Homöopathische Antworten am Puls der Zeit

von Werner Baumeister

 

Sepia, der Tintenfisch, gehört wie die Auster zu den Weichtieren (Mollusken).
Die Auster mit ihrer das Weiche umschließenden Schutzschale symbolisiert geradezu die Fähigkeit, unser Innerstes, Verwundbarstes dem Außen gegenüber abzuschirmen. Sepia hat diesen Schutzraum teilweise verlassen, auch wenn die Hälfte des Tintenfischkörpers noch innerhalb einer Kalkschale verbleiben muss, die ihn umschließt. Wir alle haben wahrscheinlich schon früh auf die eine oder andere Art diesen unerträglichen Moment der Grenzverletzung und des gewaltsamen Eindringens in unser Innerstes erfahren müssen. Um zu überleben, gab es nur eine Wahl: die Erinnerung daran zu verdrängen.

Mit den abgespaltenen Gefühlen ist uns von nun an aber auch der Zugang zur eigenen Lebendigkeit versperrt, was man Dissoziation nennt. Als Überlebende bewegen wir uns alle, ob nun bewusst oder unbewusst, in diesem Schutzraum der Dissoziation durchs Leben. Diese Sicherheitszone müssen wir irgendwann verlassen, damit die nie ganz vernarbte Wunde sichtbar werden und ausheilen kann. Homöopathisch begleitet uns genau dabei Sepia, die Tinte vom Tintenfisch.

Den Schutzraum schützen

Ich selbst spüre diesen unerträglichen Konflikt nach Einnahme von homöopathischer Sepiatinte unmittelbar beim Schreiben dieses Artikels. Ein Teil von mir möchte kraftvoll das Weggedrängte rausschleudern, aussprechen, formulieren, sich endlich befreien. Denn etwas Schreckliches auszusprechen heißt, anzuerkennen: „Ja, das ist wahr. Das ist wirklich passiert. Und zwar mir.“ Nur so kann das Unerträgliche, dem wir nicht entkommen konnten, integriert werden. Nur so kann das Traumatische, das einst dissoziiert werden musste und das die Macht besitzt, uns jeglicher Vitalität zu berauben, trotz innerer Zerplitterung für eine gewaltige Selbsterneuerung genutzt werden. Ein anderer Teil in mir aber sperrt sich, hat panische Angst, noch viel zu früh herausgezerrt zu werden aus seinem Schutzraum der Anonymität und so erneut überwältigt zu werden.

Genau für diese Grenze in uns selbst auch wieder Feingefühl zu entwickeln und nicht ständig darüber hinwegzutrampeln, dafür sensibilisiert Sepia homöopathisch. Genau dieses „STOPP, das will ich nicht“, diese angemessene Abgrenzung anderen, aber auch sich selbst gegenüber, da wo wir uns ständig selbst vergewaltigen, holt uns endlich heraus aus Rückzug und Isolation und ermöglicht wieder die ersehnte Nähe mit anderen durch aktiven Schutz unserer Intimsphäre.

Die Tintenwolke

Mir fällt das Buchcover des Griechenland-Reiseführers meiner Nachbarin im Flugzeug nach Kreta ein. Abgebildet darauf war ein an einer Wäscheleine zum Trocknen aufgehängter Tintenfisch, nachdem die Fischer diesen bei lebendigem Leibe solange auf einen Stein geschlagen haben, bis alle Tinte aus dem Tier heraus ist. Eine Signatur extremer Gewalt, die sich homöopathisch wiederfindet in der Sepia-Indikation: Folge von Vergewaltigung. Wird der Tintenfisch angegriffen, stößt er eine Tintenwolke aus, die seine Gestalt im Wasser abbildet und als Attrappe den Angreifer täuscht. Währenddessen wechselt er seine Farbe und verschwindet blitzschnell mittels Rückstoßprinzip (Sepia-Leitsymptom: Rückzug), indem er einen inneren Wassersack schnell auspresst. Der Tintenfarbstoff besteht aus Melanin, das wiederum ein Zwischenprodukt bei der Bildung von Adrenalin (Aggressionshormon) in den Nebennieren ist.

Der abgegebene Tintenstrahl, hervorgebracht durch einen aggressiven Gefühlsausbruch, erzeugt also eine deutlich umrissene Attrappe im Wasser – quasi ein dunkles Ebenbild der Sepia –, das dazu dient, die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu ziehen. Hinter dieser Fassade wechselt der Tintenfisch wie gesagt seine Farbe und flüchtet in eine andere Richtung. Die Tintenwolke der Sepia, das ist unsere Fassade, unsere alltagstaugliche Oberfläche, mit der wir uns schützen und versuchen, die Risse im Innern unserer traumatisierten Persönlichkeit nicht weiter aufbrechen zu lassen. Um erneute (sexuelle) Verletzungen zu vermeiden, neutralisiert sich bei Betroffenen oft zusätzlich das eigene Geschlecht, indem sich das männlichweibliche Verhältnis der Hormone ausgleicht. Dies ist eine weitere Form der Dissoziation, mit der wir uns für den/die Missbraucher/in unsichtbar und damit unattraktiv machen. Hier holt uns Sepia durch ihre Wirkung auf Geschlechtsdrüsen (Hoden/Eierstöcke) und auf die Nebennieren (Aggressionsdrüsen) aus unserer hormonellen Gleichgültigkeit wieder heraus (Sepia-Leitsymptome: kein Sexualdrang, Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen Geschlecht).

Den Schutzraum der Dissoziation verlassen

Ich selbst erlebe mit Sepia eine verblüffende Verwandlung, fühle mich viel weicher und offener und realisiere, dass sonst 80 Prozent meiner Tagesenergie dafür draufgehen, eine potentiell bedrohliche Umwelt auf Distanz zu halten. Ich bemerke bei mir einen lange nicht mehr dagewesenen Blick auf Frauen. Ich hatte in letzter Zeit den Gesichtsausdruck, mit dem sich die meisten Frauen schützen, einfach aus der Perspektive des „verletzten Mannes“ als abweisend oder sogar manchmal verachtend auf mich bezogen. Sepia eröffnet mir wieder einen anderen Blick auf Frauen, der sehr viel tiefer und liebevoller ist – auch für das Wesen der Frau – und vor allem absichtslos. Ohne Absicht meint ohne Bedürftigkeit, ohne gieriges Habenwollen – und dieser Blick ist gleichzeitig selbstvergessen, also ohne mitschwingende störende Selbstwertfragen. Dabei merke ich immer wieder, dass beim Gegenüber die Fassade plötzlich einem Lächeln weicht, und dass dieser Blick auch ein Schlüssel ist, um andere aus ihrem Gefängnis herauszuholen. Denn jeder Mensch hat, obwohl er mit dieser Schutzmaske herumläuft, letztendlich die Sehnsucht, davon befreit zu werden…

 

Schlagworte (mit Links zu weiteren Artikeln von Werner Baumeister):
HomöopathieGewaltDissoziationGrenzeMissbrauchÜberlebenVerdrängungLebendigkeitVerwandlungWundeTrauma

 

Werner Baumeister

ist Arzt und bietet individuelle homöopathische Begleitung an.

30 Jahre Erfahrung in eigener Praxis in Berlin.

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Die homöopathischen Arzneibilder von Werner Baumeister verstehen sich auch

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