Den verborgenen Schatz unseres Lebens werden wir nicht in vorgegebenen Konzepten oder Religionen finden, sondern nur durch mutige, konsequente Selbsterforschung. Das setzt die Bereitschaft voraus, alle Vorstellungen fallen zu lassen und bereit zu sein, für einen Moment zu sterben und der Angst davor zu begegnen.

 

Wir alle halten uns gern an Konzepten fest, weil sie uns eine vermeintliche Sicherheit geben. Doch sie begrenzen uns auch. Alle Religionen sind ein Ausdruck davon. Selbst die Befürworter der Selbstergründung tappen in die Falle der Konzeptualisierung und legen oft im Voraus fest, was ihre Untersuchung zutage fördern soll. In der “Religion” der Selbsterforschung tritt das Konzept der Nichtzweiheit (es gibt nur Einheit, alles andere ist Illusion)an die Stelle direkter Erkenntnis. Die authentische spirituelle Selbstergründung bringt, ebenso wie tiefgehende künstlerische oder wissenschaftliche Betätigung, die Freude neuer Einsichten und Offenbarungen mit sich, aber wenn wir an den neuesten Erkenntnissen als etwas festhalten, das wir wissen, bekommt das Etwas einen üblen Beigeschmack. Tiefe Selbsterforschung setzt die Bereitschaft voraus, zumindest vorübergehend alle Überzeugungen fahren zu lassen. Ungeachtet dessen, woran wir uns erinnern oder was wir in der Vergangenheit erkannt haben, kehren wir in der aufrichtigen Selbstergründung jedes Mal dahin zurück, dass wir nicht wissen, was dabei herauskommt oder herauskommen sollte. Erkenntnis braucht keine Dogmen. Auch Begriffe wie “Vielheit” “Dualität” oder “Nichtzweiheit” sind unnötig.

Tiefes Nachforschen ist nichts für Schwache oder Wankelmütige. Es ist etwas für diejenigen, die ungeachtet aller Ängste und Unannehmlichkeiten bereit und willens sind, zu reifen. Es ist eine Aufforderung, sich nicht länger auf die Entdeckungen, die andere gemacht haben, zu verlassen. Die Selbsterforschung ist auch keine Strategie zur Lebensbewältigung. Sie ist nicht im Bewusstsein des Menschen angelegt, um ihm Sicherheit oder Wohlbehagen zu vermitteln, sondern um ihm die unumstößliche Gewissheit zu geben, dass er die Wahrheit selbst ergründen kann. Sie regt das Bewusstsein dazu an, sich über seine eigenen Grenzen hinweg auszudehnen,und dient so der Entwicklung und Reifung der Seele.

 

Schritt ins Ungewisse

Die Herausforderung der Selbstergründung liegt darin, auf direktem Wege selbst zu entdecken, was ohne alle Bezugspunkte existiert. Das Nachforschen ist keine kleine Aufgabe, denn es erfordert die Auseinandersetzung mit dem Tod der selbstgeschaffenen Innen- und Außenwelt – ohne eine Ahnung zu haben, was an deren Stelle treten wird.

Wir sind alle zu dem Glauben erzogen worden, dass das, was uns gelehrt wurde, real sei. Unsere Weltsicht und unsere Rolle in der Welt sind eine Geschichte, die wir schon an der Mutterbrust zu lernen beginnen. Wir nehmen diese Geschichte, die das Überleben unserer Gemeinschaft sichert, in unsere Zellen auf und richten uns mehr oder weniger behaglich in der Wirklichkeit ein, auf die wir uns geeinigt haben.

Diejenigen, die die Grenzen der Konsens-Wirklichkeit überschritten haben, werden von der Allgemeinheit vielleicht als Bedrohung wahrgenommen, ja, wurden oft als ketzerisch behandelt und eingekerkert. Sie reißen ein Loch in das Gewebe dessen, was als real betrachtet wird,und berichten uns davon, wie durchlässig und fließend das Gewebe unseres Wissens ist.

In uns anderen aber wird die Furcht vor der Hölle im Jenseits oder vor der Hölle sozialer Ächtung im Diesseits geschürt, um uns kulturelle und religiöse Überzeugungen einzubläuen, damit wir unser Leben einer Gruppenidentität opfern. Unsere Angst davor, Missfallen zu erregen, verspottet oder gar getötet zu werden, ist so etwas wie ein innerer sozialer Elektrozaun, der uns wirksam im sicheren Bereich des Altbekannten hält.

 

Offenheit und Freiheit

Da wir soziale Kreaturen sind, verinnerlichen wir die soziale Konditionierung. Doch die Internalisierung sozialer Kontrolle verursacht inneren Aufruhr und führt zu Selbsthass. Wir definieren uns als Sünder, als minderwertig, unerleuchtet oder, im umgekehrten Fall, als Kinder Gottes, als erleuchtet und anderen überlegen. Manche Definitionen erzeugen Kummer und manche machen glücklich, aber alle Definitionen grenzen ein. Und an irgendeinem Punkt unseres Lebens merken wir, dass alle unsere Glaubenssätze hohl und leer sind.

Die innere Qual, von der das Hinauswachsen über alte Ansichten und Definitionen normalerweise begleitet wird, kann zwar ziemlich unangenehm sein, aber sie ist auch ein Signal dafür, dass wir bereit sind für echte Selbstergründung. Bereit, nichts zu wissen und dadurch zu unmittelbarem Wissen zu gelangen. Nichtwissen unterscheidet sich stark von blinder Unwissenheit oder Zynismus. Reines Nichtwissen ist offen und frei und bietet reichlich Energie zum Nachforschen. Reines Nichtwissen ist Geist, der aller Vorstellungen entblößt ist. Wenn man kein bestimmtes Ziel im Sinn hat, ist der Geist für Entdeckungen bereit. Das Nichtwissen als Vorbereitung auf Entdeckungen ist das Gegenteil von Dummheit. Bewusst nichts zu wissen, in aller Offenheit und Freiheit nichts zu wissen, ist die Basis für eine intelligente Selbstergründung.

 

Begegnung mit dem Tod

Die verinnerlichten Zäune unserer menschlichen Herdenmentalität bieten zwar eine gewisse Sicherheit, lassen uns aber innerlich veröden, sodass wir außerhalb unserer selbst nach Erfüllung suchen. Wir erstreben materiellen Reichtum, erfüllende Beziehungen oder gesellschaftliches Ansehen, ersehnen Wissen und Macht. Wir wollen eine gewaltige Erfahrung nach der anderen machen. Wir suchen nach Erleuchtung, als sei auch das etwas, das uns immer mehr Erfahrungen beschert. Mit all diesem Streben versuchen wir nur, den Schmerz unseres ins Stocken geratenen inneren Wachstums zu lindern.

Der offene Geist dagegen leert sich selbst von allem Wissen darüber, was Befriedigung bringen könnte. Wenn wir willens sind, alle Ideen und Dogmen fahrenzulassen, eröffnet sich die Chance zu wahrer Selbstergründung.

Auf dem Weg der Selbstergründung begegnen wir auch dem Tod. Der Tod all dessen, wer wir zu sein und zu wissen glauben, ist notwendig, wenn wir die unmittelbare und tiefste Erfahrung dessen machen wollen, was wir sind. Unsere angeborene Intelligenz legt uns nahe, dass Angst vor dem Tod allen Organismen zu eigen ist. Diese Angst führt uns weg von allem, was zur Auslöschung führen könnte, und diesen Zweck erfüllt sie gut. Die meisten Menschen wollen um jeden Preis leben. Selbst wenn wir leiden und das Gefühl haben, der Tod könnte eine Erlösung sein, klammern wir uns meist instinktiv ans Leben und fliehen vor dem Tod. Wir können jedoch erkennen, ohne die Gültigkeit dieser Ur-Angst abzustreiten, wann Gedanken, die unserer Angst vor dem Tod entspringen, uns von einem Leben in Freiheit abhalten. Um wirklich in die Tiefe zu gehen, müssen wir bereit sein, für einen Augenblick zu sterben und von allen Vorurteilen und vorgefassten Meinungen darüber, was wahr ist und wer wir sind, abzulassen. In diesem Augenblick machen wir die unmittelbare Erfahrung dessen, was ist, was jedoch für sein Dasein weder eine Definition noch eine Überzeugung oder einen Schutz benötigt.

 

Angst als reine Erfahrung

Wenn du Angst spürst und aufhörst, dir einen Begriff von dieser Angst zu machen, und sei es auch nur für einen Augenblick – welche Erfahrung machst du dann? Wenn du dir deines Körpers mit all seinen Empfindungen bewusst wirst und diesen Körper einen Moment lang nicht “Körper” nennst oder nicht als “Körper” erlebst, was erfährst du dann? Wenn wir uns diese Fragen stellen und mit unserer Aufmerksamkeit tiefer gehen, hinter das Wissen, das alle Einzelheiten festlegt, ergründen wir uns selbst. Wenn wir uns selbst ergründen, öffnen sich die inneren und äußeren Bereiche der Lebenserfahrung auf unbegreifliche Weise. Das Leben wird dann nicht ohne das Denken gelebt, aber das Denken kontrolliert nicht länger die Lebenserfahrung. Auf die unmittelbare Erfahrung folgt frische, ursprüngliche Einsicht. Der Denkprozess wird durch die Weite, die sich öffnet, zum freien Denken angeregt. Jetzt kann das Undenkbare gedacht werden, denn innerer und äußerer Raum sind nicht mehr künstlich durch das Denken getrennt.

Wenn wir der Angst auf den Grund gehen, die in gewissem Maße immer die Furcht vor dem Tod ist, haben wir die Freiheit der Wahl. Die Bereitschaft, die Angst nicht länger zu denken, sondern uns einfach der unmittelbaren Erfahrung der Angst hinzugeben, ist das Tor zu dieser Freiheit. Wenn wir uns nicht direkt mit der Angst auseinandersetzen wollen, sind wir den Gedanken ausgeliefert, die dieses Nichtwollen heraufbeschwört (“Ich könnte ja sterben, ich könnte alles verlieren, ich sollte das Schicksal nicht herausfordern, ich beschäftige mich später damit, das ist einfach zu viel für mich…”). Mit unserer Entscheidungsfreiheit können wir wählen, ob wir unseren angst-gesteuerten Gedanken gehorchen, ob wir diese Gedanken auf Kosten unserer Lebenskraft unterdrücken oder ob wir uns einen Augenblick Zeit nehmen und die Angst unmittelbar ergründen wollen.

 

Der verborgene Schatz: Das Leben entdeckt sich selbst

Angst löst Gedanken aus, die unser Erleben nach gewissen Sicherheitsstandards definieren sollen – physisch, mental und emotional. Da es keine endgültige Sicherheit im Leben gibt, machen die Angst und ihre Helfershelfer, die Gedanken, Überstunden. Der Angst auf den Grund zu gehen und gleichzeitig die dazugehörigen Gedanken loszulassen, öffnet das Tor zur Erfahrung der Freiheit.

Der Angst – und überhaupt jeder Emotion – auf den Grund zu gehen heißt, sich mit voller, ungeteilter Aufmerksamkeit auf sie einzulassen. Wir müssen alles aufgeben, was wir je über Angst gedacht haben – woher und warum sie kommt, was sie bedeutet, wie man sie wieder los wird, und die Empfindungen, die wir als “Angst” etikettiert haben, unmittelbar erfahren. Ohne die Benennung als “Angst” besteht nur ein Kraftfeld energiereicher Schwingungen, das darauf wartet, erfahren zu werden. Dieses Kraftfeld ist aus demselben Stoff gemacht wie der Entdecker des Kraftfeldes. Ob es die Angst, der Ich-Gedanke oder irgendein anderes Gefühl oder Phänomen ist, das direkt untersucht wird – immer entdeckt das bewusste Leben sich selbst.

Wir können tatsächlich alles beiseite schieben, was uns darüber beigebracht worden ist, wer wir sind, und in uns selbst nachforschen. Wir können unserer inneren Neugier folgen und auf unsere Intelligenz vertrauen. Wir können unserer inneren Neugier folgen und auf unsere Intelligenz vertrauen. Wir können uns darauf einlassen, Fehler zu machen oder sogar vollkommen falsch zu liegen, während wir unser Bewusstsein öffnen. Wir können in unserem Inneren von der gleichen Kraft und Offenheit Gebrauch machen, die ein Künstler oder Wissenschaftler bei seinen beruflichen Aufgaben nutzt. Wir können es wagen, uns zu öffnen, unsere Glaubenssätze zurückzustellen und bewusst zu bleiben, während wir dem “Stoff” einer jeden Emotion, eines jeden Phänomens, das unter dem Mikroskop unseres Forschens zum Vorschein kommt, auf den Grund gehen.

 

Der Urgrund aller Erfahrung

Auf unserer Forschungsreise können wir auch die vermeintlichen Grenzen untersuchen, die alles zu trennen scheinen. Woraus besteht die Trennung eigentlich? Sie sieht real aus, sie fühlt sich real an und in der Konsens-Wirklichkeit sind wir auch tatsächlich voneinander, von der Natur, von Gott, von der Erleuchtung, ja von allem und jedem getrennt. Aber wenn wir die Grenzen der Trennung erforschen, worauf stoßen wir dann? Wenn unsere Sinneserfahrungen nicht mehr das letzte Wort haben, gibt es dann nicht etwas anderes zu entdecken?

Wenn wir uns nicht länger an irgendeine Überzeugung halten – wie nahe sie auch einer Interpretation der Wirklichkeit kommt, die uns Trost und Halt gibt –, sind wir frei, das zu entdecken, was den Urgrund aller Erfahrung bildet. Wir können all unsere Geschichten mit der Absicht erzählen, sie zu entlarven. Wir können es wagen, die reine, ungeschminkte Nacktheit zu entdecken. Wir können entdecken, was sich verändert und was immer gleich bleibt. Und zum Schluss können wir fragen: Worauf weisen uns unsere Geschichten hin? Was kommt in jeder Geschichte zum Vorschein? Wo entspringt jede Geschichte? Wer bin ich? In der stillen Weite deines Kerns laufen alle Fäden zusammen.


Abb: © Sean Gladwell – Fotolia.com

Offenes Treffen mit Gangaji und Eli am Fr, 15.6.12, 19.30 Uhr
Ort: Freie Waldorfschule Kreuzberg, ­Ritterstr. 78, 10969 Berlin-Kreuzberg
Beitrag: 15 €
(nur Abendkasse!)
www.joyfulevents.de

Wochenend-Retreat mit Gangaji und Eli am Sa, 16. u. So, 17.6.
Ort: Gotischer Saal, Schmiedehof 17, 10965 Berlin
Beitrag: 180 €

Anm./Info:
Hannelore Rueedi, Tel. 0041-22-757 00 03 oder
hannelore@leela.org

Mehr Infos zu ­Gangaji und Eli auf www.leela.org und www.gangaji.org

Über den Autor

Avatar of Gangaji

ist eine amerikanische spirituelle Lehrerin und Autorin. Sie reist um die ganze Welt und spricht zu Suchenden jeglicher Herkunft. Ihre Botschaft ist kraftvoll, klar und einfach: Wahrer Frieden und immerwährende Erfüllung sind die wahre Natur deines Seins. Gangaji lädt dich dazu ein, die Möglichkeit zu entdecken, dein Leben in Frieden und Freude zu leben, indem du einfach bist.

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