Der spirituelle Weg ist nicht – wie oftmals gerne präsentiert – hauptsächlich mit wunderbaren Erfahrungen und Wohlgefühlen gepflastert. Ganz im Gegenteil bedeutet er meist, dass uns all unsere Schatten und Lernaufgaben vehement um die Ohren gehauen werden – und das oft jahrelang. Maike Pranavi Czieschowitz über den steinigen Weg aus ihrem inneren Exil zurück zu Gott.

Licht, hell, gütig, klar und weit, so ist meine erste Vorstellung von Gott, die seit meiner frühen Jugend in mir präsent ist. Jesus und Gott, das sind Bilder der Liebe und Annahme in mir, Gefühle des Getragenseins, des Halts und einer natürlichen Leichtigkeit. Geborgen, sicher und frei. So bin ich, wenn ich in Gott bin. Sicher hat dazu auch ein toller Konfirmationsunterricht in der evangelischen Kirche, verbunden mit den Entdeckungen der Jugendzeit, beigetragen. Bis heute trage ich meinen Konfirmationsspruch in meinem Herzen: „Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet, bis zum vollen Tag.“

Auch heute noch ist meine höhere Macht das Wichtigste in meinen Leben. Sie gibt mir meine Mitte, macht mich unabhängig, stabil und klar. In der Demut, dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen, sich also weder kleiner noch größer zu machen, basiert heute mein Streben nach einem gesunden Selbstwert. Vertrauen auf eine Macht, die größer ist als ich und doch in mir wohnt, bildet die Basis meiner Spiritualität. Um mich immer wieder dem Willen meiner höheren Macht anzuvertrauen und nicht blind dem zu folgen, was mein manchmal zwanghafter Geist von mir möchte, übe ich mich viele Male am Tag in dem Gebet: „Dein Wille geschehe, nicht meiner“.

Wenn ich in meinem Alltag meine „Higher Power“ ans Steuer lasse und ganz kontinuierlich meine Fußarbeit erledige, die sie von mir möchte, dann fahre ich besser. Spiritualität kann sich dann ganz praktisch in meinem Leben auswirken, zum Beispiel, indem ich immer wieder frage: „Gott, was ist jetzt, in dieser Situation, dran? Nicht mein Wille, sondern deiner geschehe.“ So kann ich bei Entscheidungen, aufkeimender Unsicherheit und immer, wenn ich Führung brauche, aufschreiben, was ich in mir höre, dann vertrauensvoll danach handeln und das Ergebnis loslassen.

Gott verloren

Dass ich diesen natürlichen Bezug zu Gott einmal verlieren würde, der – so glaube ich heute – in jeden Menschen von Geburt angelegt ist, hätte ich mir nicht träumen lassen. Doch genau so war es, und zwar stattliche 17 Jahre lang. Mit der dreijährigen Mobbing-Zeit in der Schule, in der meine bisherige Beliebtheit rapide sank und die Akzeptanz der Mitschüler in Feindseligkeit umschlug, endete abrupt mein intuitives, aber ungefestigtes Verhältnis zu dieser wunderbaren höheren Instanz.

Und mit ihm das Tagebuch- und Gedichteschreiben, die lebendige Unbeschwertheit, das Selbstvertrauen und die Freundschaften zu Gleichaltrigen – sogar zu denen, die vielleicht nur Mitläufer waren. Ein Lehrer, dessen Worte ich noch heute in den Ohren habe, beschrieb die Stimmung in der Klasse so: „Es war eine Atmosphäre wie zum Schneiden. Wenn du dich gemeldet hast, war es, als ob 24 andere Schüler mit aufgeklapptem Messer hinter deinem Rücken saßen und nur darauf warteten zuzustechen.“

Ich konnte den Angriffen nicht mehr standhalten, fühlte mich zusehends ungeschützt, ausgeliefert, ohnmächtig – wie ohne Haut. Denn mich angemessen zu wehren, das hatte ich in meinem liebevollen, aber überbehütenden Elternhaus nicht gelernt. Von der beliebten Klassensprecherin zum Feindbild Nr 1, das war ein Zustand, der über drei Jahre andauerte. Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel nahmen zu. Mein Reaktionsmuster war das der Anpassung: Bewusst versuchte ich, schlechter zu werden in der Schule, mehr Aktivitäten mitzumachen, die mir nicht lagen, und den Wortführern mit „people-pleasing“ zu begegnen. Dass man sich durch Überanpassung selbst verliert, erfuhr ich als schmerzliche Konsequenz.

Eltern und Klassenlehrer waren hilflos, nicht ahnend, dass letztlich ein Psychologe, ein effektives Selbsthilfeprogramm oder eine tiefe spirituelle Lebensgrundlage den schwierigen Einbruch hätten umwandeln können.

Leben im Rückzug

Den Weg zurück zur Spiritualität musste ich mir selbst erarbeiten. Mit 33 Jahren fand ich endlich die langersehnte Hilfe, die ich brauchte, um mental, seelisch und physisch wieder ins Lot zu kommen. Dazwischen liegen Jahre, in denen ich regelrecht ins innere Exil gegangen bin. Es begann an einer Schule, an der ich nur überleben konnte, wenn ich, so die Lösung der damals 16-Jährigen, meine Widersacher von heute auf morgen ignorieren, mit niemandem mehr sprechen und ganz in meinem Innenleben sein würde.

Es brauchte einen klaren Cut. Ich lebte von da an ein Leben im Rückzug, in der über alles geliebten Literatur, im Tanz und in der Natur. Aber es war auch ein Leben der Vermeidung und der Angst vor Konflikten – aus der Erfahrung heraus, den Mobbern nicht standhalten zu können. Das hatte natürlich einen Preis: den der Einsamkeit und des Einzelkämpfer-Daseins. Zwar bildete ich in dieser Zeit mein Wissen und meine intellektuellen Fähigkeiten enorm aus und konnte die Welt, die sich hierdurch auftat, sehr genießen. Aber meine Empfindsamkeit fand keine Resonanz, meine emotionalen Bedürfnisse blieben ungestillt, meine seelische und soziale Entwicklung stagnierte. Den Seelenhunger unterdrückte ich genauso wie Wut und Ohnmachtsgefühle. Verzweiflung und Gefühle der inneren Leere führten mich in die Esssucht.

Über die Jahre stiegen die verheimlichten Essanfälle in Anzahl und Ausmaß des Hineingefressenen und Hinuntergeschluckten rapide an. Mit unvorstellbaren Nahrungsmengen betäubte ich meine Gefühle. Ich benutzte Essen wie eine Droge, die nach immer mehr in immer kürzeren Zeitabständen verlangte. Bis schließlich jedes Gefühl mit Essen beantwortet werden musste. Äußerlich sehr erfolgreich in Studium, Volontariat und Beruf, nahm ich über die Jahre 35 Kilogramm zu, während Selbstliebe, Selbstwert und die Fähigkeit, meine Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, immer mehr abnahmen.

Ungestillter Seelenhunger

Sieben Kilogramm in zwei Wochen zunehmen und danach vier bis fünf Kilogramm wieder abnehmen, so sah mein Alltag in der schlimmsten Suchtphase aus. Den ungestillten Seelenhunger versuchte ich an meinen Eltern, der Schwester, meinem Freund, älteren Menschen oder Gleichaltrigen zu befriedigen – eben allen, die scheinbar wussten, wie das geht: ein glückliches Leben leben. Indem ich erspürte, was sie brauchten, ihnen ihre Bedürfnisse erfüllte und mich darin übte, meine eigene Erfüllung darin zu finden, so zu sein, wie die anderen mich haben wollen, konnte ich mich schließlich gar nicht mehr spüren. Ich lebte das Leben der anderen, absorbierte ihre Stimmungen, Wünsche, Ansichten, Haltungen und Lebensweisen.

Dieser Anpassungs-Mechanismus führte dann schließlich innerhalb einer Beziehung zur Brechsucht, zusätzlich zum vorherigen „Binge-Eating“ (anfallsweisem Essen). Spürte ich anfangs noch den Punkt, an dem ich im Kontakt zu meinem Partner über meine Grenzen ging, rationalisierte ich diesen gesunden Widerstand später immer mehr weg. Ich wollte geliebt werden und nahm dafür die Selbstverletzung des Essens und Erbrechens genauso in Kauf wie die entstehende emotionale Abhängigkeit. Mit der Bulimie kam die Erkenntnis, dass diese Erkrankung in den Tod führen kann und die Seele verdreht. Von diesem Punkt an wusste ich: „Hier komme ich nicht mehr allein heraus. Ich brauche Hilfe.“

Die Wende

Das war der entscheidende Schritt zur Wende. Nach einer schlimmen Folge von mehreren Essanfällen rief ich in der Mittagspause ein anonymes Beratungstelefon an. Davor hatte ich am wenigsten Angst, hier war die Hürde der Offenbarung am geringsten. So erzählte ich also mit 33 Jahren das erste Mal einer freundlichen, jungen Psychologin am Telefon, was mich bewegt und was ich tat. Ihre vollkommen ungerührte, positive Art war ein Geschenk für mich. Sie eröffnete mir den Fächer an Handlungsmöglichkeiten, den ich hatte. Und ich ergriff ganz allmählich, über den Zeitraum eines Jahres hinweg, selbstbestimmt sämtliche Strohhalme, die mir gereicht wurden – vor allem Selbsthilfegruppe, Frauengruppe, Gestalt- und tiefenpsychologisch fundierte Therapie.

Dennoch dauerte es noch eine Weile, bis ich mich traute, den Wurzeln meiner Erkrankung ins Auge zu schauen und mich der Gruppe zuzuwenden, die heute nicht nur die Basis meiner Genesung, sondern auch meine spirituelle Lebensgrundlage darstellt: Overeaters Anonymous. Immer schon hatte ich gewusst, dass ich eine Anleitung zum Leben brauche, doch nicht, wo ich suchen sollte. Nun fand ich sie. Was für ein Segen! Sieben Jahre später darf ich – immer nur für heute – weiter lernen: zwanghafte Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster aufdecken, erarbeiten, wie genesenes Handeln aussehen kann statt die Krankheit auszuagieren – und sie mithilfe meiner höheren Macht heilen lassen. Die Grundlage bildet das Konzept einer höheren Macht, die das für mich tut, was ich nicht tun kann.

Der Kontrollverlust, den ich als Essgestörte erlebt habe, hinterlässt ein Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins, den wohl jeder Süchtige kennt. An dieser Erfahrung knüpft der erste Schritt aller Gruppen, die nach dem Prinzip der Anonymen Alkoholiker arbeiten, an: Ich selbst bin machtlos, aber es gibt eine Kraft, die größer ist als ich. Sie wird mir Genesung schenken, wenn ich sie darum bitte und mich ihrem Weg anschließe. Indem ich mir eine eigene Vorstellung von Gott machen darf, die für mich funktioniert, kehren das lang verloren geglaubte Vertrauen, ein tiefer Glaube, Liebe und Hoffnung in mich zurück.

Abgeben an eine höhere Macht

Immer wenn ich die Verbundenheit zu meiner Höheren Macht verliere, entgleitet auch der Kontakt zu mir und dem schutzbedürftigen Teil meiner Seele. Dann drohen die alte Leere und Sinnlosigkeit wieder zurückzukehren. Wenn ich dagegen frage, wie es mir körperlich, seelisch und geistig gerade geht, dann kann ich üben, Gedanken, Gefühle, Körperempfinden und Energiezustände bewusst wahrzunehmen. Als Verdrängerin par excellence hilft es mir, sie aufzuschreiben, um sie dann meiner höheren Macht anzuvertrauen oder mit einer Person meiner Selbsthilfegruppe zu teilen. Auch nachdem ich die Gefühle an meine höhere Macht abgegeben habe, wollen sie mich manchmal noch zum Essen treiben.

Dann ist es gut, mir bewusst zu machen, dass sie eben nicht gehen, wenn ich es will, sondern wenn Gott es will. Und mich darauf einzustellen, dass sie so lange, bis Gott sie von mir nimmt, all meine Handlungen begleiten werden. Dann heißt es: bewusst atmen, sie spüren, nicht nach ihnen handeln und stattdessen das tun, was gerade dran ist. „Nicht in meiner Zeit, sondern in Gottes Zeit“ – das ist ein geflügeltes Wort bei uns geworden, das mir in vielen Lebenssituationen hilft. Yoga und Atemübungen sind aktuell die Bereiche, die ich erkunde, um sie auf meine Themen anzuwenden. Sie können meinen Werkzeugkoffer, der sich in den vergangenen sieben Jahren schon reichhaltig gefüllt hat, noch erweitern und Erlerntes festigen, vertiefen, ausbauen.

Meditation – ob nun buddhistisch, christlich, hinduistisch oder rein Achtsamkeits-geprägt –, ist dabei seit langen Jahren ein elementarer Bestandteil, um mich in meiner inneren Mitte zu festigen. Ich habe begonnen, mich in der psychologischen Yogatherapie ausbilden zu lassen, und prüfe, ob ich die Gestalttherapie, die ich als so hilfreich auf meinem Weg empfunden habe, ebenfalls von der anderen Seite, als Therapeutin, anwenden möchte.

In gesunde Selbstliebe hineinwachsen

An jedem Morgen beginne ich den Tag mit einem Meditationstext und 30 Minuten „stiller Zeit“, in der ich mich bewusst mit meiner höheren Macht verbinde. Atemübungen und Asanas folgen. Wenn es mir über den Tag gelingt, zur Ruhe zu kommen und zu Gott zu gehen, geht es mir und meiner Umgebung mit mir besser. Am Abend singe ich gerne mit anderen zusammen spirituelle Lieder, meditiere und lausche Vorträgen. Nach wie vor liebe ich es zu tanzen. Vor dem Zu-Bett-Gehen schreibe ich eine Dankbarkeitsliste und gebe ab, was mir gelungen ist und was Probleme bereitete. Ich bete, dass Higher Power in meinen Beziehungen, gerade auch zu schwierigen Menschen, wirkt und mir hilft, mich so anzunehmen, wie ich heute war. Und ich vertraue, dass ich mit ihr langsam, aber allmählich in eine gesunde Selbstliebe hineinwachse. In eine Annahme all der wunderbaren Anlagen und Fähigkeiten, die ich mit auf die Welt bekommen habe, um sie ohne Angst vor Neid und Ablehnung ins Leben zu tragen.

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