Was vom #Aufschrei bleibt…

Deutschland in einer Januarnacht 2013. Es ist 0.26 Uhr, als Anne Wizorek (@marthadear) auf Twitter vorschlägt, Erfahrungen zum Thema Alltagssexismus unter dem Hashtag (Stichwort) „#Aufschrei“ öffentlich zu sammeln. Sie bringt damit eine Welle in Gang, die innerhalb weniger nächtlicher Stunden Twitter erfasst, dann durch das deutschsprachige Internet rollt, schließlich sogar in den traditionellen Medien nicht zu ignorieren ist und für einen Moment lang in ganz Deutschland unsere Kultur des kollektiven Schweigens erzittern lässt.  Shermin Arif über das Märchen von der Gleichberechtigung.

 

Hunderte von Frauen saßen plötzlich vor ihren Rechnern und Handys und trauten sich – oft zum allerersten Mal in ihrem Leben – offen über ihre Erfahrungen mit alltäglichem Sexismus zu sprechen. Der nette Onkel, der einen unbedingt mit nach Hause nehmen will. Der Nachbarsjunge, der einen auf seinem Schoß festhält und mit seinem schrecklichen Atem zu nahe kommt. Der Junge, der einem auf dem Heimweg plötzlich an die Brust fasst, brüllt „Ey, Sie haben geile Titten!“ und auf seinem Rad weiterfährt. Der Bekannte, der ein „Nein!“ nicht akzeptiert hat. Der Chef mit der Libido eines Rockstars, der zu aufdringlich wird und einen beruflich auf ewig als frigide Zicke abstempelt.

Alltägliche sexistische Sprüche, Gepöbel, Herabwürdigungen, Gegrabsche, Übergriffigkeiten, Nötigungen und auch Vergewaltigungen wurden plötzlich sichtbar im öffentlichen Raum und konnten in dieser geballten Form nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Die Bandbreite ist riesig und zeigt eben auch schonungslos auf, dass der Begriff der Gleichberechtigung oft eher in die Märchenwelt gehört und dass Sexismus ein fröhliches Machtspiel ist, das sich quer durch unser Land, jegliche Gesellschafts- und Altersschichten und die saubere deutsche Arbeitswelt zieht.

Der Herrenwitz…
Unter anderem ausgelöst wurde diese sich spontan im Internet entwickelnde Aktion durch ein – wegen des Zeitpunkts der Veröffentlichung von vielen kritisch betrachtetes – Portrait der Journalistin Laura Himmelreich über den FDP-Politiker Rainer Brüderle, in dem sie auch sein sexistisches Verhalten ansprach. Ein Blick auf die Wortmeldungen zu #Aufschrei machten aber schnell deutlich, dass der Artikel lediglich der katalysatorgleiche Anlass war, um ein schon lange vor sich hin schwelendes Problem aufzudecken.

Geschrei wegen Kleinigkeiten
Neben all der Unterstützung, die #Aufschrei erfährt, gibt es leider auch viele Stimmen, die die Aktion als bloße Hysterie und Geschrei über Nichtigkeiten abtun. Ein beängstigendes, teilweise regelrecht hassbeseeltes Selbstverständnis ewig Vorgestriger, das einen betroffen-fassungslos zurücklässt.

Unverständnis zeigt sich auch oft in Reaktionen des familiären Umfelds auf Sexismus. Sätze wie „Stell dich nicht so an!“ oder „Das war doch gar nicht so schlimm!“ sind leider oft an der Tagesordnung. Und schon kleinen Mädchen werden von ihren Müttern Ausweichstrategien beigebracht, zusammen mit der Haltung „Das ist halt so. Da kann man nichts machen!“ Doch. Kann man. Muss man. Es kann doch in unserer Gesellschaft etwas nicht stimmen, wenn wir den Opfern Vermeidungsstrategien antrainieren und die Handlungen der Täter durch Hinnehmen weiter sanktionieren.

Aber Männer sind halt so….
Nein, sind sie eben nicht. Männer haben deutlich mehr drauf, als sich wie hormongeflutete Halbaffen aufzuführen. Das Berufen auf steinzeitliche Verhaltensweisen ist einfach nur eine billige und sehr bequeme Ausrede – mit der man(n) sich zudem auch noch selbst als triebgesteuerter Neandertaler klassifiziert. Gott sei Dank solidarisieren sich sehr viele Männer mit #Aufschrei. Viele davon realisieren aber jetzt zum ersten Mal das wirkliche Ausmaß dessen, was jede Frau oft schon im Kindesalter erleben darf.

Darf man jetzt nicht mal mehr flirten?
Doch. Flirts sind schön. Sex ist toll. Und beides ist – in beiderseitigem Einvernehmen – natürlich ausdrücklich erlaubt. Aber jedem – auch denen, die über die verunsicherte Rolle des modernen Mannes, der in ständiger Angst vor der starken Frau lebt, referieren – sollte der Unterschied zwischen einem netten „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“ und einem ungefragten Griff an den Busen klar sein. Falls nicht, ist dies ein ernsthafter Indikator, doch dringendst mal professionelle Hilfe aufzusuchen.

Ist der #Aufschrei nur für Frauen?
Nein. Jeder Mensch, egal ob weiblich, männlich oder transgender, hat seine Würde. Wird diese beschädigt, muss dagegen angetreten werden. Der #Aufschrei ist ein Akt der Bewusstmachung, der Achtsamkeit, der Sensibilisierung. Niemand ist frei von Fehlern. Das ist normal. Das ist menschlich. Aber es muss uns bewusst sein. Wir müssen – als Teil einer sich weiter entwickelnden Gesellschaft – unser Bewusstsein für solche Ungerechtigkeiten, Herabwürdigungen und Übergriffe schärfen, aus unseren Fehlern lernen und uns gegenseitig mit Respekt begegnen. Denn wir erschaffen mit unseren Handlungen unsere Realität jeden Tag neu.

Links:
www.alltagssexismus.de
www.maedchenmannschaft.net
www.maedchenblog.blogsport.de
www.wildwasser.de
www.frauen-gegen-gewalt.de
www.frauennotruf.de

Über den Autor

Avatar of Shermin Arif

ist studierte Germanistin, Sozial- & Geschichts­wissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin als freie Journalistin, Redakteurin, Autorin, Texterin, Foodbloggerin, magische Kesselguckerin, kulinarische Diva und Kunsthandwerkerin.

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Eine Antwort

  1. Kristina

    Ich finde, dass Sexismus ein erfundenes und von den Medien aufgebauschtes Problem ist, um beide Geschlechter in Streitigkeiten und uferlose Debatten zu verwickeln und Menschen von wichtigen Sachen abzulenken, vielleicht sogar von der Familienplanung abzuhalten.
    Dieser scheinbare Geschlechterkampf ist ein billiger Stoff für diverse Kampagnen, und lukrative Geschäfte für viele politische, psycho-soziale und juristische Unternehmen. (Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.)

    Weder ich noch irgend eine Bekannte war von angeblichem Sexismus ernsthaft betroffen. Eine attraktive Freundin hat zwar einige male behauptet von einem verheirateten Mann „angemacht“ zu werden, hat sich aber stets unnötig in seine Nähe begeben und sich auf billige Floskeln eingelassen.
    Nach klärendem Gespräch hat meine Freundin gestanden, dass der Mann den gleichen Grund zur Annahme hatte von ihr begehrt bzw. angemacht zu werden.

    So kommen viele Sexismusvermutungen aus Missverständnissen und oft werden sie von Frauen selbst konstruiert und provoziert um Aufmerksamkeit zu erregen.
    Viele Frauen geben sogar öffentlich zu, dass sie sexistische Bemerkungen geniessen und diese sogar als Komplimente oder zumindest als Witz auffassen.
    Viele Frauen missbrauchen sogar ihr Sexpotential aus finanziellen Gründen und
    um im Wettbewerb zu bestehen und zwar sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen.
    Was mich persönlich am meisten empört ist die öffentliche Vermarktung der Frau oft sogar mit Nacktheit und Vulgarisierung (in der Werbung, Medien, Film, Mode), worüber sich aber keine einzige Feministin und kein Ethikapostel aufregt.
    Ich stelle hier die Frage, warum unsere Gesellschaft es vollkommen ignoriert, dass die Vermarktung und Vulgarisierung von Sex und Frau, destruktiv und schutzlos auf Kinder und Jugendliche wirken und damit erst recht alle denkbaren gesellschaftlichen Probleme erschaffen.
    Vieles läuft hier verkehrt, wenn in unserem reichen Land trotz garantierter Menschenwürde (Art.1 GG) die Finanzmittel öfters für zerstörerische Arbeit,
    für Demoralisierung für diverse Prostitutionsformen und anschließend für angebliche Therapien fliessen, anstatt gleich für bedingungsloses Grundeinkommen

    Statt populistischen Sexismusdebatten, sollten wir genau schauen wo tatsächlich Unrecht geschieht und jegliche Bevormundung, Mobbing und Hetzjagd unterlassen.

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