Der Mut zu vertrauen ist eine Herausforderung für jeden neuen Tag…

von Dorothée Jansen

Trau´ ich mich oder trau´ ich mich nicht? Puhhhhh! Vertrauen. Was für ein Thema?! Ich muss schwer schlucken. Die Thematik trifft mich an meinem wundesten Punkt. Als Psychotherapeutin ist es meine Aufgabe, Menschen Vertrauen entgegenzubringen und selbst ein vertrauenswürdiger Mensch zu sein. In dem Bereich müsste ich Spezialistin sein. Da habe ich einiges drüber gelernt, könnte Wissen zum Besten geben, Bücher zitieren, kluge Sprüche dahersagen – so versuche ich, mir Mut zu machen. Doch geht es darum? Sollte ich an dieser Stelle nicht so ehrlich sein, über mich zu schreiben und mein persönliches Verhältnis zum Vertrauen preisgeben, das nämlich eines des täglichen Bemühens ist?

Mein Herz beginnt wild zu pochen, die Haut surrt, ich kann sie bis in die Ohren hinein hören. Dieses Surren kenne ich seit frühester Kindheit. Mit sechs Jahren begann ich mir die Geschichte zu erzählen, dass ich durch dieses Surren in Kontakt trete mit Außerirdischen. Eine schöne Geschichte, aber leider eine, die sehr weltfremd werden lässt. Später bekam dieses Surren den Namen Tinnitus. Ich selbst nenne es lieber meine surrende Haut. Sie dient mir als Signalgeber: „Gefahr“, ruft sie. Auch jetzt gerade. Irgendetwas empfindet mein System in diesem Moment also als gefährlich. Aber was? Und wie kann ich der Gefahr begegnen?

Ich weiß nicht, wer diesen Artikel lesen wird. Ich weiß auch nicht, wie die Leser dieses Artikels reagieren werden. Werden sie in meinen Wunden rumstochern? Sich über mich lustig machen? Werden sie mich verhöhnen, meine Kompetenz als Therapeutin in Frage stellen? Mich möglicherweise verurteilen, weil man als Therapeutin nichts Persönliches preiszugeben habe? Angst. Ich möchte mich zurückziehen, verkapseln. Dann wird die Haut fest und hart, undurchdringlich. Dann fühle ich mich isoliert. Auch das kenne ich und weiß, dass es mir nicht gut tut. Als Warnung auch vor diesem Rückzug surrt die Haut weiter. Angst. Ich kenne sie, diese Ängste. Wie ihnen begegnen?

In meinen Jahren als Psychotherapeutin waren es die Momente, in denen ich etwas Persönliches von mir offenbart habe, die eine entscheidende Wende im therapeutischen Prozess gebracht haben, versuche ich mich zu erinnern. Weil auf einmal eine Beziehung auf Augenhöhe entstand. Weil ich nicht mehr die Neunmalkluge war, die alles im Griff hat, vor allem sich selbst. Weil ich mich an dieser Stelle als Mensch gezeigt habe. Dieses Wissen hilft mir, den Mut zu fassen, von mir und meiner Beziehung zum Vertrauen zu erzählen – auch wenn ich dich nicht persönlich kenne, liebe Leserin dieser Zeilen.

Das Geschenk des Vertrauens und der tägliche Kampf darum

Also beginne ich. Doch wie persönlich traue ich mich zu werden? Mein Leben war nicht so gestrickt, dass ich mit dem gesegnet wäre, was in der Fachliteratur UR-Vertrauen genannt wird. Mit drei Wochen wurde ich von der Mutter an die Großmutter abgegeben, mit zwei Jahren monatelange Aufenthalte auf der Isolierstation, zurück zu den Eltern, der schlagende Vater, die Mutter im Krankenhaus, weil vom Vater verprügelt, mein Ohr zertrümmert, sexuelle Gewalt an mir und der Mutter. Ich habe Mordversuche überlebt und wurde dann wieder verstoßen, dieses Mal in ein Kinderheim. Meine Ursprungsfamilie war also – kurz gesagt – kein sicherer Hafen. Ich habe mir das Vertrauen in mich und die Welt hart erarbeiten müssen. Das ist bis heute so. Dieses Geständnis macht mich zittern. Ich wache morgens auf und habe damit zu tun, Vertrauen in mich und den Tag erst einmal aufbauen zu müssen. Jeden Tag. Immer wieder aufs Neue.

Der Vorteil, den das mit sich bringt? Ich habe im Laufe der Jahrzehnte viele Techniken erwerben dürfen, um dieses Vertrauen in mich und die Welt zu erlangen. Außerdem kann ich Menschen ansehen, wenn auch sie um jenes Vertrauen kämpfen. So wie ich. Es hat mich empathisch werden lassen. Auch das ist ein Vorteil. Und um gleich zu meiner These zu führen: Es ist nicht mein Verstand, der erkennt, ob jemand ängstlich ist und es ihm an jenem Vertrauen mangelt. Es ist meine Haut, die das erspürt. Als Spannung. Als vibrierende Atmosphäre. Als Raum, der sich zurückzieht, als Enge. Meine Haut spürt das Zittern in den Beziehungsräumen der Angst. Doch vielleicht gehe ich nochmals einige Schritte zurück, um dich, lieber Leser, liebe Leserin, mitnehmen zu können auf meiner Reise zur Hautsache Vertrauen.

Am Anfang war die Haut

Die Haut entwickelt sich aus dem ersten Keimblatt des Menschen gemeinsam mit dem akustischen Sinn und dem Gehirn. Hören, fühlen und denken gehören somit von Anfang an untrennbar zusammen. Diese Erkenntnis muss erst einmal verdaut werden. Ich weiß. Daraus folgt unter anderem: Wir fühlen mit der Haut, wir hören mit ihr und wir denken mit ihr. Musik lässt unsere Haut erschauern. Wichtige Erkenntnisse können Schweiß aus den Hautporen treiben. Wir denken fühlend. Wir hören denkend. Fühlen schult das Denken. Auf unseren Häuten ein ständiges Konzert. Unsere Haut ist es außerdem, die uns ein Gefühl für unsere Grenze gibt: Hier höre ich auf, da fängst du an.

Der französische Psychoanalytiker Daniel Anzieu hat sie aus diesem Grunde als Ich-bildend bezeichnet und spricht von einem „Haut-Ich“. Als Grenzerfahrung vermittelt sie uns den Zugang zum Raum. Wir blubbern als Embryos in der Fruchtblase im Mutterleib. Wir schwimmen im Raum, erfahren Raum und erspüren: Wie ist dieser Raum gestimmt? Was schwingt da alles mit? Haut ermöglicht uns Raumwahrnehmung und vor allem die Wahrnehmung von Atmosphären, d.h. von Stimmungen und Gefühlen im Raum. Über die Haut kann das Embryo wahrnehmen, wie sich die Mutter gerade fühlt. Meine lebte in ständiger Angst vor dem gewalttätigen Vater. Diese mütterliche Angst ist wie ein Tattoo in meine Haut eingeschrieben. „Sei vorsichtig! Vor allem vor Männern!“ Das sind die Zeilen, die auf meine Haut geschrieben wurden, bevor ich überhaupt das Licht der Welt erblickte. Und da sind wir noch lange nicht im Feld der Epigenetik. Weißt du, welche Stimmungen und Gefühle in deine Haut eingraviert wurden? Kann sich deine Haut an die Zeit im Mutterleib erinnern?

Was hilft?

Wenn ich morgens aufwache, surrt meine Haut. Angst. Mit dem Erwachen meines Bewusstseins entsteht die Frage: Bin ich sicher? Lauert irgendwo Gefahr? Meine Haut ist ein Seismograph, der feinste Schwingungen aufnimmt. Augen auf, hinsetzen, ermahne ich mich, um die reale Gefahr hier und jetzt einschätzen zu können. Mein Zimmer, mein Bett, die Bettdecke, die mich einhüllt – alles gut. Ich bin in Sicherheit. Beruhigung tritt ein. Die Haut wird weich und sanft. Das Gefühl des sicheren Umhülltseins, das mir die Bettdecke geschenkt hat, nehme ich mit, indem ich mir vorstelle, von einer sicheren goldenen Kugel umgeben zu sein. Auch das habe ich von Daniel Anzieu gelernt: Haut schenkt uns die Fähigkeit der Einbildungskraft.

Um uns sicher zu fühlen, brauchen wir Bilder schützender Hüllen. Sicher und geschützt beginne ich meinen Tag. An anderen Tagen dauert es länger. Da erkenne ich zwar, dass ich sicher in meinen eigenen vier Wänden bin, doch die Haut surrt weiter. Was habe ich geträumt, frage ich mich und versuche, mich zu erinnern. War da etwas, was mich geängstigt hat? Ich nehme mein Tagebuch und schreibe den Traum der Nacht nieder. Dabei kann ich ängstigende Momente ausmachen. Sind sie jetzt noch von Relevanz, frage ich mich schreibend? Haut erinnert sich. Und ich weiß, es sind nicht nur meine Erinnerungen, die in ihr stecken. Sind es meine Ängste, die sich in die Träume der Nacht hineingeschlichen haben, oder die anderer? Ich sortiere. Das geht schreibend gut. Es braucht Zeit. Durch die Klärung, was meins, was das eines anderen und was jetzt noch von Relevanz ist, beruhigt sich die Haut und ich starte den Tag in vollem Vertrauen, kann mich anderen und der Welt zuwenden.

Sich ins Vertrauen tanzen

Doch an manchen Tagen mag das Surren der Haut gar nicht aufhören. Ich kann dann versuchen, mich tiefer in die Bettdecke hineinzukuscheln, kann mich streicheln, mich mit Öl einreiben. Das hilft und beruhigt das Jetzt. Dann aber gibt es diese anderen, die ganz hartnäckigen Tage. Es surrt und surrt. Erinnerungen sind geklärt. Das Jetzt ist beruhigt. Und doch bleibt das Surren. Was habe ich an dem Tag vor, frage ich mich dann. Gibt es etwas, was davon meine Haut beunruhigt und ich sollte es besser ändern oder sein lassen? Haut kann nicht nur in die Vergangenheit, sie kann auch in die Zukunft schauen. Manchmal ängstigt sie Zukünftiges. Dann gilt es zu schauen: Ist es mein Plan für den Tag, der sie ängstigt? Oder ist es etwas, was ein geliebter Mensch in meiner Umgebung in absehbarer Zeit vorhat? Sollte ich diesen warnen und habe mich bislang nur nicht getraut?

An vielen Tagen ist es der Zustand dieser Welt, der mich ängstigt: Krieg, Klimakatastrophe, zunehmende Digitalisierung, smart cities, Unmenschlichkeit und Dominanz eines kapitalistischen Weltbildes. Ja, an manchen Tagen fühle ich die wachsende Bedrohung und Härte auf dieser Welt in meiner Haut. Sollte ich meine Haut dafür schelten, dass sie so laut schreit? Sie warnt mich. Ich bin ihr dankbar dafür. Meiner Haut kann ich vertrauen. Immer. In solchen Momenten greife ich zu einem anderen Hilfsmittel. Ich mache Musik an, stehe auf, recke meine Glieder und tanze vor meinem kleinen Altar. In Zeitlupe. Asymmetrisch. Ich tanze mich in den Raum hinein. Meine Haut spürt den Windzug meiner Bewegungen. Auch Tanzen ist Hautsache. Nicht erst beim Contact Dance. Das Tanzen hilft mir wahrzunehmen: Wie groß ist der Raum, den ich heute einnehmen kann und möchte? Für wie viel Quadratzentimeter bin ich heute bereit, die Verantwortung zu übernehmen?

Es macht keinen Sinn, mich für alles verantwortlich zu fühlen. Das überfordert mich und meine Haut. Mit Hilfe der fließenden Bewegungen gelingt es mir, die passende Größe zu finden, in der ich die Atmosphäre dieses Erdballes noch spüren kann, ohne mich im Grenzenlosen zu verlieren. Ich suche nach dem Umfang, in dem es mir möglich ist, aktiv zu sein und nicht zu erstarren. Der Tanz aktiviert zudem meinen Gleichgewichtssinn. Wann bin ich in meiner Mitte und wann gerate ich aus dem Gleichgewicht? Klarheit diesbezüglich schenkt mir Selbstvertrauen, lässt den Boden sich fest anfühlen. Selbstvertrauen brauche ich, um mir vorstellen zu können, dass ich etwas bewirken kann in dieser Welt. Dass auch ich etwas dazu beitragen kann, dass dieser Erdball ein schöner, friedlicher, vertrauensvoller Ort wird. Das hört sich sehr abstrakt an, ist aber ein sehr sinnlicher Vorgang. Denn am Ende dieses Prozesses fühlt sich meine Haut vibrierend, aber nicht surrend, lebendig, aber nicht übererregt an. Ich fühle mich wohl in meiner Haut. Pudelwohl. Dann kann es ein guter Tag voll des Vertrauens werden. Was brauchst du, um dir und der Welt zu vertrauen?

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