Für viele Menschen ist der spirituelle Weg kein Pfad der Selbstliebe, sondern ein permanenter Krieg gegen sich selbst. Egal ob die Persönlichkeit verbessert oder das Ego ausgerottet werden soll – irgendwas ist immer falsch. Marcus von Schmude plädiert dagegen für ein empathisches Willkommenheißen unserer Unvollkommenheit und lädt die bisher bekämpften Dämonen zum fröhlichen Tanz ein.

 

Das gelobte Land lag irgendwie schon immer jenseits. Jenseits der Meere sollten Milch und Honig fließen. Als die Konquistadoren jedoch ihre neuen Welten betraten, bedeutete das für die diesseitig dort Lebenden nichts anderes als Gemetzel und Versklavung (das Ganze natürlich im Namen des Gottes der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit). Und alles, was anders war, was sich nicht fügte, wurde vernichtet oder den Vorstellungen der Eroberer gleichgemacht.

In letzter Zeit suchen viele von uns das gelobte Land nicht mehr jenseits der Ozeane, sondern in ihrem eigenen Inneren. Und wir glauben stets, es liege jenseits dessen, was wir heute sind. Psychologie! Spiritualität! Hurra, wir überwinden uns. Doch seltsam: Irgendetwas ist in seinem Wesen gleich geblieben. Denn die Art, wie wir die eigenen Seelenwelten erobern und zerfurchen, hat noch immer etwas Gewaltsames. Etwas vom Kontrollzwang Gequältes. Im Namen des inneren Friedens gehen wir mit uns ins Gericht und stellen fest: Wir müssen anders werden! Nie sind wir so, wie wir sein sollten. Da walten noch immer Kräfte, die wir nicht im Griff haben. Die ihr Eigenleben führen. Die sich unserer Herrschaft entziehen. Wir sind wütend, angstvoll, neidisch, traurig, gierig, voller gewaltsamer oder trüber Gedanken und überhaupt geistig etwas eingeschränkt. Unser Inneres ist ein Dämonenpfuhl der Unvollkommenheit. Wir verkörpern nur allzu selten reine Liebe, das Licht des Erzengels Gabriel oder das unbefleckte Zeugenbewusstsein. Und wir mögen uns dafür nicht leiden. Oder dafür nicht, dass wir es noch immer nicht geschafft haben, uns dafür nicht mehr nicht leiden zu können.

 

Scheitern am Ideal

Puh! Wie überaus anstrengend. Auch die schönste Vision erheben wir zum Ideal und geißeln uns dann selbst, weil wir es nie erreichen, weil wir immer hinter unseren Ansprüchen zurückbleiben. Wir Konquistadoren der Selbst-Innenräume! Offensichtlich sitzen viele von uns ganz schön in der Tinte. Irgendwie braucht es anscheinend ein tiefes Durchatmen. Eine andere Ausrichtung. Wo ist die Tür, die aus dem Irrsinn führt? Gibt es ein Leben jenseits des spirituellen Selbstoptimierungs-Terrors? Und wie könnte es beschaffen sein?

Es mag skandalös klingen, doch viel spricht dafür, dass die nächste Welt, wenn wir ihr nicht durch Selbstzerstörung auf der Ebene der Materie zuvorkommen, eine a-moralische sein könnte. Damit ist nicht gemeint, dass wir es nicht mehr überwindenswert finden, wenn Kinder sich mit Maschinengewehren niedermähen oder jedes Jahr in Deutschland 300.000 Vergewaltigungen begangen werden. Damit ist gemeint, dass wir zu einer Haltung finden, die den Akzent nicht länger auf moralische Urteile, sondern auf empathisches Verstehen legt. Wenn schon ein Jenseits – dann jenseits von “richtig” und “falsch”.

 

Mensch sein

Hinter jedem Handeln liegt ein guter Grund, sagt Marshall Rosenberg, der Grandseigneur der Gewaltfreien Kommunikation – selbst wenn das Handeln noch so beklagenswert und tragisch fehlgeleitet ist, “fehlgeleitet”, weil es nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt und führen kann. (Wenn ich zum Beispiel Liebe bekommen will, indem ich sie von meiner Partnerin einfordere; oder wenn ich die halbe Welt in Schutt und Asche lege im Versuch, das schwarze Loch in mir mit absurder Anerkennung zu füllen.) Bei genauer Untersuchung solcher Handlungen treffen wir am Ende stets auf übergangene Gefühle und unerfüllte Bedürfnisse. Dann können wir einander anbieten, das Gefühl sich zeigen zu lassen, indem wir ihm einfach Raum geben. Und wir können fragen, ob es schönere und erfolgversprechendere Möglichkeiten gibt, das dahinter liegende Bedürfnis zu erfüllen. Wie wäre es, wenn wir erst einmal lernten, auf diese fast vergessene Weise Mensch zu sein, bevor wir uns heillos mit dem Ideal überlasten, jenseits des Fühlens, Wollens und Brauchens zu gelangen? 

 

Teufelsaustreibung ade!

Für die Morgenland-Expeditionen zu uns selbst kann dies eine ungeheure Entspannung bedeuten. Wo ich bisher auf lauter Feinde traf, wenn ich mein Inneres vorbehaltlos betrachtete, auf lauter miese Eigenarten und finstere Motive, finde ich jetzt nurmehr Kräfte vor, die alle ihren Sinn haben und ihre verstehbare Geschichte. “Guten Morgen, meine ewige Nörgelei! Hallo alter Neinsager! Du also wieder. Wie geht’s dir heute? Was möchtest du mir sagen? Können wir gemeinsam etwas Fruchtbares tun? Wollen wir nachschauen, wie du entstanden bist? Ach, du willst einfach nur mal so ein bisschen da sein? Okay, dann los!”

Es ist offenbar ein unverrückbares Gesetz im Reich der Seele, dass es unmöglich ist, etwas zu überwinden, das wir unbedingt überwinden wollen. Bewegter Frieden hingegen stellt sich ein, wenn wir den Rumpelwichten und Alpträumen in uns Existenzberechtigung geben. (Keine Tricks! Ich meine: wirkliche Existenzberechtigung.) Im Reich der Psyche stärken wir, was immer wir bekämpfen. Und wir lassen weich werden, was wir willkommen heißen. Seelenwölfe, die da sein dürfen, beißen uns nicht tot. Lasst uns doch das Zeitalter der Teufelsaustreibungen endgültig beenden. Und stattdessen mit dem ganzen wilden, irren, unheimlichen Bestiarium in uns einen verqueren Tanz beginnen. Es könnte der Anfang einer entzückenden Freundschaft sein – der bedingungslosen Freundschaft mit uns selbst. Denn nur Bedingungslosigkeit heilt bekanntlich das wunde Herz. Aber bitte – kommt jetzt nicht auf die Idee, das schon wieder zu einem moralischen Ideal zu erheben!

 


“Komm, komm,
wer immer du bist,
selbst wenn du
deine Schwüre
tausendfach gebrochen hast …”
Rumi, bei der Gründung
des Sufi-Ordens

 

Über den Autor

Avatar of Marcus von Schmude

(*1968) hat Politologie und Philosophie studiert (M.A.). Er arbeitet(e) als Journalist (u.a. für die ZEIT) und Lektor sowie als Seminarleiter für Tanztheater und Körperarbeit. Seine Leidenschaft gehört der Erweckung des Möglichkeits-Sinnes. Seit 2009 lebt er in der ZEGG-Gemeinschaft.

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3 Responses

  1. Corinna

    Lieber Marcus,

    wo bist Du? Was machst Du? Wer, wie, was bist Du? Wo finde ich Dich? Nein, ich bin nicht bei Facebook. Nein, nein, und nochmals Nein. Und Du bist nicht im Internet. Außer bei Facebook, mit Schulabgangsklassen von Anno Dunnemals, mit ZEIT-Artikeln von 2001 und mit diesem einen einzigen Beitrag von 2010 (damit dafür ungefähr 20x). Wenn Du das liest: melde Dich! Ich will Dir schreiben. (Damit ich jetzt nicht von Spam überschwemmt werde): vorname.nachnameKlammeraffeJPberlin.de. Alles Liebe

    Corinna

    Antworten
  2. 2012spirit.de

    Sie sprechen mir aus der Seele, schöner Artikel!
    Wahrscheinlich sind diejenigen, die sich auf dem spirituellen Weg befinden einfach viel zu streng mit sich selbst. Sobald man ein Problem erkannt und durch Selbsterkenntnis möglicherweise gelöst hat, taucht schon die nächste Herausforderung an sich selbst auf. Und das Spiel beginnt von Neuem! Wir sollten einerseits an uns arbeiten, andererseits das Dunkle in uns akzeptieren, denn ohne Dunkel gibt es auch kein Licht.

    http://www.2012spirit.de

    Antworten
  3. Yvelle von Alzheim

    …ein wundergeiler tief-schöner ARTikel,
    frechfreie Wortzeichung. Schön. Yes!
    Bitte weiter so. Tiefe Brüder sind in Sicht 😉

    Yvelle von Alzheim | YvA

    Erdenwärts

    Lockruf tiefer Seelentränke
    so ergriff uns göttlich‘ Saat
    als die Zelle sich uns schenkte
    just das Herz benommen ward

    Ausgeburt der innigst‘ Stunden
    wild – so unverfänglich frei
    liebten wir uns hundert Runden
    tausend Teufel einerlei

    In der Liebe liegt die Freiheit,
    Kraft und selig‘ Hoffnungstanz
    unsre Sehnsucht hin zur Einheit
    macht uns heil – und wieder ganz

    Und wir treiben tief im Glauben
    durch den Weltenseelengang
    pflücken schönste Lebenstrauben
    preisen fühlend‘ Lobgesang

    Mit den Engeln lasst uns fliegen
    auf und ab – durch schönsten Hain
    höchste Scharen endlos siegen
    erdenwärts mit heilig‘ Schein

    Ja, wir glauben an die Lichter
    die uns leiten durch den Tod
    deshalb jauchzen wir als Dichter
    auf der Erde – ohne Not.

    Lasst uns singen, tanzen, lachen
    immerfort des Lebens lieb
    nur als Könige und Narren
    überwinden wir den Trieb.

    Yvelle von Alzheim

    Antworten

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