Die Kunst ein Schwein zu reiten

Als Kind wuchs ich mit vielen Geschwistern auf dem Land auf. Wir konnten, weitgehend ungestört von Erwachsenen, unsere Geschicklichkeit im Lassowerfen an Kälbern ausprobieren, Rennen auf quiekenden Schweinen veranstalten und den Heuboden in ein Labyrinth aus Gängen und Höhlen verwandeln. Wir waren Cowboys und -girls, Schatzsucher, Feen, Indianer, Zauberer und erfanden abenteuerliche Geschichten dazu. Hatte man genug von den Spielen mit den anderen, zog man sich zurück an einen geheimen Ort. Für mich war das ein alter Kastanienbaum. Ich liebte es, hoch in die Spitze zu klettern. Die Reflektion der Sonne auf den Blättern, das Wiegen und Rauschen der Krone im Wind ließ mich allmählich in einen traummartigen Zustand gleiten. Farben, Muster, Bilder stiegen auf und ich tauchte tief in eine andere Welt ein. Eines Tages opferte die Kastanie einen ihrer Äste und erfüllte mir damit den Traum vom Fliegen. In der sich endlos dehnenden Zeit des Sturzes fühlte ich mich seltsam aufgehoben. Ich wußte, daß mir nichts passieren würde, sah mich wie von außerhalb meiner Selbst. Herausgefallen aus Raum und Zeit schwebte mein Bewußtsein, während mein Körper, abgefedert durch ein Gebüsch, auf dem Boden landete. Das Klappern einer Heckenschere holte mich zurück in eine Welt, die mir plötzlich seltsam unwirklich erschien. Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß es eine andere Form des Seins gibt, das Eintauchen in eine Art universeller Energie. Mit ihr sind wir verbunden, sie trägt uns und wir können, dürfen, sollen aus ihr (er-) schöpfen.

Wahrscheinlich ist jeder Mensch in seiner Kindheit mit dieser außersinnlichen Welt in Berührung gekommen. Im Spiel wird die Phantasie erweckt, wir können uns verwandeln, neue Welten erkunden und erschaffen. Wir können fliegen und gelegentlich unsanft landen. Ein paar Hautabschürfungen sind aber durchaus zu verschmerzen, wenn damit eine intensive und prägende Erfahrung verbunden ist. Leider verliert sich die Neugier auf Unbekanntes, das Erforschen und Ausprobieren mit wachsendem Lebensalter. In der Schule setzt der Drill ein, der uns in immer engere Raster preßt. Wir passen uns schön ein in die neue Welt. Vielleicht beschleicht uns manchmal eine dumpfe Erinnerung, daß es etwas Schöneres gibt, als immer nur auf  Anforderungen von außen zu reagieren. Aber nach des Tages Last und Müh’ sind uns die eigenen Verspannungen so vertraut geworden, daß wir gerne daran festhalten. Da weiß man, was man hat! Es ist viel zu anstrengend, sich selbstständig um Kreativität und Lebenslust zu kümmern. Lieber stopfen wir uns voll mit junk-food für Körper, Geist und Seele. Vielleicht halten wir gerade noch den Körper fit, um den Marktwert zu erhalten. Dabei täte es dem viel besser, sich wie ein Schwein im Schlamm zu suhlen. Schlamm ist einem Stadtmenschen aber meist nur in Form von ärztlicher Verschreibung  bekannt.

Die eigenen Sinne, Gefühle und Ideen sind versiegelt wie die Wände von Häusern. Nichts geht hinein und nichts kommt heraus. Eingeschlossen in uns selbst muffeln wir vor uns hin und wundern uns, warum uns alles stinkt. Wo anfangen, um nach dem Schlüssel zu suchen, der die Tür zur Kammer des verloren geglaubten Schatzes öffnet? Eine Möglichkeit wäre, unter der Dusche all die Lebensäußerungen von sich zu geben, die bei Kleinkindern so niedlich sind: Schmatzen, aus Leibeskräften brüllen, lachen und lallen, unverständliches Zeugs in verschiedenen Tonfolgen vor sich hinsingen etc. Erfinden Sie selbst, was Sie mit Ihrer Stimme, Ihrem Mund und Ihrer Zunge alles unter der Dusche anstellen können! Vielleicht drehen Sie am Anfang, wenn Sie sich noch arg schämen, den Lautstärkeregler für Ihren Lieblingssender ganz hoch. Peinlicher als die Morgensendungen im Radio können Sie sich kaum anhören. Wahrscheinlich werden Sie sich nach dieser „Übung“ ungewöhnlich munter fühlen, Ihre Stimme wird voller und ausdrucksvoller sein, das Gesicht weniger zerknittert und der Gang beschwingt. Falls Ihr Freund/ Ihre Freundin eine heimliche Liebschaft befürchtet, können Sie ihm/ihr  das Rezept verraten: Vielleicht verlieben Sie sich wieder neu ineinander.

Ist diese Hemmschwelle einmal überschritten, können Sie ausprobieren, für eine Minute allen Dingen, auf die Ihr Blick fällt, andere Namen zu geben. Sie werden danach erstaunt feststellen, daß sich Ihre Wahrnehmung verändert hat. Bewegen Sie sich für eine Weile nur in Zeitlupe und wechseln Sie abrupt zu rasender Geschwindigkeit. Sprechen Sie aus, was Ihnen gerade in den Sinn kommt. Alles Unsinn? Dann tanzen Sie nackt vor dem Spiegel, schlagen Sie Purzelbäume auf dem Kinderspielplatz oder belegen Sie einen Kurs im Dauerrülpsen. Machen Sie, was Sie wollen, reiten Sie ein Schwein!

Über den Autor

Avatar of Antonia von Fürstenberg

kommt ursprünglich vom Theater und ist Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet als salutogen* orientierter Business- und Life-Coach und als Kommunikationskünstlerin für Bildungsinstitutionen und Unternehmen. Ihre Schwerpunkte sind achtsame Persönlichkeitsentwicklung, salutogene Kommunikation und Kreativität.

Mehr Infos

Buch:
Antonia von Fürstenberg: Mut zum neuen Leben – Selbsthilfe für Frauen in
Trennungskrisen von A bis Z, Shaker Media 2015

*Salutogenese: „Entstehung von Gesundheit“, Orientierung an und Unterstützung von gesunden Anteilen und Kraftquellen. Pathogenese: „Entstehung von Krankheit“, Orientierung an Krankheitssymptomen und deren Bekämpfung.

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