht mehr auftauchte, endgültig verschwunden.

Voraussetzungen der Arbeit mit dem Geburtstrauma

Die Arbeit an einem Geburtstrauma ist nichts, was man einfach mal so in einer Behandlungssitzung machen kann. Es gibt einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. In der Regel bedarf es einiger vorbereitender Sitzungen, um diese zu erfüllen: Der Behandler sollte im Gespräch die wichtigsten Informationen erfragen, die aus der perinatalen Zeit bekannt sind; es muss gewährleistet sein, dass der Patient Zugang zu seinen Ressourcen hat, das heißt, genug Kraft um sich schwierigen Situationen auszusetzen; der Patient muss sich auch im Behandlungsraum und mit dem Behandler sicher fühlen und er sollte seinem Behandler tiefes Vertrauen entgegenbringen. Erst dann kann sich der Patient mit Hilfe des Behandlers in einen Zustand tiefer Entspannung begeben, in den der Behandler ihn mit der craniosacralen Behandlung begleiten kann. Hat der Prozess erst einmal begonnen, ist es die Aufgabe des Behandlers, den Klienten behutsam bei seinen Bewegungen aus den erstarrten Mustern heraus zu begleiten und ihm dabei immer das Gefühl zu vermitteln, dass er sich in einem sicheren Raum befindet. Die Erfahrung der Sicherheit unterscheidet den therapeutischen Prozess vom ursprünglich traumatisierenden Erleben und ermöglicht eine neue, freiere Erfahrung des eigenen Seins.

Der Beginn des Prozesses

Wenn der Patient sich entspannt und sicher fühlt, gibt es für den Behandler mehrere Möglichkeiten, das Wiedererleben der Geburt zu initiieren. Manchmal beginnt der Patient – bedingt durch das Vorgespräch und die Ausrichtung des Behandlers auf das Geburtstrauma – von selbst mit Bewegungen, die sich von der Art und Qualität her als Geburtsbewegungen deuten lassen. Dann gibt es die Möglichkeit, den Patienten aufzufordern, sich zurückgleiten zu lassen bis in die Zeit um die Geburt herum. Auf körpertherapeutischer Ebene arbeite ich meist mit zwei Techniken, die ich bei der Behandlung eines Geburtstraumas meist als Initiation verwende. Eine Möglichkeit ist es, den Klienten aufzufordern, sich in eine zusammengekauerte fötale Position zu begeben, dann umfasst ihn der Behandler, macht den Raum enger und erinnert dadurch den Körper an die Situation kurz vor dem Beginn der Geburt. Die andere Möglichkeit: Der Behandler legt seine Hände so auf den Kopf des Patienten, dass er dadurch an die Position des Fötus mit dem Kopf am noch nicht vollständig geöffneten Muttermund erinnert. Diese zweite Initialposition ist interessanterweise auch und gerade bei Kaiserschnittgeburten sinnvoll.

Bei einem Klienten, der durch Kaiserschnitt auf die Welt gekommen ist, geht es nicht um das erlösende Wiedererleben einer traumatischen Situation, sondern vielmehr um das „Nachholen“ eines Vorgangs – nämlich des Sich-Durchkämpfens durch den Geburtskanal –, der natürlicherweise in jedem Menschen angelegt ist, aber nicht stattgefunden hat. Ich habe es mehrfach erlebt, dass für erwachsene Klienten, die mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen sind, dieser von mir ausgeübte massive Druck am Kopf und das anschließende „Durchgleitenlassen“ des Klienten durch meine Hände als extrem erlösend empfunden wurde. Offenbar zeigt sich hier, dass das für den Durchgang durch den Geburtskanal angelegte Kraft- und Bewegungsmuster so seine (Er-)Lösung findet. Was vor der Sitzung als blockierte Kraft wahrgenommen wurde, wird im „Geburts-Nachholprozess“ zur Empfindung von fließender Kraft.

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