Der spirituelle Lehrer Mushin J. Schilling hat in den letzten zwei Jahren eine spirituelle Gemeinschaft in Tschechien aufgebaut. Serenity – heitere Gelassenheit – nennt sich die Gruppe – der Name steht gleichzeitig für den Weg und die Vision. Jede Woche fährt Mushin von Berlin für vier Tage ins 370 Kilometer entfernte Postupice, um dort die Lieben, Leben und Konflikte von acht Menschen zu begleiten. SEIN sprach mit Mushin, der an diesem Projekt sichtbar Freude hat und sich sehr engagiert.

 

Wie kommt man überhaupt auf die Idee, eine Gemeinschaft zu gründen?

Mushin: Ganz einfach. Ich wurde gefragt: Kannst du dir vorstellen, eine spirituelle Gemeinschaft zu leiten? Ich habe ja gesagt, weil eine ganze Reihe von Erfahrungen nur im Kontext einer spirituellen Gemeinschaft möglich sind.

Was taucht denn so Besonderes in einer Gemeinschaft auf, das wir im normalen Alltag nicht erleben können?

Mushin: Viele Menschen wissen mittlerweile, dass alle Menschen eins sind, dass also von unseren individuellen Handlungen auch das Ganze beeinflusst wird. Das wird aber nicht konkret erfahren, sondern bleibt meist ein intellektuelles Verständnis. Die Grundlage einer spirituellen Gemeinschaft soll die Erfahrung sein, dass wir eine umfassendere Einheit formen. Unsere Persönlichkeiten sind so etwas wie der obere Teil von einem Eisberg, darunter das persönliche Unbewusste und darunter das Wasser, aus dem auch das Eis besteht. In einer spirituellen Gemeinschaft, die ja im Prinzip gar nicht so anders ist als alle anderen Gemeinschaften, wird dann in Konfliktfällen – natürlich innerhalb des eigenen Erfahrungshorizontes – auf diese unterschwellige Einheit, auf das tiefere Wissen zurückgegriffen.

Wie kann man sich das vorstellen?

Mushin: Wenn zwei Leute Krach haben, sieht das meist so aus: Der eine beschwert sich: „Du machst den Küchenboden nicht so sauber, wie er sein sollte.“ Der andere wehrt sich dagegen. Also alles so weit ganz normal. Wenn beide in einer spirituellen Gemeinschaft leben, in der alle an ihrer Entwicklung arbeiten, befinden sich in der Atmosphäre, viel stärker als in einer normalen Zweier-Gemeinschaft, so etwas wie Energiemuster, die daran erinnern, dass der Konflikt auf der Ebene der Vorwürfe, Gegenvorwürfe und Rechtfertigungen nicht zu lösen ist. Zusätzlich hilft die Gemeinschaft dann, in einen umfassenderen Rahmen und zu einer Kommunikation zu finden, in der sich der Konflikt lösen lässt.

Auf welche Weise kann mich die Gemeinschaft in solchen Konflikten unterstützen?

Mushin: Es gibt in der Gemeinschaft so etwas wie ein Energiefeld. Oshos Sanyasins nannten das damals „Buddhafeld“. Es ist ein Feld, das eine Art Sog hat in Richtung Liebe, Wahrheit, Schönheit und das im Laufe der Zeit aufgebaut wird. Das ist es, was Besucher dann merken und mit einer „tollen Atmosphäre“ bezeichnen. Ein weiteres unterstützendes Element ist die Gegenwart von Lehrern oder Menschen, die schon etwas weiter auf dem Weg sind, die zum Beispiel – bezogen auf das obige Beispiel – schon viele Erfahrungen im Umgang mit Konflikten haben. Sie sind dann beispielsweise viel schneller bereit, Ärger und Zorn fallen zu lassen, der spontan auf einer unbewussten Ebene aufgetaucht war. Sie können einfacher auf eine Ebene überwechseln, auf der sich die wahren Ursachen und Hintergründe des Konfliktes zeigen können. In Postupice haben wir das „Time Out“ vom Basketball übernommen. Einer zeigt dann das T-Symbol mit seinen Händen und sagt damit: „Stopp, lass uns mal einen Moment aufhören zu streiten, still sein und in uns hineinhorchen.“ Daraus kann dann eine ganz bestimmte Kultur entstehen, die eben eine besondere Art von Kommunikation pflegt. Personen in spirituellen Gemeinschaften befinden sich immer an unterschiedlichen Punkten auf ihrer Reise. Die etwas weiter sind, sind dann eben Wegweiser, an denen sich die anderen orientieren können.

Du arbeitest in und mit dieser Gemeinschaft jetzt schon zwei Jahre. Kannst du da schon eine Entwicklung feststellen im Umgang miteinander?

Mushin: Das kann ich ganz klar mit Ja beantworten. Der Punkt ist der, dass Gemeinschaft tatsächlich erst einmal wieder gelernt werden muss. Am Anfang gab es andere Konflikte als heute. Die Konflikte jetzt haben mit sehr viel tieferen Schichten zu tun. Wenn die Diskussionen übers Putzen ausgestanden sind und es zu kreativen Lösungen gekommen ist, dann tauchen eben neue Ebenen auf, auf denen sich der einzelne nicht ernst genommen oder verletzt fühlt. Was hier statt findet, ist so eine Art persönliche Ausgrabung.

Warum kommen eigentlich Menschen in eine Gemeinschaft wie eure?

Mushin: Zu uns kommen verschiedenste Menschen mit ganz unterschiedlichen Anschauungen und Grundeinstellungen. Und sie leben nicht zusammen, weil sie sich gegenseitig so phantastisch finden. Sie entscheiden sich für eine Gemeinschaft, weil sie hoffen, spirituelle Fortschritte zu machen, die sie sonst so nicht oder nicht so schnell machen würden. Eine spirituelle Gemeinschaft ist so etwas wie ein Durchlauferhitzer. Du kannst in der „normalen“ Gesellschaft prinzipiell das Gleiche lernen, aber in Gemeinschaft, wo du den Konflikten nicht ausweichen kannst, geschieht das oft in einem Affenzahn. Beispielsweise hast du durch den ständigen Spiegel der anderen und die Bereitschaft zu Offenheit und Auseinandersetzung in einem halben Jahr voll und ganz verstanden, dass du immer dann, wenn du einem anderen etwas vorwirfst, im Grunde etwas über dich selbst sagst. Im „normalen“ Leben brauchst du für diese Erkenntnis nicht nur länger, sondern du verlierst sie auch wieder viel schneller. Doch in der Gemeinschaft bist du in einem kontinuierlichen Prozess. Du kannst dich zwar immer wieder in dein eigenes Zimmer zurückziehen, doch wenn du die Tür aufmachst, sind da gleich die anderen. Du kannst deinen Themen einfach nicht entkommen.

Du bist ja schon so etwas wie ein Guru in dieser Gemeinschaft. Wie gehst du mit dieser Rolle um?

Mushin: Weil einige Leute diese Rolle immer wieder an mich heran getragen haben, habe ich Anfang dieses Jahres ganz klar gesagt, dass ich nicht die leiseste Lust habe, ein Guru im klassischen Sinne zu sein. Ich bin im wahrsten Sinne der Minister, der Diener des Ganzen. Nicht, weil ich so ein altruistischer Mensch bin, sondern weil mein Wunsch an eine Gemeinschaft der ist, dass Menschen in die Lage versetzt werden, aus sich selbst alles zu erfahren, was sie für ein erfüllendes Leben brauchen. Ich weiß nicht, was für den Einzelnen nötig ist. Ich kann im Moment vielleicht bestimmte Dinge sehen, aber ich kenne das Schicksal des Einzelnen ja nicht. Also ist meine Rolle einfach die, es den Menschen zu ermöglichen, bei sich selbst so tief wie möglich zu Rate zu gehen.

Gibt es Schwierigkeiten mit den Nachbarn? Schließlich werden spirituelle Gemeinschaften schnell in die Sekten-Ecke abgeschoben.

Mushin: Nein, bei uns nicht. Erstens haben wir uns von Anfang an bei den Leuten bekannt gemacht und ihnen gesagt, was wir sind: eine therapeutische Gemeinschaft. Zweitens ist unser Gruppenraum nicht einsehbar, und zu den Regeln unserer Gemeinschaft gehört es, dass nichts, was unsere Nachbarn als anstößig empfinden könnten, außerhalb der Räume statt findet. Außerdem haben wir guten Kontakt zum Bürgermeister, einer unserer Bewohner spielt sogar im Fußballclub vor Ort.

Welchen Stellenwert haben Gemeinschaften heute und in Zukunft angesichts der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft?

Mushin: Unsere Gesellschaft basiert nicht mehr auf der Familie, wie die Konservativen es gerne hätten, sondern auf den Einzelnen. Mehr als 60 Prozent der Berufsbevölkerung in deutschen Städten sind Singles. Die Propaganda-Abteilungen der Wirtschaft, also die Werbung und so weiter, zielen im Grunde darauf hin, dass du und ich unsere Bedürfnisse befriedigen. Ich bin nicht dazu da, deine Bedürfnisse zu befriedigen und schon gar nicht die von einer etwas größeren Gruppe. Diese ganze Kultur könnte man als eine Ich-Kultur bezeichnen. Ich habe nichts gegen Individualismus, aber dieser hier ist durchgeknallt und neurotisch.

Dagegen steht hinter der Sehnsucht nach Gemeinschaft der Instinkt der Seele, dass wir nur wirklich Mensch mit anderen Menschen sind. Die wenigsten von uns sind bereit, in den Himalaya zu gehen und einsam zu sein. Die meisten Menschen wollen Gemeinschaft. Die meisten Menschen wollen Zugehörigkeit. Die ganzen Fundamentalismen, die überall auf der Welt auftauchen, sind nichts anderes als Auffangbecken für dieses enorme Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Und der Wunsch nach Zugehörigkeit kommt sicher aus dem Hunger der Seele, diese Einheit, von der wir alle Teil sind, dieses Etwas, das größer als wir ist, zu spüren. Die einzig wirkliche Befriedigung findet nicht auf der Ebene des „Ich für mich und meine Bedürfnisse“ statt, das gibt mir höchstens einen Moment Genuss, aber es bringt keine Freude. Freude ist immer etwas, was uns gemeinsam ist. Wenn man zu zweit oder zu dritt lacht, dann ist das etwas völlig anderes, als wenn man allein vor der Glotze sitzt und eine Comedy-Sendung sieht. Letzteres macht lange nicht so viel Spaß. Das zeigt einfach, dass wir Gemeinschaftsmenschen sind. Eine Gemeinschaft wie Serenity zeigt den Leuten anhand von praktischen Erlebnissen, wie befriedigend es ist, in Gemeinschaft zu sein. Dieser gemeinsame Raum ist ja auch das, was Gruppenmeditationen ausmacht. Wenn die Menschen alleine meditieren, hat das für die meisten eine völlig andere Qualität, als wenn sie mit ein paar anderen in Stille sitzen. Sie teilen diese Stille. Gemeinschaft trägt. Das gilt für alle. Menschen, die Erleuchtung erlangt haben, haben zwar ihr wahres Sein entdeckt. Aber so lange man damit allein ist, ist es letztlich unbefriedigend. Daher das Boddhisattva-Gelübde, dass man seine eigene vollkommene Erleuchtung zurückstellt. Die stellt man nicht zurück, weil man so ein altruistischer Mensch ist, sondern weil wir Mensch mit Menschen sind. Und letztlich das höchste Potenzial unseres Menschseins nur mit anderen Menschen leben können.

 


Infos zur Serenity-Community unter www.mushin.de
Bild oben: Gruppenbild mit „Gurus“: Mushin (vierter von links) und sein Lehrer Michael Barnett (rechts daneben) im Kreise einiger Serenity-Bewohner

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