In allen Religionen und spirituellen Traditionen gibt es offensichtlich etwas zu erreichen, die Erlösung, Befreiung oder Erleuchtung. Das ist alles Unsinn, meint Richard Sylvester, und ­erklärt Christian Salvesen im Interview, weshalb. Über das Ende des Traums.

 

Salvesen: Richard, ich würde gerne mit einer ganz allgemeinen Frage beginnen, eine von diesen Grundfragen wie „Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?“. Also: Was ist der Sinn des Lebens?
Sylvester: Das Leben ist sein eigener Sinn. Es besteht keine Notwendigkeit für eine Bedeutung außerhalb oder jenseits des Lebens selbst. Allerdings geht die Suche oder das Verlangen nach einer Bedeutung offensichtlich einher mit einer Menge Aktivität. Denn für eine Person ist es sehr wichtig, dass es eine Bedeutung, dass es eine Reise gibt, dass man irgendwohin strebt. Das Ganze muss sich irgendwie entwickeln, sei es spirituell oder materiell. Die Einfachheit von dem, was ist, und wie es ist, scheint nie genug für jemanden, der sich als getrennt von allem wahrnimmt. Und einer der erstaunlichsten Aspekte, wenn dieses Gefühl von Getrenntheit wegfällt, ist, dass gesehen wird, dass dies hier völlig genug ist. Es bedarf keiner hinzugefügten Bedeutung. So wie eine Blume keinerlei darauf gepackte Interpretation benötigt, um eine vollkommen angemessene Blume zu sein, brauchen wir, du und ich, keine zusätzliche Bedeutung, um zu sein, was wir sind.

Jetzt beziehst du dich bereits auf diese doch anscheinend außerordentliche Sache, die dir – du würdest sagen Niemand – widerfahren ist. Warum ist es so selten, dass das Gefühl oder die Wahrnehmung von mir selbst als einer Person wegfällt?
Nun, ich glaube, wir können gar nicht wissen, wie oft und bei wie vielen dieses Empfinden von Getrenntsein tatsächlich verschwindet. Vielleicht haben einige, bei denen das geschieht, nicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen, mögen nicht an die Öffentlichkeit treten. Oft ist es aber auch so, dass sie es versuchen, darüber mit Freunden und Verwandten zu reden, und sehr bald merken, dass sie lieber nichts sagen sollten, weil die Lieben sich Sorgen machen und bereits geeignete Psychiater suchen. Und in der Geschichte der spirituellen Traditionen, besonders des Christentums, finden wir durchaus und immer wieder einzelne Menschen, die auf die Nichtgetrenntheit hingewiesen bzw. Andeutungen gemacht haben und daraufhin von Seiten der kirchlichen Institutionen mundtot gemacht wurden, denn dies ist ein äußerst gefährliches Thema. Es ist also kein Wunder, wenn womöglich die meisten, denen dies widerfahren ist, es für sich behalten haben. Zudem wissen wir nicht, wie viele Menschen darüber schriftlich berichtet haben, denn im Laufe der Zeit sind sicher viele Schriften mit gefährlichem Inhalt verloren gegangen bzw. vernichtet worden.

Ein anderer Grund ist, dass dieses ­Thema so schwer zu verstehen ist. Wir sollten sogar klarstellen: Es ist unmöglich für den Verstand. Selbst in Kulturen, wo es akzeptiert war, darüber zu sprechen, wurde es zumeist missverstanden. Nachdem jemand wie der Buddha diese Botschaft der Nichtgetrenntheit verkündet und Schüler um sich geschart hatte, wurde sie wieder zu einem weiteren Weg des Erreichens, zu einer weiteren Religion. Das ist geradezu unvermeidlich. Der Verstand oder die Person kann dies nur missverstehen. Daher ist das Verschwinden der Person eine so unglaubliche Realisation – auch und gerade wenn zuvor über Jahre hinweg Bücher darüber gelesen, Talks besucht und anscheinend alles klar verstanden wurde. Denn das Wissen des Verstandes und alles Reden darüber hat mit dem tatsächlichen Wegfall des Getrenntseins gar nichts zu tun.

Als für mich die spirituelle Suche begann, verstand ich unter der Erleuchtung etwas Ungeheuerliches, worum sich der Sucher womöglich etliche ­Leben mit äußerster Anstrengung und Entschlossenheit bemühen muss, um schließlich die höchste Ebene des ­Bewusstseins zu erklimmen. Wenn ich dich richtig verstehe, ist dieses so genannte Erwachen jedoch etwas sehr Einfaches: Man verliert einfach das Gefühl des Getrenntseins, oder?
Es ist nichts Großartiges, kein Gewinn, sondern ein Verlust. Spirituelle Wege und Religionen haben alle eine gemeinsame Tendenz: Sie funktionieren, indem sie uns einerseits enorme Verheißungen machen und andererseits enorme Strafen androhen. Sie arbeiten also auf der Basis von Verlockung und Einschüchterung. Beim spirituellen Weg zur Erleuchtung ist die Verlockung, dass ich persönlich eine wunderbare Erhöhung erfahre mit goldenem Licht, enormer Anziehungskraft auf alle anderen und der Erfüllung aller Wünsche. Die Einschüchterung besteht hier zum Beispiel darin, dass mich schlimme karmische Konsequenzen erwarten, wenn ich die Anweisungen meines Gurus oder der jeweiligen spirituellen Tradition nicht gewissenhaft befolge usw. Das alles ist völliger Unsinn. Befreiung – mir fällt dafür leider kein besseres Wort ein – ist ein Verlust und kein Gewinn. Die Person geht verloren.

Und das bedeutet einen absoluten Verlust: Tod – oder? Im Sinne des Sufi- oder auch ­Jesusspruchs: Nichts wird dir zuteil, bevor du nicht stirbst?
Ja. Und auch hier kommt in der Regel wieder die Person mit ihrem Missverständnis ins Spiel und meint: Ich muss etwas tun, um zu sterben. Ich muss das Ego zerstören, weniger selbstsüchtig sein, keine Wünsche haben, nichts bevorzugen usw. All das sind Wege, um sich selbst fertig zu machen, denn wir sind dann auf einen Weg oder eine Methode fixiert, die natürlicherweise unserer Psyche widerspricht.

Würdest du – wie die Existentialisten – sagen, dass unser Dasein und Lebensgefühl durch die Angst vor dem Tod bestimmt und deswegen derartig angespannt ist?
Was diese Grundanspannung betrifft, so glaube ich, dass das Empfinden der Getrenntheit eine noch größere Rolle spielt als die Angst vor dem Tod. Die Angst vor dem Tod ist gewiss wichtig, doch das Empfinden von Getrenntsein ist noch grundlegender. Nichts gegen die Existentialisten. Wenn wir das Leben als eine Geschichte begreifen, dann würde ich sagen, der Existentialismus liefert die einzig respektable Interpretation. Er durchschaut all die anderen Geschichten und Interpretationen um das Dasein, die religiösen Hoffnungen usw., aber was er nicht erkennt, ist die Person in ihrem Empfinden des Getrenntseins. Und das ist das Entscheidende, was im Existentialismus oft zur Verzweiflung führt. Denn der Existentialist mag alle Geschichten und Interpretationen als bedeutungslos durchschaut haben, doch er ist immer noch eine Person. Wie gesagt, ich habe Sympathie für die Einstellung des Existentialisten, keiner vorgegebenen Deutung bzw. Glaubenshaltung folgen zu wollen, doch dann ist zugleich darauf hinzuweisen, dass da Niemand ist, der entscheidet, Existentialist zu sein oder nicht. Das ist einfach etwas, das geschieht.

In deinem ersten Buch „Erleuchtung – und was jetzt?“ antwortest du auf die Frage „Was geschieht nach dem Tod?“ mit einer Art Parabel, die ich erstaunlich finde. Jemand träumt, er habe mit einem anderen im Restaurant gegessen, der Kellner kommt mit der Rechnung, und in dem Moment ist der Traum zu Ende. Wer bezahlt nun die Rechnung? Diese Frage mache genauso viel oder wenig Sinn wie die Frage „Was geschieht nach dem Tod?“ Kannst du das etwas erläutern?
Der Punkt in dieser Analogie oder Metapher ist: Wenn wir sagen sollten, was nach dem Tod geschieht, dann ist das so wie zu sagen, was in einer Geschichte passiert, nachdem die Geschichte zu Ende ist. Die Frage ist schlicht unsinnig. Wer bezahlt meine Rechnung in einem Traum, der bereits zu Ende ist? Die Frage macht nur Sinn, wenn der Traum weitergeht, aber wir wissen, er ist zu Ende. Das Aufwachen am Morgen ist das Ende des nächtlichen Traums, und der Tod ist das Ende der Geschichte, die sich in unserem Tagesbewusstsein abspielt.
Alles klar?


Abb: © Mopic – Fotolia.com

Bücher von Richard Sylvester:
Wer braucht eigentlich Nirwana? Unkonventionelle Gespräche über Nicht-Dualität und Befreiung, Lotus-Verlag 2011

Das Buch Niemand: Gespräche über Nicht-Dualität und Befreiung, Lotus-Verlag 2009

Erleuchtet – und was jetzt?, Lotus-Verlag 2007

 

Veranstaltungen mit Richard Sylvester
Vortrag mit Übersetzung am Mi, 8.5.13 um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Zenit, Pariser Str. 7, 10719 Berlin,
Tel.: 030 – 883 36 80. Vvk. 12 €, AK. 15 €.

Am darauf folgenden Wochenende, 10.5.-12.5.13, hält Richard in der Nähe des Alexanderplatzes „Talks“ in Englisch ohne Übersetzung.
Angaben über Ort, Zeiten und Preise bei Dorothee oder Giorgio Rossi unter Tel.: 030-301 55 55 oder rossi_smiles@gmx.de

Eine Antwort

  1. Devi

    Ich versteh es nicht.

    Und wie hilft mir das jetzt weiter. Was muss ich tun/nicht tun, um erleuchtet zu werden. Ist das überhaupt das Ziel/der Sinn?
    Muss das so sein oder ist es letztlich egal, ob erleuchtet,/nicht erleuchtet / getrennt oder nicht getrennt (ganz) bzw. das Gefühl davon.

    Das Erkennen. Wie kann ich erkennen?
    Und wie steht das in Verbindung mit glücklich sein, Freude teilen und verbreiten können (natürlich auch mit den schlechten Momenten). Das sehe ich wohl als Lebensaufgabe für mich. Ist das falsch?

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