Homöopathische Antworten am Puls der Zeit

von Werner Baumeister

 

Schwarzer Phosphor! Schon vor der ersten Einnahme war ich fasziniert vom Namen dieser Arznei.
Ich bin homöopathischer Arzt und konstitutionell ein Phosphortyp, kannte aber bisher nur den klassischen weißen Phosphor. Dieses Phosphor-Atom ist unruhig, sehr reaktions- und bindungsfreudig, löst sich sehr leicht und entzündet sich an der Luft selbst. Ein sehr flüchtiges und grenzenloses Element. Homöopathisch ist es ein bewährtes Inkarnationsmittel, um wirklich „in carne“, also im Fleisch, im Körper und damit hier auf der Erde anzukommen!
Phosphor, das ist unsere allertiefste Sehnsucht danach, geliebt zu werden. Phosphor macht uns zu einem offenen System, so, wie das Leben selbst ein offenes System ist, eine ewige Wunde, ein nie endendes Geborenwerden und Sterben. Der Phosphortyp ist der vielleicht mitfühlendste aller Arzneitypen. Offen, einfühlsam und aller Welt Freund, braucht er ganz viel Körperkontakt. Hauptsache nicht allein, denn Alleinsein macht Angst. Mit allem identifiziert, überschreitet Phosphor schnell eigene Grenzen bis hin zur totalen Erschöpfung.
Vor allem das Phosphor-Kind kann sich nicht abgrenzen und wird von äußeren Eindrücken sehr leicht verletzt. Die sensible Fähigkeit, das von außen Wahrgenommene zu empfinden, als erleide man es selbst, prädestiniert zum Helfenwollen. Die homöopathische Extremform dieses erdflüchtigen Phosphors zeigt sich in einem anderen Mittel, in Tuberkulinum – und Tuberkulose ist Schwindsucht, die Sucht, von hier zu verschwinden. Aber im entzündlichen und dann leuchtenden Phosphor, Lux, Luzifer (lateinisch „Vermittler des Lichts“), dem Lichtträger mit der Gabe, im Dunkeln zu leuchten und Licht ins Dunkle zu bringen, steckt auch die andere Seite von Luzifer, der Teufel, womit sich unsere Schattenseite zeigt.

Das Ende der Selbstvergewaltigung

Nach der Einnahme von schwarzem Phosphor hatte ich mich schon gefreut auf eine schöne tibetische Behandlung am Freitag, den 13. September. Was dann kam, war die krasseste Session, die ich je bekommen habe. Zu meinem Entsetzen fing es überall dort, wo die Behandlerin ihre Hände auflegte, an weh zu tun – bis ich von den Füßen bis zum Scheitel nur noch ein einziger Körperschmerz war. Was dann begann, war der Versuch, mich durch zunehmende Versteifung meines Körpers zu wehren, sie energetisch zum Aufhören zu bewegen, ohne mich aber wirklich wehren zu können. Als sie dann mit ihren Händen mein Gesicht hielt, eskalierte die Situation. Je mehr ich wortlos aufschrie, desto fester hielt sie mein Gesicht, bis vor meinem inneren Auge das Gesicht meines Peinigers aus Kindertagen erschien. In dem Moment riss ich die Hände hoch und rief: Stopp! Sofort aufhören! Es geht nicht mehr! – Im Sinne des schwarzen Phosphors absolut heilsam, aber für die Therapeutin natürlich erst einmal schockierend.

Systemsprenger

In derselben Nacht um halb vier wache ich auf von schneller aggressiver basslastiger Musik und ich denke noch: Oh nein, ich bin viel zu fertig, zum Nachbarn runterzugehen und für Ruhe zu sorgen. Dann bin ich selbst überrascht von der Schnelligkeit, mit der ich aus dem Bett springe, komplett ausraste, die Zimmertür ur-schreiend immer wieder aufreiße und dann zuschlage. Das war, wie wenn der innere Berseker in mir gesagt hätte: Jetzt bin ich dran! Das war so bedrohlich, dass ich sogar Angst vor mir selber bekam. Auch wieder: Im Sinne des schwarzen Phosphors absolut heilsam, aber für die Nachbarn natürlich schockierend. Die Musik war sofort aus. Sie war zwar der Auslöser, aber eigentlich gehörte diese unglaubliche, aus meiner Kindheit aufgestaute Wut noch zu der Behandlung vom selben Tage.

Schwarzer Phosphor – Kreuzigung und Auferstehung

Durch extreme Hitze und enorm hohen Druck kristallisiert der weiße zum schwarzen Phosphor. Und das führt dazu, dass etwas sehr Lebendiges, sehr Reaktionsfreudiges, was sich verbinden will, sehr reaktionsträge und unlöslich wird. In dieser dichtesten und stabilsten Modifikation ist Phosphor nun nahezu unbrennbar, also deutlich schwerer entflammbar. Analog erfährt jeder Mensch diesen enormen Druck durch biographische Traumata. Wir alle haben diese schwarzen Phosphormomente bereits durchgemacht in unserem Leben. Es sind die biographischen Tiefpunkte unserer Seele, in denen wir auf grausame und sinnlose Weise gebrochen wurden und uns ein nicht enden wollendes Martyrium und eine Abfolge seelischer Katastrophen die seelische Unschuld genommen haben.

Schwarzer Phosphor, das ist unsere tiefste Hölle – von Gott verlassen und aus seiner Gnade gefallen –, wo uns für einen biographischen Moment lang jeder Schutz, Halt und Sinn verloren geht. „Vater, warum hast du mich verlassen?“, ruft Jesus am Kreuz. Die drei Tage ohne Gott zwischen Kreuzigung und Auferstehung waren sein persönlicher schwarzer Phosphor! Um diese Hölle und die damit einhergehenden Gefühle zu überleben, verlassen wir uns selbst und unsere Lebendigkeit, wir „dissoziieren“! Fortan spüren wir uns selbst nicht mehr und verlieren damit gleichzeitig das Zentrale, was uns mit anderen verbindet: unser Mitgefühl.

Der Verlust des Mitgefühls ist eine Überlebensstrategie und gehört mit zur Dissoziation. Nahezu gefühllos geworden, sind wir in unserem Dissoziationsraum, der uns einstmals in höchster Not vom Leben abgetrennt hat, damit wir überhaupt überleben, genauso gefangen wie der schwarze Phosphor in seinem verbindungsträgen Kristallisationsprozess. Der schwarze Phosphor kann uns allerdings genau durch diese spezielle Charakteristik auch helfen, das Dissoziierte und Starre wieder in Bewegung zu bringen, Schicht für Schicht zu integrieren und damit auch zum Mitgefühl zurückzufinden – und auch zu verstehen, dass gerade unsere Traumata unvermeidlich sind, um uns tief in unserem Körper und auf der Erde zu verankern. Manchmal benötigt es dazu eben auch eine „Hardcore-Inkarnation“, die es unserer Seele überhaupt erst ermöglicht, hier auf der Erde wirklich Substanz und seelisches Gewicht aufzubauen.

Homöopathisch hilft uns der Schwarze-Phosphor-Prozess, die schockierende biographische Erfahrung, die wir schon einmal gemacht haben, noch einmal neu seelisch zu verarbeiten, um die zu werden, als die wir eigentlich gemeint waren. Ohne diese heilsame Reaktivierung bleiben wir lebenslang eingemauert und lebendig begraben in dem, was die Seele als Katastrophe, als Bremsklotz abgespeichert hat, und kommen nicht an das Potential heran, das in dieser Erfahrung liegt.

Die Rückkehr des Mitgefühls

Was ist für mich die Essenz meiner Erfahrungen mit dieser homöopathischen Arznei?
Mit schwarzem Phosphor kommt etwas schneller aus mir heraus, „ES“ kommt schneller raus, als mein Verstand filtern kann. Vorbei an allen Komfortzonenfiltern, die mich bisher erfolgreich davon abgehalten haben, das rauszulassen, was zu Sanktion, Ausgrenzung oder abstoßenden Eindrücken bei anderen führen könnte. Dabei ist es gar nicht so, dass ich da irgendetwas „gemacht“ habe, sondern ich habe einfach nur durchgelassen, was ich jahrzehntelang immer wieder rausgefiltert habe aus Angst davor, nicht mehr geliebt zu werden. Wir alle halten ständig Dinge zurück, um Konflikte zu vermeiden, oder erfüllen Erwartungshaltungen, um geliebt zu werden. Gerade unsere engsten Beziehungen basieren oft auf mangelnder Integrität uns selbst gegenüber. Durch fehlende Klarheit und unauthentische Sympathie überschreiten wir dabei ständig eigene Grenzen und vergewaltigen uns selbst.

Schwarzer Phosphor macht damit Schluss! Wir grenzen uns plötzlich ab, und das kann abstoßend und tief enttäuschend wirken. Der absolute Megahorror für weißen Phosphor, denn der will ja nur eins: geliebt werden. Ich als Arzt bin dann, wenn ich mich beispielsweise weigere, homöopathische Medikamente ohne (kostendeckende) Behandlung zu geben, plötzlich der, der Hilfesuchenden „etwas vorenthält“, „der ja gar nicht wirklich helfen will“ oder noch schlimmer, „dem es nur ums Geld geht“. Schwarzer Phosphor sprengt unsere traumatischen Ketten. Scheißegal, was andere von einem denken. Auf eine gesunde Art rück-sichtslos!

Die homöopathische Botschaft des Phosphors: Erst wenn der innere Teufel zu seinem Recht kommt und sein darf, kann auch wieder Mitgefühl fließen. Und unser innerer Teufel ist nichts anderes als das, was sich im Schatten über die Jahre anhäufen musste, damit wir der Gutmensch sein konnten, der gefällt. Aber wir leben nun mal vom ersten bis zum letzten Atemzug in einer polaren und dualen Welt, die nach Ausgleich verlangt. Schwarzer Phosphor bedeutet auch, abstoßend sein zu können und gleichzeitig zu spüren, wie Mitgefühl wieder ins Bewusstsein kommt. Indem wir uns selbst wieder spüren, können wir auch mit anderen mitfühlen. Schwarzer Phosphor, das ist der Weg vom nur sympathischen Menschen, der gefallen will, zum wirklichen „Sym-pathein“, wörtlich einem Mit-leidenden, Mitfühlenden.

 

Schlagworte (mit Links zu weiteren Artikeln von Werner Baumeister):
Homöopathie – „Stirb-und-werde“ – GrenzenSchattenTraumaDruckVerlassenheitDissoziationMitgefühl

 

Werner Baumeister

ist Arzt und bietet individuelle homöopathische Begleitung an.

30 Jahre Erfahrung in eigener Praxis in Berlin.

Einzeltermine nach Vereinbarung, Behandlungstermine zum Thema des Artikels jederzeit möglich.

Information zu aktuellen Workshops immer auf der Seite „Homöopathie am Puls der Zeit

(mit Themenregister aller Artikel) sowie unter Tel.: 0172 – 391 25 85 .

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Die homöopathischen Arzneibilder von Werner Baumeister verstehen sich immer auch

als homöopathischer Spiegel aktuellen Zeitgeschehens.

 

 

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