Die Wissenschaft und die medizinische Forschung suchen bis heute nach verallgemeinernden und objektiven Erkenntnissen. ›Je weniger Subjekt, desto mehr Objektivität‹ lautet das nicht ausgesprochene Credo. Der Forschungszweig der Epigenetik zeigt nun, dass die augenscheinlich selbe Krankheit vielmehr individuelle Ursachen hat wie auch individuelle Lösungsmöglichkeiten verlangt.

 

Ärzte wollen mit der ihnen zur Verfügung stehenden Medizin Krankheiten behandeln. Zur Interpretation dieser Krankheiten verwenden sie – oft unreflektiert – bestimmte Auffassungen vom Menschen, unterschiedliche Menschenbilder und verschiedene Krankheitsinterpretationen. Das können naturwissenschaftliche Zugänge zum Menschen und zum Phänomen der Krankheit sein, psychosomatische Annäherungen, homöopathische Konzepte, jene der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder auch jene einer – neu entdeckten – Traditionellen Europäischen Medizin. Hinter all diesen Zugängen stehen bestimmte Auffassungen vom Menschen und davon, was die Ursachen von Krankheiten sein können.

Gerade die aktuellen Erkenntnisse der Genetik, Epigenetik, Hirnphysiologie sowie der sogenannten »Pharmaco-genomics« haben den Blick auf Krankheiten nicht nur erneut geweitet, sondern führen geradezu zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin. War das bisherige Paradigma der naturwissenschaftlichen Medizin (und zum Teil auch der Psychosomatik) die Verallgemeinerbarkeit von Erkenntnissen, kommen jetzt immer mehr ganz individuelle Aspekte des Menschen in den Blick, die in jeder einzelnen Biographie anders sind.

Bei der Personalisierten Medizin kommt neben der Betrachtung der neuen Ganzheiten vor allem der einzelne Mensch mit seiner psychischen Ausstattung und insbesondere mit seinem Geistcharakter in den Blick. Und hier tauchen Fragen nach Spiritualität auf, Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn einer Krankheit oder dem »Warum gerade Ich?«. Der Einzelne kommt hier vor und die einzelne Biographie ist an diesem Punkt nicht mehr mit anderen Biographien vergleichbar. Deshalb gibt es bei Krankheitsinterpretationen Vergleichbares und Verallgemeinerbares, aber auch Nicht-mehr-Vergleichbares und je Individuelles. Hier treffen sich Naturwissenschaften, Psychologie und Geisteswissenschaften.

Naturwissenschaftlicher Hintergrund der Epigenetik

Die epigenetischen Zusatzinformationen liegen in der Embryonalentwicklung innerhalb des Genoms selbst zwischen den Genen, aber auch »außerhalb« in der Mutter-Kind-Beziehung. Diese Bereiche innerhalb des Genoms hat man bisher für »junk-DNA« (sinnloses Zeug) gehalten, also für Zwischenräume zwischen den Genen, in denen keine Information gespeichert ist. Inzwischen weiß man aber, dass diese Bereiche zwischen den Genen eine entscheidende Rolle bei der Verschaltung spielen. Beim Menschen nehmen diese Bereiche gegenüber den Tieren einen viel größeren Anteil ein. Das heißt, dass die Komplexität der genetisch-epigenetischen Verschaltungen beim Menschen viel größer ist als beim Tier. Mit dem Affen hat der Mensch etwa 99% gleiche genetische Grundausstattung, mit der Maus 98%. Entscheidend ist also nicht die genetische Grundausstattung, sondern die Komplexität der genetisch-epigenetischen Verschaltungen.

Da es hier um die seelischen Einfl üsse auf die genetischen Verschaltungen geht, sind Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie zu zitieren, dass auch das Innenleben des Menschen mit seinem Denken und Fühlen, das im Gehirn seine Repräsentanz findet, Einfluss auf die genetischen Verschaltungen hat. »Auch das Gehirn … nimmt direkten Einfl uß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden.« Ebenso spielen die Umwelt des Menschen und seine Beziehungen zu den Mitmenschen eine entscheidende Rolle für die Aktivierung und Inaktivierung von Genen und somit auf Gesundheit und Krankheit.

Zum Begriff der Seele

Das Prinzip der inneren Lebensdynamik, die den Embryo sich entfalten lässt, nannte die alte Philosophie »Seele«. Aristoteles beschreibt diese Seele als ein inneres Lebensprinzip, Ganzheitsprinzip und Formprinzip, das eben die Tulpe zur Tulpe formt, das Kaninchen zum Kaninchen und den Menschen zum Menschen. Das, was man heute von außen mit den genetisch-epigenetischen Verschaltungen zu erklären versucht und wofür man den Begriff der »In-forma-tion« verwendet, wollte die alte Philosophie in ganz andere Weise von innen her beschreiben.

Die mittelalterliche Philosophie eines Thomas von Aquin knüpft an die aristotelische an. Konnte Thomas von Aquin noch die Leib- Seele-Einheit des Menschen denken, bricht diese Einheit mit der Neuzeit auseinander. Im Zuge der weiteren philosophiegeschichtlichen Entwicklung trennt René Descartes den Menschen auf in einen Bereich des menschlichen Geistes (res cogitans) und der ausgedehnten Materie (res extensa).

Die Geiststruktur des Menschen und seine Ausrichtung auf das Absolute

Der Mensch ist ein Wesen des Geistes. Er hat Vernunft und Verstand, er kann über sich und die Welt nachdenken, er fragt auch über den Tod hinaus und ist – wie der Philosoph Hegel schon sagte – dasjenige Wesen, das immer schon im Raum des Absoluten steht, sonst könnte er das Relative nicht als Relatives erkennen. Der Mensch ist immer schon über sich selbst hinaus. Er fragt ständig nach dem Ganzen und ist dauernd durch Krankheit und Tod infrage gestellt. Er ist von den Instinkten her schlechter als die Tiere ausgestattet und muss sich die Welt mit seiner Vernunft und seinem Verstand erschließen und gestalten. Sonst kann er sich nicht zurechtfinden. Seine Gaben werden zu Aufgaben. Und so fragt er auch nach dem Sinn seines Lebens, nach dem Sinn des Lebens überhaupt, danach, was nach dem Tod kommt und warum es die Welt überhaupt gibt und nicht vielmehr nichts (Leibniz).

Außerdem kann er erkennen, dass die Welt asymmetrisch gebaut ist: Die Lüge ist Abweichung von der Wahrheit und nicht umgekehrt, das Unglück vom Glück, die Ungerechtigkeit von der Gerechtigkeit. Der positive Aspekt ist der Maßstab. Um etwas als Lüge zu deklarieren, muss man eine Ahnung von der Wahrheit haben, um etwas als Unglück zu bezeichnen, eine Ahnung von Glück, als Ungerechtigkeit eine Ahnung von Gerechtigkeit. Das Positive ist der Maßstab, so ist z. B. die Wahrheit das Kriterium ihrer selbst und der Lüge. So ist der Mensch implizit immer schon auf das Absolute ausgerichtet: implizit in den Dingen, aber dann auch auf das Absolute »hinter« den Phänomenen.

Dieses Absolute kann als Es-haft gesehen werden (ein Schicksal oder der Glaube daran, dass es da etwas Höheres gibt), als A-personal in asiatischen Kulturen oder als Du-haft in den großen monotheistischen Religionen. Und so gibt es auch unterschiedliche Formen von Spiritualität.

Mehrdimensionale Krankheitsinterpretationen und Lebensstiländerungen

Was hat das Ganze mit der Medizin und Krankheitsinterpretationen zu tun? Zu Beginn des Artikels war gesagt worden, dass Krankheitsinterpretationen immer vom zugrundeliegenden Menschenbild abhängen. Das hier vorgestellte Menschenbild ist mehrdimensional: naturwissenschaftlich, psychologisch, spirituell. Bei einer Krankheitsinterpretation bedarf es einer naturwissenschaftlichen Analyse sowie der psychischen und vor allem der spirituellen Hintergründe. Die Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie, dass das Innenleben des Menschen einen großen Einfl uss auf das Immunsystem und damit auf Krankheit und Gesundheit hat, sowie die neuesten Erkenntnisse von Genetik, Epigenetik und Hirnphysiologie, die zeigen, dass auch das Denken und Fühlen und damit geistige und emotionale Prozesse auf die genetische Ebene einwirken, führen dazu, dass diese Erkenntnisse für eine mehrdimensionale Krankheitsinterpretation genutzt werden müssen. Eine moderne Krankheitsinterpretation wird also alle drei Ebenen der naturwissenschaftlichen, psychologischen und spirituellen Interpretation heranziehen.

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1 G. Huether/St. Doering/U. Rüger/E. Rüther/G. Schüßler, Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Ein erweitertes Modell des Stressreaktionsprozesses für das Verhältnis zentralnervöser Anpassungsprozesse, in: U. Kropiunigg/A. Stacher, Ganzheitsmedizin und Psychoneuroimmunologie. Vierter Wiener Dialog, Wien 1997, 126-139, hier 126.

2 Vgl. dazu auch: R. Hefti, J. Bee (Hrsg.), Spiritualität und Gesundheit. Spirituality and Health: Ausgewählte Beiträge im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis. Selected Contributions on Confl icting Priorities in Research and Practice, Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2012; A. Büssing, N. Kohls (Hrsg.), Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, Heidelberg 2011.

 

Über den Autor

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Abgeschlossene Studien in Pharmazie, Medizin, Philosophie und Theologie. Promotion in Medizin und Theologie, Habilitation in Theologie, seit 2007 Universitätsprofessor für Moraltheologie/Medizinethik.
Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzler (Österreich), Mitglied der päpstlichen Akademie für das Leben im Vatikan, Berater der Europäischen Bischöfe in Brüssel.
Autor zahlreicher Bücher: »Glauben – wie geht das?«, »Leben – Wie geht das?«, »Der Krebs und die Seele«, »Seele und Krankheit« und andere.

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