Das Spiel der Aufmerksamkeit 1. Juli 2008 Bewusstsein 1 Kommentar Wir alle suchen. Versuchen unser Leben so zu verändern, dass wir glücklich und zufrieden sind. Doch genau all diese Versuche führen uns in die Irre, weil wir damit Druck auf uns selbst ausüben, uns nicht einfach sein lassen, wie wir sind. Im Interview spricht der spirituelle Lehrer Florian ‚Tathagata‘ Schlosser darüber, wie einfach der Weg zum Wohl-Sein im Grunde ist: Es braucht nur ein wenig Aufmerksamkeit. Aber eben nur ein wenig. Über das Spiel der Aufmerksamkeit. Sein: Manche spirituellen Lehrer sagen: Wenn du dabei stehen bleibst, dass es keinen freien Willen gibt und nichts tust, um weiterzukommen, dann hängst du fest. Muss ich also doch etwas tun? Florian: Das mit dem freien Willen ist eine heikle Angelegenheit. Die Realität ist folgende: Bewusstsein, Gewahrsein ist hier, denn wir sind uns ja dessen gewahr, was gerade ist. In diesem Gewahrsein spielen sich ständig unbewusste Muster in unserem Nervensystem ab. Diese Muster sind nicht wir. Wenn so ein Muster sich in unserem Körper ausspielt, haben wir keine andere Chance, als es zu leben. Das ist die Natur eines unbewussten Musters. Was wir noch wissen, ist: Dieser Moment ist eine Erfahrung in unserem Körper, unserem Nervensystem, in dem sich diese Muster abspielen. Und: Wir haben die Kapazität, Aufmerksamkeit zu geben und Aufmerksamkeit zu empfangen. Diese drei Bestandteile: Bewusstsein, die Erfahrung von Jetzt, also die sensorische Erfahrung im Nervensystem, und die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu geben und zu empfangen, können wir Realität nennen. Mehr existiert nicht. Die Idee des freien Willens ist, dass wir eine Wahl haben, anders zu funktionieren als wir funktionieren. De facto funktionieren aber nicht einmal wir, sondern unser Nervensystem funktioniert für uns die ganze Zeit. Aber das Nervensystem ist vollkommen unschuldig, weil es nicht weiß, dass es funktioniert. Es funktioniert wie ein Tonbandgerät: Was es bekommen hat an Information, das spult es die ganze Zeit ab. Ist es denn keine Wahl, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenke? Ein Teil des unbewussten Musters ist, dass dann, wenn unser Körper unbewusst anspannt – und das macht er eigentlich die ganze Zeit, ohne dass wir es mitbekommen –, das Muster den Fokus unserer Aufmerksamkeit qualitativ verändert. Wenn der Körper sich sehr stark anspannt, dann zieht sich die Aufmerksamkeit ähnlich eines Schließmuskels zusammen und fängt an zu fokussieren. Dieser enge Fokus ist sehr exklusiv, das heißt, er schließt alles andere aus, und nur das, was uns im Lichte der verengten Aufmerksamkeit erscheint, ist für uns präsent. Gleichzeitig wirkt dieser enge Fokus wie eine Lupe. Wenn wir fokussieren, dann zieht das die Wirklichkeit, das, was wir fokussieren, an uns heran und es erscheint viel größer und mächtiger, als es ist. Das heißt, selbst der Fokus der Aufmerksamkeit ist ein Teil des unbewussten Musters, nämlich der Anspannung. Wenn dem Körper erlaubt wird, gespeicherte Spannungen bewusst zu entladen, dann folgt die Aufmerksamkeit dieser neuen Weite des Nervensystems und wird ganz natürlich noch weiter. Wenn du entspannst, fängst du an, viel mehr wahrzunehmen. Wir hören, sehen, riechen, fühlen mehr von der Wirklichkeit und das ganze System bewegt sich in einen neuen Feedback-Loop, nämlich nicht Bedrohung (enger Fokus), sondern Weite, Öffnung, Integration. Teile der Aufmerksamkeit werden dann nicht als absolut, vergrößert und exklusiv erlebt. Wir können also sagen: Die Aufmerksamkeit folgt dem Organisationszustand unseres Nervensystems. Und das Nervensystem ist physisch, ist der Körper, bestehend aus zirka 50 Milliarden Zellen. Das heißt: Zunächst einmal haben wir, solange diese Funktionen im Nervensystem sich ausspielen, auch bezüglich der Wahl unserer Aufmerksamkeit keine Option. Entweder sie kontrahiert wie ein Schließmuskel, wirkt oft hart wie ein Hammer und lässt die Dinge bedeutsam, größer als sie sind und ausschließlich erscheinen, oder wir verweigern bestimmten Dingen völlig die Aufmerksamkeit, weil wir sie nicht ertragen oder wollen. Die erscheinen dann so, als wären sie gar nicht da. Wenn wir anspannen und dem Körper keine Aufmerksamkeit schenken, dann fühlen wir zwar die Anspannung nicht, aber das heißt ja nicht, dass sie nicht da ist. Der Körper funktioniert trotzdem unentwegt auf diesem erhöhten Stresspegel. Wenn wir uns mit Kino oder was auch immer ablenken, dann verlagern wir künstlich die Aufmerksamkeit, damit das, was unten drunter passiert, möglichst nicht empfunden wird. Wenn beides nicht mehr funktioniert, nehmen viele Menschen zum Beispiel Pillen oder Drogen oder erschaffen andere trance-ähnliche Zustände, um sich zu betäuben, um die mannigfaltigen Stresszustände im Nervensystem unfühlbar zu machen. Nur noch mal, damit es mir klar ist: Die Anspannung des Körpers ist das erste, was da ist, sie ist der unbewusste Wille. Es gibt nur einen Willen, und das ist der Wille der Anspannung, und die Anspannung gehört nicht dir. Die Frage ist nun: Wie komme ich aus der Anspannung raus, denn sie entsteht ja jenseits meiner Einflussmöglichkeit? Die Frage ist nicht: Wie kommst Du aus der Anspannung raus, sondern: Wie entspannt sich der Körper? Wie kann der Körper Stressenergie entladen, sodass das Gefühl von Entspannung entsteht? Denn DU bist schon entspannt. Was nicht entspannt ist, ist der Körper. Das ist das, was den meisten Leuten auf dem spirituellen Weg entgeht. Die Frage ist: Was befreit die Aufmerksamkeit aus ihren unbewussten, von Anspannung angetriebenen Bewegungen? Was es dafür braucht, ist ein natürlich funktionierendes Nervensystem, weil das Nervensystem – wie schon erwähnt – unmittelbar mit der Bewegung der Aufmerksamkeit verbunden ist. Allerdings hat es bisher funktioniert, ohne dass wir bemerkt haben, was genau im Bewusstsein und Körper abläuft. Wie komme ich jetzt also wieder in den entspannten Zustand eines Babys? Der Körper kommt nicht in den Zustand des Babys, er funktioniert bereits wie ein Baby. Er funktioniert vollkommen unbewusst und unschuldig. Frage mal deinen Körper, ob er weiß, was er tut. Der sagt: Ich habe keine Ahnung, ich mache einfach das, was ich schon die ganze Zeit gemacht habe. Wir haben höchstens ein Prozent Bewusstheit darüber, was in unserem Körper abläuft, der Rest funktioniert vollkommen automatisch. Selbst wenn der Körper anspannt. Denn wenn er anspannt, weiß er nicht, dass er anspannt. Nur das Bewusstsein bemerkt nach der Anspannung, dass sich ein Zustand verändert hat. Hat sich das Bewusstsein mit dem Körper verbunden und kann die Anspannung dadurch erkennen? Das Bewusstsein hat sich nicht mit dem Körper verbunden. Der Körper findet im Bewusstsein statt. Er ist im Bewusstsein enthalten. Er ist eine Manifestation von Bewusstsein. Wie müssen differenzieren zwischen Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Wenn wir jetzt hier sitzen, wirst du merken: Bewusstsein ist hier. Dieses Bewusstsein ist regungslos, ist still, es tut gar nichts. In diesem unbewegten Bewusstsein, in diesem Raum, taucht jetzt der Körper auf. Du bist dir bewusst, dass ein Körper, der gewöhnlich als ‚ich‘ bezeichnet wird, hier ist. Das ist Bewusstsein in Ruhe, in dem der Körper beginnt, ganz normal aktiv zu werden. Aufmerksamkeit ist Bewusstsein in Bewegung, ist bewegtes Bewusstsein. Wenn ich dir Aufmerksamkeit gebe, dann gebe ich dir Bewusstsein. Ich werde mir dessen, wem oder was ich Aufmerksamkeit gebe, bewusst. Aufmerksamkeit ist Bewusstsein in Aktion, während Bewusstsein in Ruhe nur empfängt oder den Raum zur Verfügung stellt. Jetzt stellt sich die Frage, wie wir diese Qualität von Bewusstsein in Aktion, die bisher meist ein enger, harter Fokus und dysfunktional war, so verändern können, dass der Fokus wieder weit wird. Der erste Schritt ist zu sehen, dass bei nichts von dem, was jemals geschehen ist, du gehandelt hast. Keine einzige Handlung in deinem Leben hast du vollbracht, sondern es waren unbewusste Muster im Nervensystem, das einfach das gemacht hat, was es gelernt hat. In dem warst Du die ganze Zeit vollkommen unschuldig. Ich als Ich oder ich als Bewusstsein? Lass es uns noch einmal ansehen: Es gibt Bewusstsein. Im Bewusstsein taucht der Körper als Nervensystem auf, das Erfahrungen hat. Das ist alles, was existiert. Du bist in dem überhaupt nicht da. Die Idee von ‚Du‘ entsteht als Konsequenz von Anspannung. Denn wenn du angespannt bist, ist da deutlich mehr von einem ‚Ich-Gefühl‘, als wenn der Körper entspannt ist. Das heißt: Was du bist, was dieses Ich-Gefühl ist, ist Anspannung. Und diese Anspannung hast du nie frei gewählt, sondern es ist eine Funktion des Nervensystems – wo immer die auch herkommt. Ein Ich-Gefühl zu haben ist eine automatische, unbewusste Reaktion des Nervensystems, die sich als Anspannung zeigt. Das ist alles. Also: Wir befassen uns hier nicht mit einem ‚Ich‘. Mit was wir es zu tun haben, ist Bewusstsein, in dem das Nervensystem als automatischer Ablauf auftaucht. Und dieser Ablauf ist nicht zuordnebar, weil niemand weiß, warum dein Nervensystem so funktioniert. Die Psychologen haben herauszufinden versucht, warum es so ist. Die Buddhisten nennen es Karma – aber all das sind letztlich nur Modelle. De facto wissen wir nicht, warum unser Nervensystem in diesem Augenblick anspannt. Keine Ahnung. Du weißt nicht einmal, welcher Zellverbund genau im Nervensystem dafür verantwortlich ist. Wie sollen wir jemals herausfinden, wo der Ursprung ist? Deshalb drehen viele Menschen fast durch, je mehr sie versuchen, das heraus zu finden. Was wir in diesem Moment haben, ist Bewusstsein plus eine bestimmte Organisation des Nervensystems, die in diesem Augenblick aktiv ist. Wie die Aktivierung erfolgt, ist von unendlich vielen Faktoren abhängig, von Umwelt, Sinneswahrnehmungen und der Art und Weise, wie viel Stress im Nervensystem gespeichert ist – dieser Stress definiert nämlich, wie ein Sinneseindruck, wie dieser Moment wahrgenommen und verarbeitet wird. Und aus der Zusammensetzung dieser Faktoren in einem Individuum resultieren die vielen Erklärungsmodelle von Kindheit über frühere Leben bis Karma. All das brauchen nicht, denn alles, was wir haben, ist dieser Moment, in dem das Nervensystem jetzt gerade aktiv ist. Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, an dem sich etwas verändern kann. In der Regel schenken wir der Organisation unseres Nervensystems in diesem Moment kaum Aufmerksamkeit. Wir schenken den Reaktionen Beachtung, nämlich dass wir hektisch oder unruhig werden und uns anspannen, und versuchen auf dieser Erscheinungsebene, das Leben in den Griff zu bekommen. Wir bemerken aber nicht den Moment, in dem das Nervensystem sich plötzlich umorganisiert. Es organisiert sich ja eh‘ von Moment zu Moment um, weil es ständig dynamisch auf den Moment reagieren muss, auf die Einflüsse, Sinneswahrnehmungen, Lichtverhältnisse, Temperatur usw. Ununterbrochen richtet es sich von Moment zu Moment aus auf das, was gerade geschieht. Nur kriegen wir das meistens nicht mit. Was wir bemerken ist, dass der Körper sich in bestimmten Situationen oft schockartig zusammenzieht und von dort aus anfängt, bestimmte Muster auszubilden. Anspannung bewirkt, dass der Fokus aus dem Körper in den Kopf geht und der Verstand Erklärungsmodelle entwirft. Also, was kann man tun? Die Möglichkeit ist, in diesem Augenblick der Organisation des Nervensystems, wie es in diesem Moment verkabelt ist, einfach ein wenig Aufmerksamkeit zu geben. Das ist kein Fokussieren auf einen bestimmten Teil. Das wäre dann ein therapeutischer Zugang. Sondern du bemerkst ganz einfach, was da ist, ohne den Fokus willentlich an etwas festzuhalten oder auszurichten. Weil wir sowieso in Wirklichkeit nur Bewusstsein, leeres, absichtsloses Bemerken sind. Ja. Es ist, wie wenn du dein Nervensystem, deinen ganzen Körper als Momentaufnahme empfängst. Die wird sich im nächsten Augenblick verändern, aber das spielt keine Rolle. Dieses kleine bisschen Aufmerksamkeit ist wie ein Kuss. Wenn du sie aber fragmentarisch ausrichtest, also dich auf einen Teil konzentrierst, ist es bereits wieder im Fokus. Du vergisst den Rest, erhältst nie ein Gesamtbild und bleibst ständig in dieser gewohnten Anspannungs-Schleife gefangen. Wirkliches Empfangen dessen, was ist, ist nur dann möglich, wenn kein Fokus stattfindet. Jede Form von Fokus ist schlussendlich Aktion, Spannung aus einem ‚Ich-Gefühl‘ heraus. Der Körper reagiert auf die offene Form der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Weise. Bewusstsein ist da und begegnet der Aktualität dessen, was passiert – ohne Filter, ohne Interpretation, ohne Gedanken. Einfach nur auf Empfang geschaltet. Schau einfach mal hin: Was sagt dein Körper dazu? Und wie verhält sich jetzt die Aufmerksamkeit? Was passiert mit der normalen Tendenz der Aufmerksamkeit, entweder zu fokussieren oder wegzugehen? Irgend etwas wird weiter. Ganz genau. Hast du das gemacht oder ist das eine natürliche Reaktion? Das ist natürlich. Ja, und das ist alles. Immer wieder. Von Moment zu Moment zu Moment… Bewusstsein ist hier, dein Nervensystem empfängt das Jetzt als multisensorischen Ablauf in sich selbst. Die Aufmerksamkeit beginnt sich diesem natürlichen Hier-Sein zuzuwenden, das Leben sammelt sich im Moment. Und das machst du die ganze Zeit. Es geschieht ununterbrochen. Ist das nicht anstrengend? Das fragt der Verstand. Aber was ist denn die tatsächliche Erfahrung deines Körpers? Bist du jetzt angestrengt, während es geschieht? War da überhaupt ein Gedanke an Anstrengung da? Nein. Genau, null. Im Augenblick des Geschehens von Moment zu Moment ist noch nicht einmal ein bisschen Zeit für den Gedanken von Anstrengung. Nur wenn du dich abspaltest davon – und das versuchst du jetzt im Nachhinein. Aber vergisst du es nicht auch immer wieder? In Wahrheit vergesse ‚Ich‘ gar nichts. Es ist das Nervensystem, das vergisst. Und das Bemerkenswerte daran ist: Je mehr das Nervensystem durch das, wie wir gerade innerlich sind, entspannt und weiter wird, desto mehr sagt es mir: „Das ist genau das, was ich mag. Es fühlt sich gut an. Du lässt mich in Frieden, und gleichzeitig siehst du mich.“ Das ist ja wirklich wie bei einem Baby, das im Grunde zwei Dinge nicht mag: Vernachlässigung, also absolut keine Aufmerksamkeit, kein Gehaltenwerden zu bekommen oder Druck, also eine Nichtachtung seiner natürlichen Grenzen in jeder Form. Ja, es ist wirklich wie bei einem Baby: Du gibst ihm Aufmerksamkeit, aber du bedrängst es nicht. Das Bemerkenswerte ist: Unser Nervensystem lernt nur, was es liebt. Kürzlich habe ich ein Forschungsergebnis zugespielt bekommen, wie Kinder lernen. Das Ergebnis ist: Woran Kinder kein Interesse haben und was sie nicht lieben, lernen sie nicht. Weil das Nervensystem am meisten liebt, wenn es zufrieden gelassen wird wie ein Baby, erinnert es uns die ganze Zeit und sagt: „Ich will mehr davon haben.“ So wie vorher Stress ein sich selbst generierender Ablauf war: Anspannung, enger Fokus, Denken, mehr Stress, Anspannung, enger Fokus, mehr Denken – so ist es jetzt nichts weiter als ein anderer, tatsächlich neuer Kreislauf: Entspannung, weiter Fokus, nichts geschieht, noch mehr Entspannung, weiterer Fokus usw. Es ist einfach nur eine – wenn du so möchtest – neue Gewohnheit. Das ist alles. Im Laufe der Jahre habe ich volles Vertrauen in mein Nervensystem bekommen, weil es diesen neuen Kreislauf entwickelt hat. Es ist tatsächlich eine zelluläre Umwandlung. Dieser Organismus funktioniert ganz anders als er vorher funktioniert hat. Wie er sich umgewandelt hat, liegt an der Qualität und nicht zuletzt auch Quantität von Aufmerksamkeit, denn: Aufmerksamkeit ist Leben. Das Nervensystem ist ein lebendiger Organismus. Wenn es keine Aufmerksamkeit bekommt – also Leben – stirbt es. Es gab grauenvolle Experimente, bei denen Babys den Eltern weggenommen und für Tage oder Wochen isoliert wurden, also keine Aufmerksamkeit erhalten haben. Alle sind innerhalb kürzester Zeit gestorben oder autistisch geworden. Unser Nervensystem braucht Leben. Selbst Buddha ist wieder aus der Askese zurückgekehrt, weil er erkannte, dass extremes Nach-Innen-Gehen nicht funktioniert. Es ist letztlich ein knallharter Fokus. Auch nur Nach-Außen-Gehen, also dir gar keine Aufmerksamkeit schenken, funktioniert nicht. Was funktioniert ist, jeden Moment neu zu erforschen, welche Qualität und Quantität von Aufmerksamkeit ‚das Baby‘ benötigt. Worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, das lebt also. Wenn ich dir Aufmerksamkeit schenke, gebe ich dir in der Tat einen Augenblick Leben. Wenn du einem Körperteil Aufmerksamkeit schenkst, der vorher taub war, wird er lebendig. Du beginnst ihn zu fühlen. Und, wie wir vorhin gesagt haben, ist Aufmerksamkeit ruhendes Bewusstsein in Aktion. Also: Bewusstsein ist Leben. Aufmerksamkeit schenkt sich selbst dem Körper. Dadurch werden Zellen im Körper lebendig und organisieren sich neu. Denn im Stress sind sie potentiell schon tot. Sie funktionieren nur noch wie ein Roboter. Die meisten Menschen funktionieren – und auch das ist nur ein unbewusstes Muster – wie Roboter, ohne viel Leben ins sich. Der Körper ist oft kalt und leblos, ist unfähig, eine gesunde Balance zwischen Handlung und Entspannung aufrecht zu erhalten. Er macht einfach immer weiter wie eine Maschine. Er existiert, aber er lebt nicht. Die meisten von uns existieren eigentlich nur. Nicht, weil wir etwas falsch machen, sondern weil unser Nervensystem auf einem Energieniveau funktioniert, das gerade so das Überleben des Organismus sichert, mehr nicht. Dazu braucht es nicht viel: Ist das Überleben in Gefahr, gibt es nur Verteidigung oder Flucht. Das sind die beiden rudimentären Reaktionen, die das Überleben des Körpers sichern. Und die meisten Menschen funktionieren nur so. Wenn das nicht mehr möglich ist, bildet das Nervensystem eine dritte Option aus: Es schaltet um auf tot. Gejagte Tiere beispielsweise stellen sich zum Schutz vor einem Angreifer kurzfristig tot. Das ist ähnlich einem eingefrorenen Zustand, in dem die meisten von uns oft ihr ganzes Leben hängen bleiben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Körper eine Qualität von Aufmerksamkeit erhält, die ihm die ersehnte Entspannung und Weichheit signalisiert. Ein harter Fokus hat genau die gegenteilige Wirkung. Das Nervensystem antwortet: „Das ist mir zu viel.“ Jedes Mal, wenn ich dem Nervensystem zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit gebe, teile ich ihm ja im Grunde mit: „So, wie du gerade bist, will ich dich nicht, so bin ich nicht bereit, dich anzunehmen. Und es ist mir egal, wie es dir geht. Alles andere auf der Welt ist mir wichtiger als du.“ Dieser Mittelweg des sanften Aufmerksamkeit-Gebens, sich dabei selbst zu empfangen, das ist wie einfach SEIN im Ganzen… …und zwar von Moment zu Moment. Es ist eine ganz andere Art zu leben. Es ist keine Formel oder Pille, die du einwirfst und dann sagst: „Okay, habe ich verstanden.“ Leben erfahren wir durch das Nervensystem, den Körper. Und zu spüren, wie viel Aufmerksamkeit das Nervensystem genau braucht, ist die Kunst. Wie Liebe machen, ein Tanz, ein Spiel. Die Beziehung zu meinem Nervensystem ist wie die einer Mutter und eines Vater zu ihrem Baby. Ich spüre genau hin, wie viel Aufmerksamkeit es braucht, damit es gesund ist und sich wohl fühlt. Das ist keine Frage des Tuns, sondern vor allem der Qualität, der Absichtslosigkeit der Aufmerksamkeit. Je mehr das Nervensystem von dieser gesunden – moderaten – Aufmerksamkeit bekommt, desto mehr gesundet es auf natürliche Weise. Denn nochmal: Aufmerksamkeit IST Leben. Du gibst ihm Leben. Und Leben bewirkt: Es erwacht. Bemerkst du in Dir immer noch Verspannungen und Verhärtungen? Natürlich, aber das ist nicht meine Härte. Es sind einfach unbewusste Muster im Körper, die sich plötzlich ausspielen. Keine Ahnung, wo sie herkommen. Keine Ahnung, was sie bedeuten. Keine Ahnung, was sie mir sagen wollen, aber sie sind deutlich fühlbar. Das einzige, was der Körper mir sagt ist zum Beispiel: „Upps, das war ein bisschen zu viel.“ Oder wenn ich nichts fühle, weiß ich: „Upps, das war jetzt zu wenig.“ Er funktioniert tatsächlich wie ein Baby. Und ich als Bewusstein empfange letztlich nur das Feedback des Babys. Es sagt mir von Moment zu Moment, ob es zu viel oder zu wenig ist. Durch dieses Gefühl, in Vollkontakt mit ihm zu sein, fängt das Baby an sich wohl zu fühlen. Der Körper ist gesund und kann unmittelbar in angemessener Art und Weise auf den nächsten Augenblick reagieren. Wenn ich es richtig verstehe, heißt das: Was wir ‚ich‘ nennen, ist lediglich eine bestimmte Organisation des Nervensystems und die ist und war schon immer unschuldig wie ein Baby? Ja, das Nervensystem ist und hat die Unschuld eines Babys. Eigentlich ist es ein hochsensibles Rückkopplungs-System, das selbstverstärkend wirkt: Wenn es mir gut geht, dann suche ich das Gefühl immer wieder. Wenn es mir schlecht geht, verschließe ich mich. Mit dem Körper haben wir also das perfekte Biofeedback-System, nur hören wir bisher nicht drauf. In unserem Kulturkreis ist es immer noch nicht weit verbreitet, dem Körper die stimmige Qualität von Aufmerksamkeit zu schenken. Beispielsweise haben viele der zeitgenössischen spirituellen Wege ihren Ursprung in Asien, insbesondere Indien. In Indien hat traditionell-kulturell der Körper keinen Wert. Dort siehst du zum Beispiel jede Menge Krüppel auf der Straße, das interessiert überhaupt niemanden. Aus diesem Kulturkreis kommen auch Meditationen mit dem dritten Auge oder dem Imaginieren von Energiebahnen. Tatsächlich aber basieren die meisten davon auf dem willentlichen Lenken von Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich. Sie laden nicht das Empfangen dessen ein, was ‚das Baby‘ natürlich möchte. Die klassische ZEN-Meditation kommt dem von uns Besprochenen vielleicht am nächsten. Absichtsloses Empfangen ist ein vollkommen freier und natürlicher Ablauf, in den ich mich gar nicht einklinke oder einklinken muss. Und was war mit dem bekannten Weisen Ramana Maharshi, den die Maden nach seiner Erleuchtung fast aufgefressen haben, weil er nur noch in Meditation saß und sich nicht mehr um seinen Körper gekümmert hat. Nur am Anfang war das so. Später war er voll in seinem Körper. Deshalb wurde er auch als eine ‚Verkörperung der Wahrheit‘ bezeichnet. Es gibt viele Menschen, die nach dem Erwachen erst einmal völlig ausspacen. Bei mir war das auch zwei Jahre so, bis mich glücklicherweise die Realität eingeholte und ich bemerken durfte: „Oh, mir entgeht hier ein bisschen was.“ Diese Erkenntnis war zunächst sehr schmerzhaft, weil ich aus dieser ‚ach-so-schönen‘ Bliss-Blase, aus diesem Glückseligkeitsgefühl, wieder auf den Boden gefallen bin. Im Zen-Buddhismius – glaube ich – wird es ‚Fallen aus dem Paradies‘ genannt. Im Bliss ist es zwar erfahrungsgemäß wunderschön und das ganze System wird einmal so richtig durchgespült von altem Ballast. Die Wirklichkeit, die Wahrheit ist jedoch hier und jetzt. Noch mal zurück zur Aufmerksamkeit. Die Fähigkeit Aufmerksamkeit zu geben und zu empfangen ist doch auch eine Wahl: Ich kann es tun oder lassen. Jetzt diese bestimmte Entscheidung zu fällen, hast du auch nie freiwillig entschieden. Es trifft sich also in diesem göttlichen Bewusstsein das Nervensystem Jörg mit dem Nervensystem Florian… So ist es. Es trifft nicht Person 1 auf Person 2. Was hier passiert, hat nichts mit mir zu tun. Und es hat auch nichts mit dir zu tun. Während wir miteinander sprechen, fangen unsere Nervensysteme an auf allen erdenklichen Ebenen Informationen auszutauschen. Und diesen Vorgang bemerken ‚du und ich‘ – als Bewusstsein – ununterbrochen. Dann ist es Gnade, wenn ich einen Menschen treffe, der das Nervensystem Jörg in einen neuen Kreislauf einlädt. Stimmt. So gesehen ist unser Gespräch tatsächlich Gnade. Wir können es Gnade nennen oder weniger mystisch einen Rest von Gesundheit in jedem von uns, der Heilung anzieht oder sucht. Unser Nervensystem, auch wenn es zu 90 Prozent dysfunktional erscheinen mag, hat in sich ein Überbleibsel an Selbstheilungskräften, einen Rest, der gesund und intakt funktioniert. Der ist immer da. Wenn er nicht wäre, wären du oder ich schon gestorben. Dieser gesunde Teil sucht nun beständig nach Möglichkeiten, mehr davon zu bekommen. Wenn wir uns also begegnen, fangen jene Teile in uns, die gesund sind, an sich auszutauschen und aktivieren mehr von diesen Selbstheilungskräften. Auf dem Wege absichtsloser Begegnung kehrt das Nervensystem wieder zu seinem natürlichen, gesunden und integrierten Zustand zurück. Erst der eröffnet überhaupt die Möglichkeit, ausgewogen und frei – ganz einfach normal – zu leben. Wie hängt dieser gesunde Kreislauf im Nervensystem mit Erwachen zusammen? Wenn ich mich zum Beispiel in einem ungesunden Kreislauf der Anspannung befinde, erfährt sich das Nervensystem als getrennte Person. Je besser ich spüre, wie viel Aufmerksamkeit es jeweils benötigt, damit es entspannen und sich Weite einstellen kann, desto klarer sehe ich, dass ich bereits alles bin. Es kann gar nicht anders sein, weil ein enger Fokus immer exklusiv – ausschließend – auf die Person bezogen ist, ein weiter Fokus seiner Natur nach jedoch immer einschließend ist. Du stellst irgendwann fest: Mich gibt es gar nicht, sondern nur Nervensysteme, die im Bewusstsein, in diesem Raum miteinander kommunizieren. Wer das alles tut, wer dieses ganze Spiel erdacht hat? Ich weiß es nicht, denn ich bin ja ebenso nur ein Teil davon. Wenn ich mir anmaßen würde, das zu wissen, wäre es, wie wenn eine Figur auf einem Gemälde versuchen würde herauszufinden, was die Absicht seines Malers war. Das ist unmöglich. Auch gibt es überhaupt kein Interesse mehr daran. Das einzige, was mich interessiert, ist die Erfahrung des gegenwärtigen Moments. Es geht nicht darum, die Ursache für irgendetwas herauszufinden, weil wir die Ursache nicht wissen können. Es gibt wunderbare Theorien, aber kaum jemand weiß, was Wirklichkeit ist. Warum ein Nervensystem gerade auf eine spezielle Weise organisiert ist, wissen wir nicht. Wir wissen jedoch, dass es jetzt so ist. Und das genügt. So befasse ich mich nur mit der Wirklichkeit. Alles, was passiert, ist JETZT. Und je gesünder das Nervensystem ist, desto mehr Eigenschaften von Weite zeigen sich. Respekt, Toleranz, Liebe… … ja, und zwar ganz natürlich. Deswegen können wir das auch nicht kultivieren. Jedes Tun verhindert es regelrecht, denn das Nervensystem setzt sich durch Tun weiter unter Druck. Das einzige, was zu tun ist, ist von Moment zu Moment zu schauen, wie das Nervensystem gerade verkabelt ist, so dass wir jede Anspannung mitbekommen. Wenn du sie nicht mitbekommst, spielt sich das Muster aus und zieht den Fokus eng zusammen – und schon hast du das Gefühl, eine Person zu sein, die jetzt ein Problem hat usw.. Diese Bewegung ist alles, was je passiert ist. Der Fokus sagt immer: Ich spüre Anspannung und die will ich nicht haben. Das selbst ist schon ein Muster. In dem hast du gar keine Wahl. Eine Änderung geschieht also dadurch, dass jede Anspannung schon ganz zu Beginn bemerkt wird, so dass sie sich erst gar nicht als unbewusstes Muster, als Emotion oder Gedanke, manifestieren kann? Genau. Jeder Gedanke ist die Manifestation einer unbewusst Anspannung im Körper. Wenn der Körper wirklich entspannt ist, denken wir nicht viel, ist es nicht so? In vielen spirituellen Traditionen heißt es sinngemäß: Am Anfang was das Wort oder: Die Welt entsteht aus Gedanken. Du sagst aber: Am Anfang war die Anspannung, dann erst kommt der Gedanke. Die Welt entsteht nur aus Anspannung. Anspannung ist Energie und das ist Schöpfung. Ich kann doch einen Körper haben, der entspannt ist. In dieser tiefen Entspannung hört das Gefühl zu schöpfen auf. Was bleibt, ist Schöpfung, die aus sich selbst heraus erschafft. Das Erkennen ist, dass ES schöpft und immer schon geschöpft hat. Der Körper existiert aber trotzdem noch. Aber du kreierst ihn nicht. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit im Bewusstsein weg vom Inhalt der Erfahrung hin zu dem, was sich gewahr ist, ist die Bewegung von ‚mein Wille geschehe‘ hin zu ‚dein Wille geschehe‘. Solange Schöpfung aus Anspannung kommt, fühlt sie sich wie ‚deine‘ oder ‚meine‘ Schöpfung an. Diese Theorie von der Schöpferkraft der Gedanken wird zum Beispiel in der Esoterik gerne benutzt, um dem Ich die Allmacht zuzusprechen. Aber wenn der Körper entspannt, vergeht jegliches Interesse an diesem ich-zentrierten Schöpfungsprozess. Es gibt doch Sachen wie Magie oder die bewusste Manifestation eigener Wünsche, die durchaus funktionieren. Aber sie sind fast immer von unbewusster Anspannung, Angst und Stress, also Willen, angetrieben. Viele Magier beispielsweise waren psychotisch, wahnsinnig oder hatten ein hochgradig dysfunktionales Nervensystem. Außer das sie vielleicht gewisse Fähigkeiten besaßen, waren sie nicht frei und glücklich. Letztlich muss mal also wirklich nichts tun und das Weite-Sein scheint ganz einfach. Es ist auch einfach. Das Schöne daran ist, dass Menschen es gleich nachvollziehen können, weil es ihre eigene Erfahrung widerspiegelt. Es ist nun mal so. Du brauchst nur hinzuschauen. Es ist weder eine spirituelle, mystische, psychologische, therapeutische oder esoterische Deutung nötig. Da ist nichts zu deuten. Die Wahrheit ist schlicht. Der Zugang ist total einfach und hat sofort eine entspannende Wirkung, weil das Nervensystem den ganzen Ballast von Interpretation, persönlicher Schuld, Scham und Verantwortung ganz natürlich los lässt, ganz einfach, weil der Körper es liebt. Das Baby sagt: „Danke, dass du mir diese Last von den Schultern nimmst, die du mir über Jahrzehnte aufgebürdet hast.“ Und es bedankt sich mit augenblicklicher Entspannung. Alles unnötiger Stress, den kein Mensch braucht. Im Kern beginnt eine fundamentale Transformation eines dysfunktionalen Nervensystems hin zu gesundem, freiem Handeln und integriertem Sein. Du fängst an tatsächlich zu leben – und nicht nur zu existieren. Wie wichtig ist das Verstehen, dass es keinen persönlich Handelnden gibt? Ohne das Verständnis, dass es keine persönliche Verantwortung gibt, kannst du auch wirkliche Heilung vergessen. Ein dysfunktionales Nervensystem kann nie gesund werden, solange es von der Last persönlicher Schuld, Scham und Verantwortung erdrückt wird. Das ist der größte Stress im Nervensystem. Wie sieht es mit anderen Einflüssen aus, wie beispielsweise Actionfilmen: Sind die schädlich für das Entstehen eines weiten, sensiblen Nervensystems? Probier´ es aus. Setz´ dich hin und gib deinem Nervensystem die Gelegenheit, einen Actionfilm zu empfangen und du empfängst dabei das Feedback deines Körpers. Dann wirst du wissen, ob der Körper das zu diesem Zeitpunkt mag. Das kann im nächsten Moment schon wieder anders aussehen. Es gibt nichts, was irgendwie ausgeschlossen ist, was tabuisiert wäre. Was wir hier erforschen, ist keine Formel, keine Verhaltensanweisung. Was ich sagen kann ist: Je feiner du wirst, desto mehr merkst du, wie zum Beispiel Energien in Lebensmitteln. Es gibt nichts, was dir verborgen bleibt. Du spürst dann, ob das Stück Fleisch, was du isst, Stress beinhaltet hat. Und zwar dadurch, dass beispielsweise im gleichen Augenblick, in dem du das Fleisch isst, dein Nervensystem beginnt, unruhig zu werden. Gibt es etwas, das den Prozess der Verfeinerung, des Weiterwerdens, unterstützt? Das Nervensystem organisiert sich entsprechend seiner Umgebung. Die Neuorganisation funktioniert einfacher, wenn Menschen anwesend und Beziehungen da sind, weil das Nervensystem ja Aufmerksamkeit braucht. Wenn es mit anderen Menschen zusammen ist, bekommt es automatisch mehr Aufmerksamkeit. Deswegen funktioniert Isolation von der Welt letztlich nicht. Wenn Menschen zwei Stunden in einem Umfeld von Bewusstsein wie diesem hier sind, in dem sie nichts tun müssen und ich nichts von ihnen will, organisiert sich das Nervensystem unmittelbar und spürbar um. Mein Lehrer sagte einmal: „Wenn du nur ein paar Tage auf einem Retreat oder Ähnlichem bist, beschleunigt das der Reifungsprozess um den Faktor 10.000.“ Aber dass du dich dafür entscheidest – ob du Interesse hast, hierher zu kommen – liegt nicht in deiner Hand. Warum bringen Entspannungsmethoden nur partiell etwas bei diesem Prozess? Die meisten Methoden oder Techniken haben immanent zum Ziel, die Erfahrung von Jetzt zu verändern oder zu verbessern. Aber genau darum geht es ja gar nicht. Die Erfahrung, die wir haben, ist ja jetzt – in diesem Augenblick schon – hier. Leben = Erfahrung ist ja schon. Unsere Optionen der Einflussnahme sind somit mehr als gering. Was schon hier ist, ist nicht mehr zu ändern, nicht wahr? Das gleiche gilt auch für Entspannungstechniken. Im Augenblick, wenn allerdings wir als Bewusstsein die gegenwärtige Organisation des Nervensystems im Körper voll und ganz einschließen, geht von diesem einfachen Präsent-Sein eine ungeheuer friedliche Wirkung aus. Die einzig nachhaltig entspannende Wirkung, nämlich: Es ist jemand hier und mit mir da. Solange eine Technik oder Methode angewandt wird, ist einfaches Hier-Sein, Anwesend-Sein meist überlagert mit Tun, Verändernwollen, Üben, Anwenden und dergleichen. Aus Sicht des Nervensystems – der Unschuld des Babys – allerdings ist niemand ‚zu Hause‘. Es kann vielleicht kurzzeitig durch eine Methode zur ‚Ruhe gebracht‘, künstlich befriedet werden. In Frieden-Sein jedoch ist etwas vollkommen anderes. Es ist natürlich und ungewollt, die Frucht einfachen, mühelosen Präsent-Seins mit dem, was ist. Also entsteht Veränderung im Grunde allein durch Bewusstsein, durch das absichtslose Bemerken dessen, was ist? Das kann so sein, ist aber keine zwingende Schlussfolgerung, die ich so auch nicht ziehe und ist auch keine ‚Garantie‘ für Veränderung. Genau diese Schlussfolgerung beinhaltet ja wiederum den – wenngleich nun subtileren – ‚Samen von Hoffnung‘, dass sich dann halt auf diese Weise – durch Bewusst-Sein – etwas ändert. Und darum geht es nicht und – Gottseidank – so funktioniert‘s auch nicht. Ansonsten wäre ja Bewusst-Sein nur eine weitere Methode und Technik. Für mich stellt sich noch die Frage: Wie kann ich meinem Körper Aufmerksamkeit geben und mich dabei unterhalten, arbeiten oder etwas machen, bei dem ich meine Aufmerksamkeit auch noch auf etwas anderes richten muss als auf meinen Körper? Es ist weniger eine Frage des Wie. Die zielt ja letztlich wieder auf einen Weg, eine Methode oder Technik hin. Vielmehr ist das, worüber wir hier sprechen, eine Art zu leben. Leben heißt, wir wissen nicht, wie es geht, aber wir experimentieren von Moment zu Moment, was es braucht, um vollkommen in Einklang, in Balance, in Wohlempfinden zu sein. Unser Körper gibt dir – wie du ja schon gesehen hast – jeden Augenblick Feedback, ob du ‚zu Hause‘ bist, oder eben ‚abwesend‘. Je nachdem lässt er dich entweder Frieden, Sein, Liebe erfahren, oder aber er erinnert Dich: „Heh‘ mach mal langsam, sieh mich, empfinde mich, geh nicht drüber usw.“ Der Körper ist der beste Freund, den wir haben. Er lügt nicht. Wenn wir behutsam – nicht zielgerichtet -, sondern sanft gegenwärtig erforschen, welche Qualität und Quantität von Aufmerksamkeit er benötigt, nimmt die natürliche Kapazität präsent zu sein auch in alltäglichen Aktivitäten wie ‚unterhalten‘ stetig, ja unausweichlich zu. Nicht als Ergebnis von Disziplin und Übung, sondern als die Wirklichkeit gelebter Liebe, die ihrer Natur nach immer nur am Hier und Jetzt interessiert ist. Seit Jahren habe ich verstanden, dass der Kern spiritueller Reifung in der Selbstliebe liegt. Wenn ich mich nicht liebe, kann ich keinen anderen wirklich lieben. Und immer dachte ich: Wie soll ich mich selbst lieben? Ich fühle es einfach nicht. Jetzt wird mir gerade klar: Aufmerksamkeit geben ohne verändern zu wollen = Liebe. Ich muss nichts Besonderes können, ich muss nichts Spezielles fühlen, ich muss nichts machen, ich muss nichts wollen, ich muss nichts ändern. Ja, sobald du etwas verändern willst, liegst du im Kampf mit der Realität. Ich hatte schon vorher verstanden, dass es ums Annehmen, ums Ja-Sagen geht zu dem, was ist und was ich bin, aber irgendwie erschien mir das so schwierig. Jetzt siehst du es klar. Dieses Sehen – bewusst sein – geschieht immer nur Jetzt. Es ist Liebe. DAS ist alles, was existiert und Du bist DAS. Jetzt kannst Du Dich entspannen. Wie sieht es mit externen Helfern aus? Immer wieder höre und lese ich von wunderbaren Erfolgen bestimmter Therapien und Heilweisen. Heiler legen die Hand auf und Tumore verschwinden. Andere heilen nur durch die Kraft ihres Geistes. Wieder andere entstören Räume von Wasseradern und Gitternetzen oder vertreiben irgendwelche Geistwesen und Menschen gesunden. Sind das nicht eigentlich alles nur Projektionsflächen, denen wir Energie und Aufmerksamkeit geben, die wir uns auch direkt geben können? Wenn ja: Ist es sinnvoll, sich mit dieser Ebene zu befassen? Brauchen wir eigentlich Therapeuten und Heiler, die auf der Ebene der Projektionen arbeiten? Was geschieht da eigentlich, was machen diese Heiler und Therapeuten? Echte Heilung findet immer als Beiprodukt von Gewahr-Sein statt. Das lässt sich naturgemäss gar nicht verhindern. Im Bewusstsein finden verschiedenen Qualitäten und Quantitäten von Aufmerksamkeit statt, das heißt, Bewusstsein richtet sich beispielsweise auf einen ungesunden Teil des Körpers aus. Du erinnerst Dich: Aufmerksamkeit IST Bewusstsein in Aktion oder Liebe. Nun ist es möglich, dass im Bewusstsein bestimmte unbewusste Glaubenssätze oder Muster gesehen wurden. Ist das der Fall, steht nun dieser spezielle ‚integrierte‘ Teil dem jeweiligen Menschen bewusst zur Fügung und kann das selbe im Nervensystem eines anderen – wenn du so möchtest – initieren. Deshalb kannst du zum Beispiel jemanden nur so weit unterstützen, wie weit du selbst schon gegangen bist. Die Heilung selbst kommt aber nicht vom Heiler. Die Form des Aufmerksamkeit-Gebens regt lediglich die bereits vorhandenen Selbstheilungkräfte in einem anderen an. Je nachdem, wie empfänglich unser Nervensystem schon ist und ob wir an die Heilungskräfte glauben, desto effektiver wirken sie in uns. Es funktioniert eigentlich wie der Placebo-Effekt. Die Projektion ist nur die, dass wir ‚glauben‘, Heilung käme von aussen. Das kann entweder bei uns, aber auch seitens des Heilers passieren. Je klarer und freier wir von Glauben sind, desto projektionsfreier, direkter und unpersönlicher geschieht Heilung – am natürlichsten und in meiner Erfahrung am nachhaltigsten eben als Beiprodukt von einfachem, absichtslosem Bewusst-Sein. Und DAS sind wir ja schon. Somit kann ein echter Heilungs- oder Integrationsprozess – der den Job für uns macht – selbst iniitiert, aber vor allem stetig genährt werden. Wenn wir einer Projektion Aufmerksamkeit geben, dann geben wir ihr also damit Energie und Leben. Und je mehr Aufmerksamkeit wir ihr geben, desto mehr Kraft bekommt sie – bis hin zur materiellen Verwirklichung. Ja, Leben ist ein endloses Spiel von Aufmerksamkeit schenken und empfangen. Das ist Liebe. 1. Bild: © Christian_Wheatley-fotolia.com 2. Bild: © Jason_Stitt-fotolia.com Eine Antwort Birgit 27. November 2011 Vielen Dank für diesen sehr wertvollen Beitrag ! Antworten Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.