Erwachen ist das Erwachen aus der Vorstellung, eine getrennte Person zu sein, die das Leben kontrollieren kann und muss. Welch eine Erleichterung! Ein Gespräch über Nichtdualität mit Gabriele Rudolph.

 

Was ist eigentlich Nichtdualität?

Nichtdualität ist ein Wort, das darauf hinweist, dass es nur Einheit gibt. Man könnte auch sagen: Es gibt nur Liebe. Aber die meisten Menschen glauben, dass vieles von dem, was scheinbar geschieht, nicht geschehen sollte… dass das Leben, bestimmte Menschen, Dinge oder Situationen so, wie sie sind, nicht in Ordnung sind. In Gedanken wird das Leben in Richtig und Falsch, Gut und Böse, Freund und Feind eingeteilt. Dies ist erlernt und beruht nicht auf der direkten, klaren und natürlichen Wahrnehmung DESSEN, was wirklich ist. Tatsächlich ist alles, was geschieht, absolut vollkommen. Es gibt nicht mehr oder nichts Besseres als DAS, was gerade ist, so wie es ist.

Du sprichst immer wieder von „Klarem Sehen“ – was genau meinst du damit?

Klares Sehen ist Sehen, dass das, was gewöhnlich als „Ich“ bezeichnet wird, das heißt, eine von anderen und der Umwelt getrennte, eigenständig handelnde Person, nicht existiert und dass es nur Einheit gibt. Dies zu sehen ist Freiheit. Es ist das Ende der Suche nach Mehr und Besser, nach Glück, Freiheit, Frieden oder Stille. Es ist das Erkennen, dass alles, was du bisher gesucht hast, bereits ist und dass es niemanden gibt, der eine Wahl hat und der etwas ändern, erreichen, loslassen oder akzeptieren könnte. Es ist eine unglaubliche Befreiung!

Kann man etwas dafür tun, dass Klares Sehen geschieht?

Klares Sehen ist Sehen, dass da niemand ist, der etwas tun oder erreichen kann, und dass DAS, was du suchst, bereits ist. Das heißt, das Anbieten von Methoden und Wegen zum Erwachen kann niemals auf Klarem Sehen beruhen, da es den Glauben an einen scheinbaren Jemand, der all das anwenden kann, ja noch verstärkt. Es gibt nichts zu erreichen, denn alles, was du suchst, ist bereits – genau jetzt, genau hier, während du dies hörst oder liest! Es ist total einfach! Von klein auf hören wir, dass wir dies oder jenes tun müssen, um vollkommen, in Ordnung oder geliebt zu sein. Das ist nicht wahr! In Wirklichkeit ist ES hier, genau jetzt… im Lesen, Atmen, Arbeiten… im Aufs-Klo-Gehen… ES ist DAS, was gerade ist – genau so, wie es ist. Auch der Versuch, das hier Gesprochene zu verstehen, ist DAS.

Wie wirkt sich das, was du „Klares Sehen“ nennst, auf deinen Alltag aus?

Ungefähr so, wie wenn du vorher dachtest, es ginge ums Überleben, und plötzlich entdeckst du, es gibt gar niemanden, der das Überleben sichern muss. Da ist nur das Paradies. Das ist ein Wunder – unverständlich, unglaublich! Alles, was ich früher für selbstverständlich hielt, wird nun als DAS gesehen, was ES ist: Liebe in dieser Gestalt. So verliebte ES sich in alles: In eine Aubergine, in alle Menschen, die mir begegneten, in eine Tür, in die Hilflosigkeit, ja sogar in das Gefühl der Trennung…
Während es mir früher oft so schien, als gäbe es Mangel und als müsste „ich“ um Unabhängigkeit und Geborgenheit kämpfen und „meinem“ Leben Sinn geben, wird nun einfach klar gesehen, dass alles vollkommen ist und dass DAS, was ist, keine Hilfe braucht. Oft ist hier ganz einfach tiefes Staunen angesichts der Schönheit DESSEN. Ich höre Musik, lese ein Buch oder sehe einen Film und bin tief berührt von der unfassbaren Fülle und Schönheit. Oder ich sehe, was durch diesen Körper-Geist durch niemanden – ganz von selbst – geschieht, und Dankbarkeit steigt auf. Dadurch hat sich natürlich auch „mein“ Verhalten verändert.
Das heißt aber nicht, dass hier nicht weiterhin Ärger, Angst, Schmerz oder zum Beispiel Eifersucht auftauchen. Im Gegenteil: Seit dem Erwachen kamen ganz viele Ängste hoch. Manchmal scheint es mir, als könnten sie sich erst jetzt wirklich entfalten, wie Kinder, die bisher nicht erwünscht waren, sich daran freuen, nicht mehr weggescheucht zu werden.
Vor einiger Zeit, als ich noch in einer (scheinbaren) Partnerbeziehung lebte, erzählte mir „mein“ Freund auf einem gemeinsamen Spaziergang, dass er alleine Urlaub auf Sylt machen möchte. Plötzlich stieg die Angst auf, dass er dort vielleicht eine andere Frau kennen lernen würde. Ich erzählte ihm davon und dabei wurde gesehen, dass eine Geschichte aufgestiegen war – die Geschichte einer Frau, die abhängig ist von der Liebe und Treue „ihres“ Partners. Im Erkennen, dass da niemand ist, der abhängig sein könnte, fiel die Geschichte in sich zusammen und mit ihr die Angst.
In der Freiheit steigt weiterhin alles auf, aber der scheinbar Leidende, dem etwas zu fehlen scheint, sowie die Vorstellung potentieller Erfüllung in der Zukunft werden als Konstruktionen des Verstandes entlarvt und können wieder gehen. Was übrig bleibt, ist DAS, was immer ist – nichts und alles zugleich.

Welche Auswirkungen hatte Klares Sehen auf deine damalige Partnerschaft? Veränderte sich etwas? Bekam die Partnerschaft eine andere Qualität?

Erst einmal: Klares Sehen ist Sehen ohne jemanden, das heißt, es wird niemand gesehen, der in einer Partnerschaft lebt. Das, was man gewöhnlich als „Partnerschaft“ oder „Beziehung“ bezeichnet, ist eine Vorstellung, eine Geschichte, die der Verstand erzählt. Wenn du „deine“ Aufmerksamkeit vom Verstand und seinen Geschichten wegnimmst, gibt es dann noch eine Beziehung? Nein. Auch sie ist ein Gedankenkonstrukt.
Das Erwachen hatte (scheinbar) insofern eine Auswirkung, als dass hier niemand gesehen wird, dem etwas fehlt, und somit niemand, der den scheinbar anderen braucht. So fällt mit der Verkörperung des Klaren Sehens mehr und mehr der Versuch weg, andere oder eine Situation zu manipulieren, um etwas zu bekommen, das scheinbar fehlt. Alles, was hier aufsteigt – Eifersucht, Hass, Neid, Angst, Wut – wird als DAS, als Liebe in Verkleidung, entlarvt.
Auch jegliches Verhalten „meines“ Partners wurde als Liebe erkannt. Im klaren Sehen ist alles so einfach! Die Vorstellungen, wie er sein oder nicht sein sollte, verlieren ihre Kraft, da niemand gesehen wird, der anders handeln könnte. Was danach zu „meinem“ Erstaunen oft geschah, war, dass Liebe aufstieg, die dann gar nicht anders konnte, als sich zu verschenken, das heißt, ihn zu verwöhnen oder ihm zu sagen, dass ich ihn liebe.
Während früher die Neigung da war, mich sehr stark anzupassen, um nicht verlassen zu werden, verlor die Angst und die Geschichte dahinter an Kraft. Wenn da niemand ist, dem etwas zustoßen kann, hat die Angst niemanden mehr, an dem sie sich festhalten kann. So ist Gabriele heute natürlicher, echter, ungezwungener, und der Körper bewegt sich und atmet freier. Allerdings ist dies ein sekundärer Effekt.
Auch das Bedürfnis wegzurennen, wenn es scheinbar schwierig wird, ist seltener geworden. Wegrennen macht nur solange (scheinbar) Sinn, wie es irgendwo mehr zu geben scheint, als DAS, was gerade ist, so wie es ist. In dem Sehen, dass da niemand ist, der etwas verpassen oder gewinnen könnte, hat die Suche nach einem besseren, schöneren oder jüngeren Partner bzw. die Illusion, es gäbe mehr als nichts, an Glaubwürdigkeit verloren.
Und die Sexualität wurde mit jedem Mal schöner empfunden, ohne dass sie sich – äußerlich gesehen – groß verändert hätte. Jeder Kuss, jeder Blick, jede Berührung hat eine Intensität, die früher gar nicht wahrgenommen werden konnte, weil die Aufmerksamkeit in Vorstellungen oder bei einem Ziel ruhte.
Auch ist die Gegenwart eines scheinbar Anderen nicht notwendig, um im Liebesspiel zu sein. Erwachen ist unglaublich erotisch! Im Klaren Sehen ist jeder Moment ein Liebesspiel – von niemandem mit niemandem – und das ist Intimität pur.

Wie gehst du mit alltäglichen Schwierigkeiten um?

Im Klaren Sehen wird niemand gesehen, der mit Schwierigkeiten umgehen, Entscheidungen treffen, etwas erreichen oder verhindern kann. Manchmal steigt Widerstand oder Ärger auf und wird als genau DAS respektiert, was ES ist: Liebe in dieser Gestalt. In dem Sehen, dass da niemand ist, der Entscheidungen treffen kann, geschehen Handlungen einfach, ganz spontan und natürlich – ohne jemanden.

Letzte Frage: Gibt es denn ein Leben nach dem Tod?

Diese Frage setzt jemanden voraus, der sterben könnte. Da ist aber niemand, es erscheint nur so in Gedanken und Gefühlen. Und so entsteht die Angst vor dem Tod, vor dem ultimativen Kontrollverlust. Aber dieser Kontrollverlust ist fiktiv, da es nie jemanden gab, der die Kontrolle hatte. Alle Religionen, die ganzen Dogmen, Moralvorschriften und die Versuche, Methoden und Wege zu finden, ins Nirvana oder Paradies zu kommen, entspringen dem vergeblichen Versuch, DAS, was nicht kontrolliert werden kann, in den Griff zu bekommen.
Der Verstand möchte so gerne verstehen, was nicht verständlich ist. Er möchte helfen, das scheinbare Problem des Lebens in den Griff zu bekommen, weil er glaubt – und auch glauben will – dass da jemand ist, der Hilfe braucht. Aber Hilfe ist gänzlich unnötig. „Unnötig“ heißt, es besteht keine Not, das heißt, da ist niemand, dem etwas fehlt. Die ganze Suche und Sehnsucht nach dem Glück, nach Liebe, Freiheit, Zufriedenheit oder Seligkeit nach dem Tod beruht auf dem Glauben, dass das Paradies nicht schon ist. Und so entstand der Versuch, ein Paradies zu erschaffen – wenn schon nicht auf Erden, dann wenigstens nach dem Tod. All das sind Konstrukte des Denkens, um nicht niemand zu sein, um nicht zu entdecken, wie einfach alles ist. ES ist das offensichtlichste Geheimnis.

Das Interview führte Richard Stotz

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