Unsere Gefühle sind oft widersprüchlich, senden aber klare Gefühlsbotschaften aus…

Von Kirsten Scherbaum

Ein Gefühl für alles und jede Lebenslage. Das hätte doch was: Es wäre irgendwie praktisch und einfach. Das würde den scheinbar komplexen und diffusen Wirrwarr in uns vereinfachen. 

Solche Gedanken gingen mir damals in der Klinik bei meinen täglichen Spazierrunden durch den Kopf. Als mir mein Lieblingspfleger gesagt hatte, dass eine Depression für ihn „verdrängte Gefühle“ bedeutet, wusste und spürte ich damals für mich intuitiv, dass er damit Recht hatte. Aber was ist das eigentlich – ein Gefühl? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen und erklären, was Gefühle sein sollten.

Gefühle gehören wie das Denken, Atmen, Sprechen, Verdauen etc. zu uns

Falls es dir so oder ähnlich geht, kann ich dich gut verstehen. Kaum jemand von uns hat ja gelernt, wie wir bewusst und achtsam mit unseren Gefühlen umgehen können. Sätze wie „Brüll doch nicht schon wieder so!“, „Warum heulst du jetzt?“ oder „Davor brauchst du doch keine Angst zu haben.“ kennen viele. Dabei ist der bewusste Umgang mit unseren Gefühlen in meinen Augen sehr wichtig. Wie ich es schaffte, mir zu erschließen, was Gefühle eigentlich bedeuten, teile ich mit dir daher in diesem Artikel. Du erfährst, welche Botschaften hinter den Gefühlen Wut, Hass, Verzweiflung, Angst, Neid, Freude, Eifersucht, Missgunst, Scham und Trauer in meinen Augen stecken.

Dabei ist mir folgendes wichtig: Diese Herleitung und „Übersetzung“ der verschiedenen Gefühle ist kein wissenschaftliches Ergebnis. Ich habe keine 10.000 Leute befragt, um meine Gefühlsbotschaften zu bestätigen. Doch ich wende dieses „Vokabelsystem“ schon seit rund einem Jahr täglich für mich an und komme damit sehr gut zurecht. Ich habe deshalb auch keine Angst mehr vor meinen Gefühlen. Denn ich weiß: Sie meinen es alle gut mit mir.

Wie bitte, was?! Hass soll ok sein??

Ich hatte schon in der Klinik begonnen, meinen Lieblingspfleger mit Fragen zu Gefühlen zu löchern. Was sind Gefühle? Wozu brauche ich sie? Was wollen mir einzelne Gefühle sagen? Warum habe ich Gefühle? Während dieser vielen Gespräche merkte ich schnell, dass das Thema Gefühle nirgends in mir richtig „andocken“ wollte. Das ganze Thema war für mich eine einzige Fremdsprache, zu der ich keinen richtigen Zugang fand. 

Mit diesem heftigen Sturm in mir kam ich nicht klar. Ich erschrak zutiefst vor meinem Innenleben. Was ging da bitte in mir ab? „Das ist meine Mama! Ja hallo, habe ich sie nicht mehr alle?!“

Ich rang mit mir; ja, ich lehnte mich wegen meiner Gedanken ab. Gottseidank konnte ich kurz darauf mit meinem Lieblingspfleger sprechen. Ich schämte mich bis ins Bodenlose, als ich ihn kleinlaut fragte: „Darf ich meine eigene Mama hassen?“ 

Und dann passierte etwas, wofür ich für immer dankbar sein werde. Er sah mich an und sagte: „Hass bedeutet nichts anderes als Abstand.“

Ja, Hass zu fühlen, ist völlig ok und normal

Diese Aussage war ein entscheidender Wendepunkt für mich. Damit waren drei wichtige Gefühlsbotschaften verknüpft:

  • Ich DARF Hass fühlen und bin deshalb kein schlechter Mensch.
  • Der Hass, den ich im Gespräch mit meiner Mama empfunden hatte, war berechtigt.
  • Ein Gefühl (hier im Beispiel der Hass) will mir etwas sagen.

Meine Mama hatte damals eine Grenze übertreten. Und mein Gefühl (Hass) warnte mich, gut auf mich zu achten und mich dem Stress nicht auszusetzen, welche ihre geplanten Unternehmungen für mich bedeutet hätten. Die klare Gefühlsbotschaft des Hasses war also: Gehe in dieser Situation auf Abstand.

Ich verstand also, dass mir Gefühle etwas sagen möchten und sie mir nichts Böses wollen. Und wie beim Vokabellernen begann ich in der Folgezeit, nach „Übersetzungen“ der einzelnen Gefühle zu recherchieren. Was steckte hinter Scham, Neid, Angst, Wut, Eifersucht, Missgunst, Freude, Trauer, Hass und Verzweiflung? Ich recherchierte viel und prüfte für mich selbst immer wieder, ob diese übersetzten Gefühlsbotschaften für mich stimmten. 

Gefühlsbotschaften wie Verzweiflung

Du warst wahrscheinlich auch schon mal in einer Situation, in der du dich verzweifelt gefühlt hast. Das ist für mich ein Gefühl, das man keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen sollte. Sich ausgeliefert, hilflos, orientierungslos, von nackter Angst verfolgt zu fühlen, kann sich äußerst bedrohlich anfühlen. Ich kenne das zu gut. Ich wusste ja lange nicht, was mir Verzweiflung eigentlich sagen möchte. Dadurch geriet ich immer wieder in Situationen, die ich als (sehr) bedrohlich, wenn nicht sogar lebensbedrohlich, empfand. Das waren kraftzehrende Momente und Phasen, die beispielsweise in erschöpfende Panikattacken mündeten. In meinem Erfahrungsbericht zur Überwindung meiner Depression schreibe ich darüber.

Es brauchte damals einigen Mut, mir meine Verzweiflung einzugestehen. Es ist nicht sehr angenehm, sich bewusst zu machen, dass man mit sich selbst und dem eigenen Leben gerade nicht klarkommt. Außerdem wusste ich ja nicht, was mich erwartete, wenn ich nach der Botschaft der Verzweiflung recherchierte. Zum Glück habe ich es aber getan. Verzweiflung bedeutet erstmal nichts anderes, als das Bisherige anzuzweifeln (1). Und bei mir gab es damals sehr viel, was angezweifelt werden wollte. Erst durch dieses Verständnis konnte ich mich erstmals Ende 2019 mit den Fragen beschäftigen:

  • Wer bin ich?
  • Welche Bedürfnisse habe ich?
  • Was ist eine gute Richtung für mein Leben?

Ich zweifelte also meine bisherige Lebensweise an. Und das war gut so. Auch in den Folgemonaten spürte ich ja in schwierigen Aufarbeitungsmomenten immer wieder die Verzweiflung. Doch die Empfindungen hatten ihre Übermacht verloren, denn ich wusste nun: „Die Verzweiflung will mir sagen, dass ich mich irgendwie verstrickt habe. Sie meint es gut mit mir.“ So überstand ich viele knifflige Aufarbeitungsmomente. 

Gefühlsbotschaften

Ich finde es also sehr wichtig, auf die Gefühlbotschaften zu achten. Außerdem ist mir wichtig: In meinen Augen gibt es keine „negativen“ und „positiven“ Gefühle. Jedes Gefühl will mir etwas sagen und mich mit meinen dahinterliegenden Bedürfnissen verbinden. Und: Fühlen ist nicht Verhalten. Wenn ich Wut spüre, schreie und schlage ich nicht automatisch (oder ignoriere mein Gegenüber). Wenn ich Missgunst fühle, bin ich nicht automatisch gezwungen, zu mobben und auszugrenzen. Wenn ich Hass spüre, bin ich nicht gezwungen, andere zu beleidigen, Eigentum anderer zu zerstören oder Menschen zu verletzen. Auch wenn das Fühlen unser Verhalten beeinflusst, sind wir aus meiner Sicht unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert.

Quelle:

Autorin

Mein Name ist Kirsten Scherbaum. Nach meinem psychiatrischen Klinikaufenthalt im Herbst 2018 bin ich einen intensiven Weg gegangen, um nachhaltig meine Depression und weitere Begleiterkrankungen zu überwinden. Dabei stellte ich mich bewusst meiner (frühesten) Kindheit und Jugend, den Prägungen und Verletzungen. Im März 2020 wusste ich: Ich habe es geschafft. Auf meiner Webseite https://www.unverschlossen.de/ gebe ich seit Dezember 2020 meine Erfahrungen weiter. Dabei geht es auch um die Themen Gefühle, Selbstliebe und Körperbild. 

Kirsten Scherbaum

Hinweis: 

Der Artikel wurde mit kleinen Änderungen am 22.03.2021 unter folgendem Link veröffentlicht: https://www.unverschlossen.de/die-gef%C3%BChlsbotschaften-was-bedeuten-gef%C3%BChle/

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