Was glaubt der IS wirklich?

Die Ideologie des IS: Was glaubt der islamische Staat? Wofür kämpft der IS? Und hat das noch etwas mit dem Islam zu tun?

IS-Terror in Europa

Nun ist der Terror des IS bis in eine europäische Hauptstadt vorgedrungen und der nahe Osten plötzlich wirklich so nah, wie sein Name es suggeriert. Europa hat Angst vor einer schwarzen Macht, die plötzlich in ihre heile Konsumwelt hereinbricht. Angst schürt vor allem die erbarmungslose, fast diabolische Kaltblütigkeit, mit der die IS-Kämpfer vorgehen. Kann man verstehen, was diese Menschen glauben?

Der IS – ein Produkt des Westens?

Es dürfte auch unbedarften Beobachtern inzwischen klar sein, dass der IS nicht aus dem Nichts entstanden ist. Die Ursachen seiner Entstehung reichen viele Jahrzehnte zurück – und überall hatte der Westen seine Finger kräftig mit im Spiel.

Wie viele andere regionale Mächte wurde auch der IS von Westmächten lange Zeit mindestens geduldet, um geopolitische Strategien durchzusetzen – und wie schon zuvor im Falle der Taliban und von Al-Quaida kämpfen die USA und ihre Verbündeten nun gegen Geister, die sie mehr oder weniger selbst gerufen haben. Viele Kritiker bezeichnen den IS deshalb – halbwegs zurecht – als ein Produkt des Westens, denn ohne die zahllosen Kriege der USA, ohne den Segen westlicher Geheimdienste und ohne die Waffen auch aus Deutschland hätte der IS nicht das werden können, was er heute ist.

Welche Rolle spielt der Islam?

Obwohl der Westen den radikalen Islam selbst mit erzeugt hat – und der IS allein aus dem Islam heraus darum nicht zu erklären wäre – bleibt doch offensichtlich, dass der Islam eine wichtige Rolle spielt. Denn ohne den Islam würde es den IS in dieser Form auch nicht geben.

Die Ideologie des IS ist, wenn überhaupt, eine sehr spezielle Ausformung des Islam. Es wäre ebenso falsch, ihn als repräsentativ für den Glauben Millionen friedlicher Muslime zu sehen, wie zu behaupten, diese Ideologie würde mit dem Islam rein gar nichts zu tun haben. Tatsächlich nimmt die Ideologie des IS den Islam weit wörtlicher als viele andere Strömungen. Die religiösen Vordenker des IS sind ehemalige Al-Qaida-Philosophen und gehören zu den gelehrtesten Kennern des Islam und Korans überhaupt. Das gesamte Gedankengebäude ist hermetisch und – bei entsprechender Auslegung – durch den Koran, Sharia und Hadith lückenlos zu belegen. Die Aktionen des IS folgen dem Vorbild ihres Propheten teilweise mit akribischer Sorgfalt auf das Satzzeichen genau.

Andererseits ist der IS eine Art „Weltuntergangs-Sekte“ und es ist vor allem eine inoffizielle, apokalyptische Ideologie, die den IS trägt und die mit dem Islam wiederum recht wenig zu tun hat. Was glaubt der IS also wirklich? Die erste Antwort ist erstaunlicherweise: gar nichts.

Ungläubige Gläubige

Journalisten, die gefangengenommene IS-Kämpfer interviewen, müssen immer wieder erstaunt feststellen, dass diese fast nichts über den Islam wissen, sondern nur sehr bruchstückhafte Kenntnis der IS-Ideologie wiedergeben können. Der Anschein überzeugter Gotteskrieger täuscht offensichtlich und die Motivation ist oft sehr viel profaner: Geld.

Einige IS-Kämpfer sind so etwas wie Söldner, und scheren sich wenig um die Ideologie ihres Geldgebers. Ein weiter Teil sind Kriegsgefangene, die vom IS zum Kämpfen gezwungen werden und ebenfalls den Glauben ihrer Unterdrücker nicht teilen – Deserteure werden hingerichtet.

Eine weitere erstaunliche Entdeckung ist, dass mindestens ein kleiner Teil der IS-Kämpfer offenbar um des Kämpfens willen kämpft. Wo sonst auf der Welt, kann man im Drogenrauch (die IS-Kämpfer bekommen hochdosierte Amphetamine) Menschen töten und Frauen vergewaltigen und wird noch dafür bezahlt? Es ist ein Realität gewordenes Videospiel. Symbolisch dafür mag ein britischer IS-Kämpfer stehen, der sich vor seiner Abreise noch schnell „Islam für Dummies“ bei Amazon bestellte, um wenigstens die Grundbegriffe des Islam zu kennen.

Entsprechend geändert hat sich die Rekrutierungs-Strategie des IS: Religiöse Kenntnis ist nicht mehr Teil der Bedingungen und nur noch kleiner Teil der Ausbildung. Der Schwerpunkt liegt heute auf Abenteuer, Aktivismus, Macht, Zugehörigkeit und spirituellem Sinn. Ein offenbar attraktives Angebot, für gedemütigte, gelangweilte und wütende junge Männer. Religion ist nur noch ein emotionales Vehikel.

Drittens antworteten vor allem die irakischen IS-Häftlinge, sie hätten vor allem gegen die USA und die Regierung kämpfen wollen, weil die USA den Irak zerstört hätten. Die Sanktionen seit den 90er Jahren gefolgt von den brutalen Angriffskriegen haben ihre Heimat im Chaos versinken lassen und Millionen Irakern das Leben gekostet.

„ISIS ist die erste Gruppe, seit dem Versagen von Al Qaeda, die diesen gedemütigten und wütenden jungen Männern eine Möglichkeit bietet, ihre Würde, ihre Familie und ihren Stamm zu verteidigen. Dies ist keine Radikalisierung für die Ideologie des IS, sondern die Hoffnung auf einen Ausweg aus ihrem unsicheren und unwürdigen Leben, die Verheißung eines Lebens voller Stolz, als irakischer, sunnitischen Araber – und das ist nicht nur eine religiöse Identität, sondern genauso eine kulturelle, stammesmäßige und nationale.“ schreibt die Forscherin Lydia Wilson von der Oxford University.

Viele der IS-Kämpfer sind also weit weniger religiös motiviert, als es scheint, und diese verblüffende Ungläubigkeit setzt sich teilweise vielleicht sogar bis in die höchsten Führungsebenen des IS fort. Denn weite Teile der IS-Führung bestehen aus ehemaligen Militärs und Geheimdienstchefs von Saddam Hussein, welche nach der US-Invasion durch Schiitische Personen ausgetauscht wurden und die mit dem IS eine neue sunnitische Machtbasis aufbauen wollen. Diese Gruppen waren bisher kaum für ihren flammenden Glauben bekannt und alles andere als Schriftgelehrte: Es sind politische Personen mit jahrzehntelanger Erfahrung in Kriegsführung der Strukturierung von Unterdrückungssystemen. Glauben diese Menschen die Ideologie, oder ist der IS nur ein Werkzeug für sie?

Trotzdem ist die apokalyptische Ideologie des IS, das tragende Element, Anziehungspol, vereinende Philosophie, Rechtfertigung und Unterdrückungsmechanismus zugleich. Und man darf davon ausgehen, dass ein wichtiger Teil der IS-Führung tatsächlich an die apokalyptischen Visionen des IS glaubt. Wie sehen sie aus?

Das Kalifat des IS

Der 7-Stufen-Plan der Islamisten
(veröffentlicht im Jahr 2005)

  1. Bis 2003: Anschläge im Westen sollen die USA zu Kriegen gegen muslimische Staaten provozieren und so mehr muslimische Menschen radikalisieren.
  2. Bis 2006: Umwandlung der Jihad-Zellen zur einer Massenbewegung im Irak.
  3. Bis 2010: Expansion nach Syrien. Von dort Angriffe auf Israel.
  4. Bis 2013: Angriff auf die korrupten arabischen Regierungen
  5. Bis 2016: Ausrufen eines islamischen Kalifats. Errichten einer neuen Ordnung.
  6. Bis 2018: Finale Schlacht zwischen dem Kalifat und den Westmächten.
  7. Bis 2020: Endgültiger Sieg und Weltherrschaft.

    [Quelle: Fuad Hussein Al-Zarqawi: The Second Generation of Al Qaeda]

Wie kaum zu übersehen, ist das Kalifat eines der Herzstücke der IS-Ideologie. Das Kalifat ist ein recht umstrittenes Element des Islam und kommt im Koran nur implizit vor. Während eine moderate, spirituelle Auslegung des Islam darin eher so etwas eine Äquivalent zum christlichen „Reich Gottes auf Erden“ versteht, wird es von Gruppierungen wie dem IS als eine wörtliche, weltliche Herrschaft des Islam verstanden. Ein Kalifat kann dabei keine Grenzen haben, sondern sein Anspruch ist universell.

In diesem Verständnis ist das Kalifat ein weltlicher muslimischer Staat, in dem die Gesetze der Sharia ohne Abstriche und wörtlich befolgt werden müssen. Das Kalifat ist nach dieser Lesart Heimat aller Muslime, seine Errichtung ihre Pflicht und eine fehlende Mitwirkung dabei eine schwere Sünde.

Der größte Unterschied des IS zu allen anderen radikalen islamistischen Gruppierungen ist, dass diese, wie zum Beispiel Al-Qaida, sich immer als Vorbereitung auf ein weltliches Kalifat verstanden, das in ferner Zukunft einmal Wirklichkeit werden sollte. Tatsächlich ist der IS, der aus Al-Qaida und dem irakischen Geheimdienst hervorging, die fünfte Phase eines sehr alten 7-Stufen Planes von Al-Quaida.

Die Vorgänger des IS waren versteckt, flexibel und örtlich nicht gebunden. Der IS hingegen verwirklicht das Kalifat und er braucht einen Staat, ein Territorium und absolute Öffentlichkeit, um seine Legitimität zu behalten. Ein Kalifat ohne ein Reich ist keines. Erst das Machtvakuum im Irak hat damit die Entstehung des IS in dieser Form überhaupt möglich gemacht – nirgendwo sonst wäre ein Kalifat dieser Art denkbar gewesen.

Viele salafistische Prediger legen das Kalifat als einen festen Bestandteil des Islam aus: Wenn ein Kalif aus dem Stamm Mohammeds (was auf Baghdadi angeblich zutrifft) das Kalifat ausruft, so ist es nach dieser Auslegung heilige Pflicht jedes Muslime, diesem Kalifen die Treue zu schwören. Der als „baya’a“ bezeichnete Schwur ist – nach dieser Auslegung – enorm wichtig, weil ein Muslim, der diesen nicht leistet, als Apostat oder Ungläubiger gilt, worauf wiederum nach dieser Auslegung die Todesstrafe steht.

Das Kalifat wird als die einzig rechtmäßige Regierung und einzig wahre Heimat der Muslime angesehen – überall sonst lebt der Muslim nach dieser Lesart quasi im Exil unter Gottlosen.

Diese Ansicht ist unter Salafisten recht verbreitet und erklärt, warum der IS einen solchen Zustrom an Unterstützern aus dem Westen erhalten hat: Nach dieser Theorie ist es nicht eine Option, sondern die Pflicht jedes Muslime in das Kalifat zu emigrieren, sobald es gegründet ist – nur so kann er ein wirklich muslimisches Leben führen.

Die Geister scheiden sich aber selbst hier vor allem an der Frage, ob der IS wirklich das legitime Kalifat darstellt. Alle gemäßigten Muslime verneinen dies und sehen im IS eine eher politische Sekte, die den Islam als Vorwand für ihre Gewaltherrschaft missbraucht.

Die Sharia und der IS

Der Kalif eines Kalifats wiederum ist nach Lesart des IS gezwungen, muslimisches Recht, insbesondere die Sharia, einzuführen und buchstabengetreu umzusetzen. Etwa 80 Prozent der Sharia werden heute selbst in sehr extremen Ländern wie Saudi-Arabien nicht angewandt. Das kann sich ein Kalif aber nicht erlauben – er muss der Schrift absolut wortgetreu folgen, um seine Legitimität zu erhalten. Er darf der Schrift weder etwas hinzufügen, noch etwas weglassen. Alle die einen Islam leben, der eines dieser beiden Dinge tut, ist für den IS ein Ungläubiger. Tatsächlich trifft dies jedoch auf fast alle Muslime weltweit zu, weshalb der IS auch unter Muslimen weit weniger Rückhalt hat, als viele annehmen: Der IS ist vor allem ein Feind des modernen, friedlichen Islam. Für den IS ist der Anfang des Islam das Wirkliche – zu diesem mittelalterlichen Anfang möchte er zurückkehren.

Takfirismus – Tod den Abtrünnigen

Der zweite große Unterschied zwischen dem IS und anderen radikalen Islamisten ist ihre Auslegung der Kriterien für einen Abtrünnigen (Apostat). Eine Abkehr vom reinen Islam (takfir) ist hier eine ernste Sache, denn laut diverser Schriftquellen ist die einzig adäquate Strafe der Tod. Diese Ansicht in sich ist schon eine eigene Ideologie, welche als Takfirismus bezeichnet wird.

Die IS legen takfir extrem eng aus. So sind beispielsweise sämtliche Shiiten Apostaten, weil diese dem Islam moderne Elemente hinzugefügt haben. Sämtliche Regierungsbeamte sind Abtrünnige, weil sie weltliches Recht über die Scharia gestellt haben. Hunderte Millionen gläubige Muslime stehen damit auf der Todesliste – wenn sie nicht reumütig zum IS überlaufen.

Es ist ein erklärtes Ziel des IS, die Welt nach dieser takfir-Doktrin durch ein enormes Blutbad von Abtrünnigen und Ungläubigen zu reinigen. Erstaunlicherweise sind so Muslime durch den IS viel stärker gefährdet als Christen, denen laut Koran Unterschlupf gewährt werden muss, solang sie sich an die Sharia halten und eine spezielle Steuer zahlen – auch hier nimmt der IS den Islam wörtlich.

Durch den Takfirismus wird zugleich jegliche Kritik an der Auslegung des IS unterbunden. Abtrünnig ist nämlich auch bereits, wer zum Beispiel die Erlaubnis der Sharia, Ungläubige als Sklaven zu verkaufen oder erbeutete Frauen als Sex-Sklaven zu halten, öffentlich anzweifelt.

Malahim – die Apokalypse

Ebenfalls anders als beispielsweise Al-Qaida vertritt der IS eine apokalyptische Weltanschauung (malahim). Es geht nicht allein um politische Ziele, sondern um den Endkampf des Islam. Zentrales Element der IS-Ideologie sind mythenhafte, mündlich überlieferte Prophezeiungen aus dem Hadith, die besagen, dass in nur wenigen Jahren eine finale Schlacht auf dem Gebiet stattfindet, das heute Syrien ist und dass der Anti-Messias Dajjal kurz darauf in Jerusalem besiegt werden wird.

Aus diesem Grund spielt zum Beispiel die Stadt Dabiq bei Aleppo eine extreme Rolle – hier soll die Endschlacht zwischen Gut und Böse stattfinden. Immer wieder wird Dabiq in den Schriften und sogar in Enthauptungs-Videos des IS erwähnt („Wir erwarten euch in Dabiq“). Auch das offizielle Magazin des IS heißt Dabiq.

Nach diesem Sieg werde sich der Islam bis Europa ausbreiten, so die Prophezeiung, bis der Anti-Messias, Dajjal genannt, den Islam wieder zurückdrängen wird. Mit der Hilfe des Erlösers Madhi und Jesus – auch im Islam ein wichtiger Prophet – wird der Dajjal jedoch schließlich in Jerusalem besiegt.

Der IS glaubt, die erste Armee dieser Prophezeiung zu sein und wartet auf die große Schlacht in Dabiq. Das Eingreifen amerikanischer Truppen wird daher nicht gefürchtet, sondern so begeistert gefeiert wie die Gäste auf einer Party. Tatsächlich ist es das erklärte Ziel des IS, so viele westliche Länder wie möglich zu einem Angriff auf muslimische Länder zu provozieren. Immer wieder betonen sie in ihren Schriften, dass die Anschläge im Westen vor allem dazu dienen, den Westen zum Einsatz von Bodentruppen zu bewegen – das Zeichen für den IS, dass die letzte Schlacht näher rückt.

Der IS sieht sich als Erfüller einer Prophezeiung, deren Szenario mit allen Kräften herbeigeführt werden soll. Auch Niederlagen bedeuten nichts: Der Tod großer Teile der IS-Kämpfer ist Teil der Prophezeiung – nur knapp 5000 Muslime sollen am Ende überleben. Zumindest gläubigen IS-Kämpfer glauben fest daran, einen heiligen Krieg zu führen und sterben gern und bereitwillig.

Jihad

Der IS sieht seinen Kampf als den ersten wirklichen Jihad – denn bisher hatten Muslime sich nur verteidigt. Nun da es ein Kalifat gibt, ist es nach ihrer Auslegung der Schrift die Pflicht des Kalifen, offensiven Jihad zu betreiben und das Kalifat über die ganze Welt auszudehnen. Für Anhänger des IS ist nun die große Zeit des Islam gekommen – ein goldenes Zeitalter, in welchem die Muslime, die einzig wahren Menschen, endlich Genugtuung erfahren und die Welt in ihren Besitz nehmen. Allein dieses Element übt eine große Anziehung auf einige junge Muslime aus – Stolz ist ein wichtiges Element ihrer Kultur und der IS offeriert einen Ausweg aus der oft demütigenden Realität im nahen Osten und auch in den westlichen Gesellschaften.

Dem Kalif ist es nach dieser Lesart verboten, jemals die Grenzen anderer Ländern anzuerkennen oder Friedensverträge zu schließen, maximal darf ein Waffenstillstand vereinbart werden, der nicht länger als 10 Jahre dauern darf – dann ruft die Pflicht zum Jihad. Das Kalifat erhebt universellen Anspruch auf den Planeten und besteht in ständiger Expansion.

Der Kalif muss jedes Jahr in den heiligen Krieg ziehen – sonst macht er sich selbst zu einem Sünder gegen Allah. Der Kalif darf auch nicht mit der UN oder anderen Parteien verhandeln, da er keinerlei weltliche Autoritäten anerkennen darf.

Diese extreme Schriftgläubigkeit könnte gleichzeitig eine große Schwäche des IS werden. Grenzen anzuerkennen oder Frieden zu schließen wäre ideologischer Selbstmord für den IS. So lange es ihn gibt, wird der IS im Krieg sein. Offizielle Verbündete kann er dabei keine haben – sogar mit seiner Vorgänger-Organisation Al-Qaida liegt der IS in einem erbitterten Krieg.

Ursache und Wirkung

Die Entstehung des Islamischen Staates lässt sich nicht durch eindimensionale Betrachtungen erklären. Er ist das Produkt einer ganzen Verkettung von Ereignissen, die über 60 Jahre zurückreichen und hat mit dem Islam weit weniger zu tun, als mit vielen anderen Faktoren.

Dass Menschen für eine apokalyptische Ideologie wie die des IS aber überhaupt empfänglich sind, erklärt sich wohl mehr aus sozialen Zusammenhängen, als aus dem Islam als solchem. Der Westen hat es versäumt, den Islam in seine Kultur zu integrieren und (entgegen aller Beteuerungen) aktiv verhindert, dass demokratische Staaten in der islamischen Welt entstehen können. In der Konsequenz führen Muslime in den meisten Ländern ein Rand-Dasein in relativer Armut.

Die Radikalisierung kann als eine Antwort auf diese Umstände verstanden werden. Man stelle sich nur vor, die Situation wäre andersherum und reiche arabische Staaten würden alle paar Jahre militärisch in einem armen Europa intervenieren, terroristische Organisationen aufbauen, Regierungen auswechseln, Rohstoffe erbeuten und versuchen ihre Kultur durchzusetzen. Die Chancen stünden nicht schlecht, dass auch radikale Christen eine echte Renaissance feiern würden.

Das Kalifat und die simple, kompromisslose Ideologie des IS sind reizvoll gerade für junge Menschen, die mit Sinnlosigkeit, Armut und einem Außenseiter-Dasein zu kämpfen haben, wie es für viele Muslime in der westlichen Welt der Fall ist.

Aufgrund der Ideologie des IS wird eines klar: Mit diesen Menschen kann man nicht verhandeln oder diskutieren. Man kann sie auch aus dem Islam heraus nicht widerlegen. Die einzig wirksame Methode, den IS zu besiegen, ist es, ihm dauerhaft den Nährboden zu entziehen, indem die globale Ungerechtigkeit als eigentliche Ursache erkannt und angegangen wird. Der Islam ist nur ein Werkzeug, nicht die Ursache der Radikalisierung. Viele scheinbare IS-Anhänger haben mit der Ideologie recht wenig am Hut und wären dem IS unter anderen Umständen vermutlich niemals gefolgt.

Der Westen, insbesondere die USA, wird durch die Invasionskriege als eine böse Macht empfunden, gerade die Gewalt des Westens spült immer mehr junge Männer in die Hände des IS. Es kann vermutet werden, dass die aktuellen Angriffe des Westens, den IS nicht schwächen, sondern sogar stärken werden.

An einem Bekämpfen der wahren Ursachen dürften gerade westliche Mächte wenig Interesse haben – die Missstände im Nahen Osten werden seit vielen Jahren bewusst geschürt, um die Region zu destabilisieren und geopolitische Interessen durchzusetzen. Und so wird sich der Westen in Konsequenz dieser Politik auch weiter mit den logischen Folgen seines Handelns konfrontiert sehen: mit fanatischen IS-Kämpfern und einem Meer an Flüchtlingen.

3 Responses

  1. Claus Haase
    Es ist angerichtet.

    Gesellschaftliche und politische Entwicklungen unterliegen physikalischen, natur-
    wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und in einem ganz strengen Sinn auch biologischen Gesetzen. Dementsprechend sollte es nicht überraschen, wenn der wirt-
    schaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens eine Gegengewicht erwächst, so wie jeder Kraft eine adäquate Gegenkraft entspricht, weil
    das Bestreben in der belebten und unbelebten Natur auf Ausgleich angelegt ist.
    Je stärker sich die Ungleichpotzenziale entwickeln, desto gewalttätiger der unausweichlich zu erwartende Ausgleichsprozeß. Ungleichpotenziale in unserer globalisierten Welt, aber auch auf nationalen Ebenen und in den unterschiedlichen Kulturkreisen sind die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum, kapitalistischen Gewinnstreben und Ausbeutung ganzer Völker und Kontinente, atomare Geiselhaft der nichtatomar gerüsteten Länder gegenüber den Atommächten. Diese Gegensatzpaarbildung im Sinne einer fortschreitenden Ungleichheit und Ungerechtigkeit könnte beliebig lang fortgeschrieben werden und bildet schlußendlich den Katalysator für Revolutionen, Bürgerkriege und Kriege zwischen Nationen – und letztlich
    für einen Weltkrieg. Der erwachende Islam, besonders auch in seiner fundamentalistischen und extremistischen Erscheinungsform spiegelt das diametral entgegengesetzte Bild zu der Welt des vermeintlich aufgeklärten Westens, der sich human und demokratisch gibt, aber in der Realität für einen Wirtschaftsimperialismus und
    einer militärischen Omnipotenz- und Präsenz steht und Dritt- und Schwellenländer
    mit Kriegswaffen aller Art flutet und sie ausschließlich unter dem Aspekt der Erhaltung und Ausweitung seiner Hegemonie betrachtet und behandelt. Nichts wird die
    sich anbahnende Katastrophe verhindern und schon heute erscheinen die zahlreichen Versuche, den Deckel auf dem Druckgefäß zu halten, hilflos und verzweifelt.

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  2. Unbekannt
    Wo bleibt der Opferschutz?

    Ich möchte an dieser Stelle einhaken, gerade im letzten Satz sind grundsätzliche Probleme nicht behandelt!

    David behauptet, die „Integration“ in Europa sei nicht gelungen, was heisst das? Integration scheint ja soziokulturell gewichtet zu sein, fakt ist aber, dass es einen Rassismus/Nationalismus in der Wirtschaft gibt und gab, der viele Einwanderer lange aussen vor liess! Dieses Argument ist daher haarsträubend für mich.

    Viel wichtiger ist aber auch, dass es eurozentrisch ist, was ich anführen möchte, nicht um den Autor anzupissen. Wichtig ist sich ersteinmal nicht mit dem IS zu beschäftigen, sondern mit Sunniten, Schiiten und Aleviten, verschiedenen Islamischen Strömungen, und dann mit der Armutentwicklung in Jordanien, Iran, Irak, Syrien usw.

    Dazu gibt es ein interessantes Video, dass bei den verstaatlichten Ölraffinerien Irans 1950 beginnt, wodurch es zu viel Streit und Regimesturtz durch die Britten kam, und damit wiederum zur Iranischen Revolution und zu den Golfkriegen. Bemerkenswert ist dieser Vortrag eines deutschen Islamwissenschaftlers und Zeit-Korrespondenten, weil er die Lebenswelten vieler einfacher Leute berücksichtigt!

    Wir müssen bedenken, dass die Trennung der verschiedenen Konfessionen im Irak massiver ist, als anfang 1900 in Europa, vielleicht ist sie im Irak vergleichbar mit dem Nordirlandkonflikt wo mit dem Streit und Kampf der Konfessionen Fights um Staatszugehörigkeit und wirtschaftliche Abhängigkeiten mit einfliessen, nur dass heutzutage in Bagdad Mauern ganze Stadtteile und Militärpatroullien Menschen aus Nachbarschaften abhalten, sich gegenseitig zu massakrieren!

    IS sitzt tief in den Stadtteilstrukturen Bagdads und Mossuls! Beispielhaft wäre vielleicht die karritative Struktur der Hamas, die den wesentlichen Teil dieser Organisation ausmacht, aber das ist auch nicht so gut vergleichbar, wie die gut hundert Jahre alte Muslimbruderschaft die Adolf Hitler in Ägypten als Ehrenmitglied führte.

    Grad habe ich selbst einige Stichworte zu diesem Thema gesucht, etwa auf youtube: „sunni iraque“ oder „anthropology sunni iraque“, wenn überhaupt erscheinen zwei minütige Schemata die kurz die religiösen oder politischen Unterschiede darstellen, aber nie die Lebensweltlichen Prozesse miteinbinden.

    Wer von uns kennt denn ein Leben in dem das halbe Leben lang Krieg ist, wo Ermordere im Bekanntenkreis normal sind und man danach das Leben im Viertel oder einer Region mit ausrichtet?

    Ich halte den militärischen Kampf gegen IS für zu kurz gegriffen, wenn ich die Wahl hätte, entweder von der irakisch-schiitischen Zentralarmee angegriffen zu werden, oder zum IS zu gehen und soweit über die Runden zu kommen, dass ich halbwegs ok lebe, wäre die Entscheidung doch klar, wir können uns ja den Luxus leisten, ohne Krieg zu leben, in gefestigtem Terretorium und abgesicherter Infrastruktur, wenn das nicht gegeben ist, werden Menschen noch unberechenbarer.

    Es braucht eine politische Idee, wie „Irak“ und „Syrien“ leben „sollen“. Wie ich die US Seite verstanden hab, soll es nach Ethnien getrennte Nationalstaaten geben, ich mein, das würde dem Blutbad erstmal ne Form geben. Reicht die Nationale Souveränität der Irakischen Regierung, was wollen die sunnitischen Stämme….?

    https://www.youtube.com/watch?v=syygOaRlwNE
    Wer den Wind sät… Was westliche Politik im Orient anrichtet |
    Michael Lüders | SWR Tele-Akademie

    Ist ein aufschlussreicher Beitrag, für den sich die Stunde Zeit lohnt.

    ——————————————————————

    Ok, das ist vielleicht die Beratung für den kritischeren Konsum gewesen meinerseits, ich hab noch etwas zu kritisieren.

    Um welche Art Gerechtigkeit geht es in dem Artikel?

    Aufklärung ist ganz gut, Ideologien zu entzaubern auch meist sinnvoll, Armut zu thematisieren sicherlich auch. Dem möchte ich aber entgegenhalten, dass Ideologiekritik nach dem 11.9. in Fachkreisen hochkonjunktur hatte und immer wieder mit symbolischen Protesten zusammenging, und Auseinandersetzungen mit Geld auf die Art vermied, selbst die Fiskalkritik der Montagsdemos halte ich für symbolisch, ich glaube kaum, dass durch sie sich Angestellte in kämpferischen Gewerkschaften zusammenrauften und ihre Betriebe erträglicher gestalteten.

    Ähnlich verhält es sich mit der Positionierung zu den Fanatikern im Text. Sind die IS Kämpfer denn so besonders oder ist es nicht letztenendes egal, ob sich ein Soldat aus den USA oder aus Tschetschenien leistungssteigernde Drogen an seinem Maschinengewehr reinpfeif, spielt es so eine Rolle ob ich mir zur Stimulation Metall oder Koransuren beim Wacheschieben anhöre? Geht es um Fanatismus oder um Söldnertum mit einkalkuliertem Arschlochverhalten und fast verständlichen Racheakten?

    Wichtig wäre doch mehr über die sozioökonomische Struktur zu erfahren, um zu klären, wer Opfer und wer wie weit Täter wird.

    Dann spricht David vom Krieg gegen IS, dabei gibt es immernoch eine ganze Reihe an noch offenen Finanzierungsquellen, auch wenn es viele unregistrierte GEschäfte gibt. Warum wurden die aber von anderen Staaten lange geduldet, und liesse sich da nicht viel mehr trocken legen und allein dadurch eine nicht faschistische Verwaltung im Gebiet des jetzigen IS erreichen?

    Aspekte die diesen Artikel sprengen würden sind Ideologie, Arbeitsweise und Verankerung in der Bevölkerung verschiedener Al-Quaida Strömungen im Irak, in Syrien Lybien Mali der Vollständigkeit wegen.

    Interessant wäre sicherlich auch mit der Rolle kurdischer Gebiete: Der alte Kurs einen kurdischen Staat zu schaffen wurde inzwischen länger verworfen, inzwischen wurden auf der syrischen Seite die viele Kurden bewohnen, besonders in der Region Kobane eine art Selbstverwaltetes Gebiet geschaffen, in dem keine Steuern erhoben werden, Frauendiskrimierung massiv entgegengetreten wird (unglaublich guter Schutz bei Scheidungen damit die Frau nicht mittellos dasteht danach bis hin zu den relativ bekannten bewaffneten Frauenverbänden) und alle ethnischen Minderheiten geschützt werden und auch Islamisten zur Resozialisierung eingeladen werden, so lange sie keine Kriegsverbrechen begangen haben.
    Das ist ne ganze Menge, die Beschäftigung mit dem Thema lohnt sich, da dort ein Lichtblick für die Art Gleichberechtigung entsteht, wie wir ihn gewohnt sind. Leider gibt es auch dort massive Armut, Braindrain (also die Abwanderung der besser Gebildeten), und tägliche Bedrohungen durch den IS und da es sich bei diesem nicht-staatlichen Akteur nicht um einen Kopoerationspartner des syrischen Staates handelt, gibt es leider auch kaum NGO’s die im Auftrag helfen. Eine der wenigen die vor Ort sind, ist Medico International.

    https://www.medico.de/projekte/syrien/

    Wie zu merken war, habe ich eine Ausdifferenzierung meiner Sicht die nicht so üblich ist. Gerade die Sache der Kurden wird u.a. in Kreuzberg seit längerem diskutiert, nicht nur wegen der jahrzehntelangen Ausenandersetzungen zwischen der Türkei und der kurdischen Arbeiterbewegung im Osten der Türkei und den Anrainern.
    Die letzten Jahre haben eine Solidarität hervorgebracht die für mich zu ungewohnten Positionierungen kamen. Ist es human, selbst Geld für Waffen zu Spenden, damit Peschmerga wie im letzten Jahr die Yesiden aus dem Sindschargebirge retten können, damit die nicht von den islamischen Faschisten umgebracht werden?

    Schwierig, das verdient an anderer Stelle Platz behandelt zu werden. Im Vergleich aber zum IS ist über den Alltag vieler Kurden die diese regionalen Selbstverwaltungen aufbauen bekannt, es gibt viele Videos, ab und zu fahren Delegationen und berichten aus der Region und die letzten Reste an Infrastruktur, und geben damit ein anderes Bild als viele linke Gruppen, die sich auf die Unterstützung der Kämpfe dort konzentrieren.

    Beipspiele dafür sind medico international oder die berliner Gruppe CADUS, die neulich von Radio 1 interviewt worden sind:

    http://cadus.org
    http://www.radioeins.de/programm/sendungen/mofr1013/_/hilfe-fuer-syrien.html

    https://www.medico.de/projekte/syrien/

    ——————————————————————————————————-

    Der Stellvertreterkrieg in Syrien: Konflikt im Nahen & Mittleren Osten – Dr. Michael Lüders (1/2)
    https://www.youtube.com/watch?v=6oZgl3drTn4

    Antworten
    • David Rotter

      Hallo,

      auf einige deiner Punkte wird in einem gesonderten Artikel eingegangen „Syrien, IS und der Einfluss des Westens“. Er ist im Artikel und darunter verlinkt.

      Grüße
      David

      Antworten

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