Wir sind Meister der Unterdrückung: der Unterdrückung unserer Sehnsüchte und Bedürfnisse, unserer Gefühle und der Lebendigkeit des Körpers. Doch um aufzuwachen, müssen wir loslassen und uns in die innere Tiefe fallen lassen. Der Angst vor der Bodenlosigkeit begegnen und der Auflösung in der grenzenlosen Leere. Das mobi­lisiert enormen Widerstand, den Widerstand des Ichs, das glaubt, wenn es verschwindet, würde alles verschwinden. Über den Widerstand gegen das Erwachen

Sehnsucht und Widerstände

Da ist eine Sehnsucht, von der man nicht genau weiß, wonach. Man hat viele Dinge im Leben erreicht, auch solche, von denen man das Glück erhoffte. Aber es bleibt die Sehnsucht nach wirklicher Erfüllung, nach Lebendigkeit, Authentizität.

Auch die Sehnsucht nach Ganzheit und Eins-Sein. So begeben sich Menschen auf einen ernsthaften spirituellen Weg, der nicht in neuen gut klingenden Geschichten besteht, sondern wirkliche Veränderung und Transformation, also Aufwachen oder Erleuchtung zum Ziel hat.

Jedem begegnen dabei Blockaden und Widerstände. Wer sie nicht ernst nimmt, bleibt ziemlich sicher in ihnen gefangen. Da ist ein Teil von uns, der sich aus Angst gegen das Aufwachen wendet. Der Angst hat vor dem Unbekannten.

Der Sinn von Blockaden und Widerständen

Der Mensch hätte in der Evolution kritische Situationen, Eiszeiten und Hungersnöte nicht überleben können, gäbe es da nicht ein grundlegendes Streben nach Sicherheit.

In der Kindheit waren die entstehenden Blockierungen und Widerstände ebenfalls lebensnotwendig, denn dem Kind kamen die Gefühle und die Hilflosigkeit riesengroß und mörderisch vor.

Der Widerstand versuchte uns damals zu schützen. Doch als Erwachsene können wir mit therapeutischer und anderer Unterstützung diese Blockierungen wieder aufgeben und das volle Potenzial an Lebendigkeit zulassen.

Erwachen aus dem Widerstand

Um aufzuwachen, braucht nichts verändert zu werden. Es ist nur alles loszulassen, im Körper zuerst, in der Seele auch und vor allem im Kopf. Das kann man nicht alleine, das braucht Unterstützung.

Die Übungen und Methoden, die ich dafür in meiner Arbeit ausgewählt und entwickelt habe, entstammen zum größten Teil der westlichen Psychotherapie, von Gründern von Therapieschulen oder Richtungen wie Fritz Perls, Carl R. Rogers, Karen Horney, Erich Fromm u.a., die alle nicht nur eine Beseitigung der Probleme im Sinn hatten, sondern auch die spirituelle Suche nach Erleuchtung und Befreiung.

Der Weg zum Aufwachen besteht darin, immer mehr loszulassen und immer lebendiger und authentischer zu werden. Leben und Aufwachen sind dabei nichts Getrenntes.

Es ist im Grunde auch gar kein „Weg“, sondern ein Ankommen im Hier und Jetzt, in einer Tiefe, die man vorher nicht einmal erahnen konnte.

Was will ich eigentlich wirklich?

Ein grundlegender Widerstand richtet sich dagegen, die Sehnsucht und die eigenen Ziele überhaupt zu erkennen. Es könnte einen mit Enttäuschung konfrontieren, wenn das Ziel unerreichbar bliebe; oder die Sehnsucht könnte – wenn sie zugelassen würde – das gegenwärtige Leben bedrohlich infrage stellen, auffordern zu grundlegender Veränderung, die Angst macht.

Viele Ziele sind unbewusst; vielleicht ist das unbewusste Ziel, Liebe und Anerkennung von allen zu bekommen, von niemandem kritisiert zu werden, lebensbestimmender als die bewussten Ziele und boykottiert dann den Wunsch, erfolgreich zu sein, weil man sich dabei auch durchsetzen müsste und im Rampenlicht stünde. Wenn man nicht überzeugt ist, ein Ziel auch erreichen zu können, ist es sehr schwer, sich die Sehnsucht einzugestehen, aus Angst, ständig mit dem Scheitern konfrontiert zu sein.

Sehnsucht nach Erwachen

Da ist vielleicht die Sehnsucht nach wirklichem Ganz-Werden und Aufwachen, aber solange man nicht glaubt, selber aufwachen zu können, wird dieser Wunsch meistens wieder verdrängt. Oft ist es wichtig, aufgewachte Menschen kennen zu lernen und dabei zu entdecken:

Wenn denen das geschehen kann, dann mir ebenfalls. Auch wenn es schmerzhaft ist, ist es befreiend, sich seine Ziele und Wünsche einzugestehen; erst dann kann ich erkennen, welche Ziele mir wirklich wichtig sind, welche Ziele meinem Leben Sinn und Richtung geben sollen.

Die Frage ist: „Was will ich wirklich?“ Die nächste Frage „Wenn ich das haben werde, was ich mir wünsche, was soll es mir geben?“ zeigt die Wünsche hinter dem Wunsch. Also: „Wenn ich aufgewacht sein werde, was soll mir das geben?“.

Und: „Was muss ich aufgeben für das Ziel – und bin ich bereit dazu?“, „Was hindert mich, das Ziel zu erreichen?“ Mit diesen Fragen fängt der Prozess der Selbsterkenntnis an – und der ist sehr befreiend.

Bereit sein, alles zu fühlen

Gefühle machen Angst. Nicht nur die unangenehmen Gefühle. Auch zu viel Freude macht Angst zu explodieren, aus der Haut zu fahren. So werden auch Freude und Ekstase runtergedimmt. Es ist die Angst, das Gefühl nicht auszuhalten, den Schmerz, die Angst.

Auch die Angst, dass die Wut zerstörerisch wäre, ließe man sie zu.
Der Widerstand gegen das Fühlen richtet sich gegen das Leben selbst, machen doch die Gefühle in erster Linie den Reichtum des Lebens aus, die Heiterkeit, die Freude, die Lust, aber auch die Trauer und der Schmerz.

Für das kleine Kind wirkten Gefühle damals wirklich bedrohlich, die Angst, die Hilflosigkeit und der Schmerz, wenn die Liebe oder das Lieben-Dürfen brüchig waren. Zu oft auch wurden die eigenen Gefühle von den Anderen nicht ernst genommen oder wir wurden ausgelacht.

Um nicht zu fühlen, hat das Kind den Atem angehalten, Kinderlieder gesungen, Gefühle weggeredet oder sich irgendwie abgelenkt, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Widerstand gegen das Erwachen: Widerstand ist Angst

Der Widerstand ist Angst. Er richtet sich gegen das Fühlen als solches und gegen einzelne Gefühle. Einer kann vielleicht Traurigkeit fühlen, aber keine Wut. Eine andere zwar Angst, aber für sie ist der Schmerz ganz unerträglich.

Manch einer verdrängt in einer Situation Gefühle und Bedürfnisse und erlebt sie erst später in der Erinnerung, weil das sicherer scheint.

Wenn der spirituelle Weg von Meditation und Visualisierungs-Übungen bestimmt ist, werden Gefühle ebenfalls oft verdrängt oder durch das Beobachten nur von außen wahrgenommen und dadurch dissoziiert.

Erwachen ist Geschehenlassen

Aufwachen geschieht jedoch durch vollständiges Loslassen und Geschehenlassen. Der Wechsel vom Modus des Machens, den wir in der praktischen Welt sehr wohl brauchen, zum Modus des Geschehenlassens ist die entscheidende Veränderung, die Aufwachen möglich macht.

Dabei auch alles so anzunehmen, wie es ist, alle Gefühle so anzunehmen, wie sie auftauchen. Sie wirklich zu fühlen, manchmal auch zu erleiden, nicht sie bloß zu beobachten. Dadurch geschieht eine tiefe innere Lösung und man schleppt sie nicht mehr mit sich herum.

Blockierungen und körperliche Verspannungen

Wenn der Körper angespannt, der Atem eng und flach ist, wird Loslassen unmöglich. Dann kann man zwar alles fühlen wollen, aber es ist faktisch unmöglich. Als Kind hat vielleicht einer früh gelernt, dass dann, wenn der Atem angehalten wird und flach bleibt, Gefühle nicht so bedrohlich hochkommen.

Solche Erfahrungen verdichten sich zu unbewussten Grundüberzeugungen – viele nennen sie „Glaubenssätze“ – etwa: „Ich darf keinen Fehler machen, weil ich sonst kritisiert, ausgelacht und ausgeschlossen werde“ oder eben „Ich muss meine Gefühle kontrollieren, weil sie sonst so stark hochkommen, dass ich es nicht aushalten könnte“.

Diese Grundüberzeugungen verursachen genauso wie die einzelnen unterdrückten Gefühle chronische Körperanspannungen. Es ist die Angst, Gefühle und so auch die Angst nicht aushalten zu können. Erst, wenn man sich Stück für Stück den Gefühlen nähert, kann man entdecken, dass die eigene Fähigkeit, sie auszuhalten, viel, viel größer ist, als man vorher dachte.

Die Bedeutung von Körperarbeit für das Erwachen

Es ist also Körperarbeit nötig, in der der Muskelpanzer schmelzen kann, Kontrolle aufgegeben wird und das lange unterdrückte Gefühl und die damalige Situation – vielleicht die unterdrückte Wut und der Schmerz – auftauchen dürfen und die einengenden Grundüberzeugungen sich langsam auflösen.

In meiner eigenen Arbeit und in den von mir entwickelten „7 Schritten zum Aufwachen“ ist eine Körper-Gestalt-Therapie integriert, in der man mehr als in anderen Körpertherapien lernt, die Anspannungen selber und von innen her zu lösen.

Ich vermittle in meinen Retreats, Seminaren und Fortbildungen die Methoden der Körperarbeit und andere wichtige Übungen und Methoden, sodass einige dann zu zweit (Partnerarbeit) und viele davon auch alleine genutzt werden können.

Gerade in der Partnerarbeit, in der jeder auch mal der Begleiter ist, lernt man nicht nur den anderen zu begleiten, sondern auch sich selber; dadurch wachsen die Selbstannahme, die Liebe zu sich selbst und das Selbstvertrauen.

Wenn bei vielen spirituellen Lehrern die Menschen nur im Satsang sitzen, zuhören und Fragen stellen, möchten sie vielleicht alles fühlen, aber es bleibt bei dem Wunsch. Es ist Persönlichkeits-Arbeit und vor allem Körperarbeit zur Lösung der Blockierungen nötig.

Die zentrale Blockierung: die Angst vor dem Tod

Solange die Angst vor dem Tod unterdrückt ist, kann man weder ganz lebendig werden noch aufwachen. Viele ­aktuelle Wahrnehmungen und Erfahrungen erinnern an die eigene Begrenztheit und den möglichen Tod, so dass diese dann aufgrund der unbewussten Abwehr nur halb wahrgenommen werden können.

Dadurch entsteht eine chronische Grundanspannung, jede Erfahrung und die eigene Lebendigkeit bleiben eingeschränkt. Loslassen – und damit das Aufwachen – ist nur möglich, wenn ich mich mit dem Tod wirklich befasse und der Todesangst begegne.

Wenn der Tod dann als die Gewissheit unseres Lebens und auch als Tor in das Unbekannte angenommen worden ist und ich bereit bin zu sterben – selbst wenn es im nächsten Augenblick sein sollte –, geschieht eine tiefe innere Entspannung. Ein großer Teil des Weglaufens und Ablenkens fällt weg. Die Angst vor dem Tod ist darum eine der größten Herausforderungen – aber auch Chancen – unseres Lebens.

 


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2 Responses

  1. Wolfgang Holler
    Bereitschaft ist schon vorhanden

    Ganz wichtig ist für mich aus eigener Erfahrung ergänzend zu erwähnen, dass bei aller Bereitschaft , Gefühle zu fühlen, es zunächst immer noch die Bereitschaft einer erscheinenden Identität ist, die Fortschritte macht. Da ist absolut nichts „Falsches“ dran.

    Wichtig ist für mich unter ganzheitlichem Aspekt auch die Bereitschaft das Verstehen tiefer sinken zu lassen. Es ist das WIRKEN LASSEN einer tiefen Überzeugung in mir, dass die Bereitschaft schon immer vorhanden ist. Und diese Überprüfung muss nicht gemacht werden, sie zeigt sich als Bewusstheit oder nicht.

    Antworten
    • Friederike
      Eine andere Ansicht

      Lieber Christian Meyer,
      eins in ihrem Text überzeugt mich nicht: Sie schreiben, dass wir Hilfe benötigen, das wir nicht allein erwachen können. Das stimmt so nicht. Wir konnte es Jesus oder Buddha? Wie konnte es der erste erwachte Mensch auf dieser Welt?
      Es kann auch ohne Hilfe geschehen. Es ist dann zwar um einiges schwieriger und derjenige benötigt eventuell etwas mehr Zeit. Aber dennoch. Es ist auch allein zu schaffen.
      Gleichzeitig ist es wunderbar, dass es viele unterschiedliche Methoden gibt, dass wir die religiösen Texte lesen können, an denen wir uns entlanghangeln usw.
      Alles Liebe
      Friederike

      Antworten

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