Impressionen zum Älterwerden von Nila Sebastian

Jeder will alt werden, aber keiner will alt sein. Doch statt kluge Worte über Anti-Aging, Methusalem-Komplott, Juvenalisierung der Alten oder Schlagworte wie: Alt sind immer nur die anderen zu verlieren, schreibe ich als Siebzigjährige über meine Erfahrungen mit dem Altwerden.
Mir wurde in meinem Leben so vieles geschenkt, für das ich dankbar bin, auch dafür, dass ich noch gesund und beweglich bin. Siebzig zu sein, ist für mich nur eine Zahl. Sicher bin ich nicht mehr jung, doch wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich nicht älter als achtzehn, obwohl seit damals fast dreimal so viele Jahre vergangen sind. Ein Freund schrieb auf seine von ihm eingespielte CD: Für Nila, deren Herz immer noch achtzehn ist.

Das Herz bleibt immer achtzehn. Wer geistig beweglich bleibt, gehört mit siebzig noch nicht zum alten Eisen. Nie aufhören zu lernen, singen Wolfgang Ambros und André Heller in dem Song Forever young in österreichischer Mundart.

Die vergangenen zehn Jahre meines Lebens kommen mir vor wie der September 2006. Voller Sonne, obwohl der Herbst naht. Jeden Morgen ging ich nach dem Aufstehen auf den Balkon, um zu sehen, wie viele Windenblüten sich geöffnet und ob Sonnenblumen und Malven neue Blüten hatten, der Tatsache gewiss, dass ihre Zeit bald vorbei sein würde.

Mit siebzig kann ich auf ein buntes Leben und einen reichen Schatz an Erfahrungen zurückblicken. Habe ich aus den Erfahrungen gelernt? Das Leben hat mir die Lektionen nicht immer sanft beigebracht. Oft hieß es: Wer nicht hören will, muss fühlen! So wie mich in der ersten Klasse meine Lehrerin mit dem Schieferkastendeckel auf die rechte Hand schlug, weil die Buchstaben wieder krumm auf den Zeilen der Schiefertafel herumtanzten. Aber gerade die Misserfolge und die schmerzlichen Erfahrungen brachten mich immer wieder auf die Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Wesentlichen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Da war dieser Tag im Mai 1945 kurz nach Kriegsende, an dem ich als Neunjährige eines Mittags am Fenster des kühlen Elternschlafzimmers stand und auf die von der Sonne beschienene Wand des gegenüberliegenden Hauses schaute. Ich fühlte mich seltsam fremd. Noch heute erinnere ich mich an dieses Gefühl völligen Verlassenseins. Woher komme ich? Wie komme ich gerade hierher? Warum habe ich ausgerechnet diese Eltern? Ich fühlte mich, als gehörte ich nicht zu meiner Familie.

Doch in meinem ganzen Leben begegneten mir Menschen, die mir beistanden, wenn ich mutlos war, oder die mir den Weg wiesen. Beispielsweise zur Primärtherapie, zum Life Skills Training, zum Tantra und zur Essenzarbeit mit Michael Plesse. Auch viele Bücher eröffneten mir neue Wege, wie das Buch von Gay Hendricks mit Meditationen für jeden Tag, das mich seit einigen Jahren begleitet. Als Vierzehnjährige nahm ich mir vor, niemals zu lügen, wenn ich nach meinem Alter gefragt würde. Diesem Vorsatz bin ich treu geblieben, und einen Tag vor meinem vierzigsten Geburtstag beschloss ich, mich nicht vor dem Älterwerden zu fürchten. Meine Großmutter hatte vierundachtzig Jahre gelebt. Hatte ich nicht auch mindestens noch vierzig Jahre meines Lebens vor mir? Warum nicht jeden künftigen Tag genießen? Und so war ich offen für alles Neue. Im Sommer genoss ich das Berliner Nachtleben rund um den Winterfeldtplatz, Die Ruine und den Dschungel (In-Kneipen), Romy Haag in der Fuggerstraße u.a.m., alles Orte, die nach mehr als dreißig Jahren kaum noch jemand kennt. Im September flog ich mit meinen zwei Söhnen und einem Freund das erste Mal nach Athen und dann ging’s mit der Fähre nach Naxos. Im Herbst spielte ich auf einer Laienbühne Theater, lernte 1978 meinen Mann kennen, begann 1980 zu malen, machte Schreibkurse und vieles andere mehr. Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen. Immer wieder taten sich neue Wege auf.

Wenn ich dann lese, dass eine heute Dreiundachtzigjährige sich fünfzehn Jahre Zeit ließ, drei Hauptwerke von Dostojewski aus dem Russischen zu übersetzen, und wie jugendlich Helmut Schmidt, unser ehemaliger Bundeskanzler, mit seinen siebenundachtzig Jahren noch ist, oder dass Barbara Rütting noch nicht daran denkt, ihren Lebensabend zu genießen, nimmt mir das die Angst davor, nicht mehr alles zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe.

Oft war und bin ich in Trainings und Workshops die Älteste. Diesen Sommer habe ich zum dritten Mal an einem Kurs für politisches Theater in der Villa Fohrde bei Brandenburg teilgenommen. Dort treffen sich Menschen jeden Alters aus Ost und West und haben mehr Spaß als in den ihnen gemäßen Altersgruppen.
Amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass bei Menschen ab sechzig schlechte Laune angeblich die Aufmerksamkeit erhöht und die Gutgelaunten weniger intelligent sind. Das mag sein, aber ich weiß, dass man mit Freundlichkeit weiter kommt und Lachen gesund ist.

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