Die transformative Kraft spiritueller Erfahrungen 30. April 2013 Bewusstsein 2 Kommentare Dr. Stanislav Grof ist ein Pionier in der Erforschung holotroper Bewusstseinszustände – die auf einer bestimmten Ebene auch stark vom Ablauf unserer eigenen Geburt geprägt sind. Er ist Mitbegründer der transpersonalen Psychologie und einer ihrer wichtigsten Theoretiker. Heide-Maria Koubenec und Jörg Engelsing sprachen mit ihm in Berlin über die transformative Kraft spiritueller Erfahrungen. HMK: Sigmund Freud und C.G. Jung haben der Geburt keine Bedeutung für die Entwicklung der Psyche beigemessen. Du hingegen hast die Stadien der Geburt genauestens erforscht und damit ein neues Paradigma in der Psychologie geschaffen. Wie bist du dazu gekommen, dich so intensiv mit dem Geburtstrauma zu beschäftigen? Stan Grof: Eines Tages gab mir ein Freund Freuds „Einführung in die Psychoanalyse“. Ich habe das Buch in einem Stück durchgelesen und konnte danach nicht schlafen. Ich entschloss mich daraufhin, Psychoanalytiker zu werden. Im Laufe der Ausbildung absolvierte ich eine siebenjährige Analyse mit drei Sitzungen pro Woche. Doch ich war von dem Resultat enttäuscht. HMK: … auch von der Theorie Freuds? Stan Grof: Nein, aber ich empfand sie mit der Zeit als unzureichend. Für Freud begann die psychologische Lebensgeschichte nach der Geburt. Das Neugeborene war für ihn eine „tabula rasa“ – eine unbeschriebene Tafel. In der Medizin glaubt man, dass die Gehirnrinde des Neugeborenen nicht reif genug ist, um die Erlebnisse vor und während der Geburt aufzuzeichnen. Dass das Kind also die Erfahrungen der Geburt für gewöhnlich nicht erfährt. Und in der Psychoanalyse glaubt man, dass die Geburt kein Psychotrauma und darum psychologisch unwichtig ist. JE: Ist das immer noch so? Stan Grof: Ja. Mit einer Ausnahme in der Medizin: Wenn die Geburt so schwierig ist, dass die Gehirnzellen geschädigt werden. Auf dem Gebiet der Psychoanalyse hatte Freud eine ganz kurze Periode in seinem Leben, in der er vermutete, dass die Geburt möglicherweise wichtig sei und dass die Angst, die wir erfahren, wenn wir durch den Geburtskanal gehen, die Urangst darstellt, das Grundmuster für frühe Ängste – aber dann hat er diesen Gedanken wieder verworfen. Freuds Schüler Otto Rank allerdings hat die Idee aufgenommen, heimlich das Buch „Trauma der Geburt“ geschrieben und es Sigmund Freud als Geburtstagsgeschenk überreicht. Freuds Biograph sagte darüber, dass Freuds Reaktion unglaublich war: Er geriet in einen traumatischen Zustand und es dauerte vier Monate, sich mit den Gedanken in Ranks Buch auseinanderzusetzen. Freud bewertete die Idee Ranks dann zwar als gut, sah jedoch die Relevanz der Geburt als zweitrangig hinter seiner eigenen Theorie der Psychoanalyse. HMK: Hatte Freud vielleicht Angst, dass in der Zukunft Ranks Entdeckungen wichtiger sein könnten als seine eigenen? Stan Grof: Ja, und er hatte auch Angst, dass das die psychoanalytische Bewegung spalten würde in Befürworter und Gegner der Bedeutung der Geburt für die Psyche. Er entschloss sich daraufhin, Rank aus der psychoanalytischen Bewegung auszuschließen. JE: Wie kamst du dann als Psychoanalytiker zum Thema Geburt? Stan Grof: Wie ich schon sagte, war ich in einer Krise. Inzwischen arbeitete ich als Psychiater in der psychiatrischen Abteilung der Klinik in Prag und wir hatten eine gute Beziehung mit dem Pharmakonzern Sandoz aus der Schweiz. Eines Tages kam eine große Schachtel mit Ampullen. Es war LSD 25. Dr. Albert Hofmann, ein Chemiker von Sandoz, hatte die unglaublich starken psychoaktiven Wirkungen von LSD entdeckt, als er sich selbst versehentlich damit intoxizierte. Auf einmal hatte er phantastische Gefühle. Es kamen Wellen von Emotionen und Farben, optische Illusionen. Das dauerte Stunden, und er dachte zuerst, dass er verrückt geworden sei. Dann glaubte er, er läge im Sterben. Er bat seinen Assistenten, einen Arzt zu rufen. Als der Arzt eintraf, lag er nicht mehr im Sterben, sondern hatte seine Geburt wieder erlebt. Er hatte nicht nur die phantastischen Gefühle eines Neugeborenen, eines Wiedergeborenen, sondern auch das Gefühl, dass viele seiner Probleme dabei gelöst wurden. HMK: Du hast das LSD ja bekommen, um es an deinen Patienten zu testen… Stan Grof: In dem Brief von Sandoz, der mit dem Paket kam, standen zwei Empfehlungen: Die erste war, dass man LSD als Auslöser für eine experimentelle Psychose verwenden könnte. Als zweiten Tipp, der zu meinem Schicksal wurde, schlugen sie vor, es als unkonventionelles Ausbildungsmittel für Psychiater und Psychologen zu verwenden. Diese hätten die Möglichkeit, ein paar Stunden in der Welt zu verbringen, in der ihre Patienten leben. Infolge dieser Erfahrung könnten sie ihre Patienten besser verstehen, besser mit ihnen kommunizieren und hoffentlich auch bessere Resultate mit ihnen erreichen. Ich war – wie gesagt – in einer Situation, in der ich von der Psychoanalyse enttäuscht war – und hier bot sich eine neue Möglichkeit. Ich wurde einer der ersten Freiwilligen für das Experiment. JE: Was hast du in deiner ersten LSD-Sitzung erlebt? Stan Grof: Ich hatte eine überwältigende Erfahrung kosmischen Bewusstseins. Mein Bewusstsein wurde aus dem Körper katapultiert. Ich hatte das Gefühl, dass ich so, wie ich mich kannte, aufhörte zu existieren. Ich war ausgelöscht. Ich hatte das Gefühl, die Totalität der Existenz zu sein. Eine kosmische Erfahrung. Im nächsten Moment erschien ein Licht, wie ich es nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Ich hätte mir nicht einmal vorstellen können, dass so etwas existiert. Ich überlegte anfangs, dass so Hiroshima ausgesehen hat. Heute denke ich, dass ich das primäre Licht aus dem tibetischen Totenbuch im Moment des Todes gesehen habe. Als ich dann von der Erfahrung zurückkam – den Planeten wiedergefunden habe, dann Prag und meinen Körper – hatte ich Probleme, mein Bewusstsein mit meinem Körper wieder in Einklang zu bringen. Es wurde mir klar, dass das, was wir in der Universität lernten – dass Bewusstsein ein Produkt des Gehirns ist – nicht wahr war. Bewusstsein war etwas viel Größeres, ein kosmisches Phänomen. Etwas, für das das Gehirn ein Mittler ist, aber das es nicht selbst erzeugt. JE: Hast du keine Angst gehabt, als du aus deinem normalen Ich herauskatapultiert wurdest? Stan Grof: Es macht natürlich Angst, wenn man die persönliche Identität verliert, doch es war auch eine ekstatische Erfahrung von ganz phantastischer Art. Als ich landete, dachte ich: Das ist wirklich das Interessanteste, was man als Psychiater untersuchen kann. Das war 1956 und ist nun 57 Jahre her. Ich habe seit dieser Erfahrung beruflich kaum etwas gemacht, das nicht in Beziehung stünde mit veränderten Bewusstseinszuständen. Ich habe mich dabei auf eine spezifische Untergruppe von Zuständen konzentriert, die therapeutisch und transformierend wirken und die, wie ich glaube, evolutionär sind. Sie sind Quelle vollkommen neuer Informationen über das Bewusstsein, die menschliche Psyche und über die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Und ich war sehr überrascht, dass die Psychiatrie keinen spezifischen Namen für diese Zustände hatte. Man nannte sie einfach „altered states of consciousness“, also veränderte Bewusstseinszustände. Das impliziert, dass es eine richtige Art und Weise gibt, sich selbst und die Welt wahrzunehmen, und eine veränderte. Im amerikanischen Slang und auch im Veterinär-Jargon heißt „alter“ interessanterweise kastrieren. Ich habe zu große Hochachtung für diese Zustände, um sie „altered“ zu nennen. Auch wenn man sie „außergewöhnlich“ nennt, ist das nicht spezifisch genug. Es gibt viele „außergewöhnliche“ Zustände, die nicht diese Eigenschaften haben. Deshalb habe ich den Namen „holotrop“ geprägt. Holos in der griechischen Sprache heißt ganz, ganzheitlich; und trepo, trepein heißt in Richtung auf etwas hin bewegen, Holotrop bedeutet also: Sich auf die Ganzheit hin bewegend. Die Idee hinter der Bezeichnung holotrop ist demnach, dass uns diese Zustände in Richtung unserer Ganzheit bringen können. Manchmal in kleinen Schritten, manchmal in großen Durchbrüchen. Ich habe dann diese holotropen Zustände erforscht – die erste Hälfte meiner Karriere mit psychedelischen Substanzen im Forschungsinstitut in Prag, dann in Kliniken in den Vereinigten Staaten, wo ich für einige Jahre das letzte Forschungsprojekt mit psychedelischen Substanzen geleitet habe. HMK: In Prag hast du psychotische Patienten mit LSD behandelt … wie hast du das mit deinem bisherigen Bild der Psyche in Einklang gebracht? Stan Grof: Ich habe zuerst mit der Theorie von Freud gearbeitet, mit der Landkarte der Psyche, die auf die postnatale (nachgeburtliche) Biographie beschränkt ist und auf das Freudsche individuelle Unbewusste, das auch von der postnatalen Biographie abgeleitet ist – zum Beispiel das, was wir nicht akzeptieren können, was wir verdrängt haben usw. Das war die Landkarte, mit der ich die LSD-Arbeit begann. Es wurde schnell klar, dass das nur ein sehr oberflächlicher Teil der Psyche war. Als wir mit LSD arbeiteten, öffneten sich die Patienten für eine viel tiefere Ebene des Unterbewussten. Sie hatten das Gefühl, dass sie sich gefangen fühlten, dass ihr Leben bedroht wurde, dass sie sterben, dass sie verrückt werden. Und dabei wurde klar, dass sie die biologische Geburt wieder erlebten. Ich hatte diese Erfahrungen ja selbst gemacht, sehr überzeugende Erfahrungen. Also verstand ich relativ bald, dass man durch diese Heldenreise im Geburtskanal durch musste… HMK: Also war LSD für dich der Zugang – bei deinen Patienten wie auch bei dir – zu erkennen, dass der biologische Geburtsprozess in jedem von uns gespeichert ist? Stan Grof: Ja. Und es wurde klar, dass es ein Reservoir von sehr schwierigen Emotionen dort gibt, auch blockierten Energien, weil natürlich der Fötus im Geburtskanal nicht atmen kann. Es gibt Druck, ungeheure Angst und keine Möglichkeit, das auszudrücken. All diese Emotionen und die Energien bleiben im Unbewussten. Das bisschen Weinen, das nach der Geburt passiert, ist nichts dagegen! JE: Vor allem ist der Fötus allein, während er im Geburtskanal steckt. Das heißt: totale Angst. Stan Grof: Ja. Keine bedeutungsvolle Beziehung mit der Mutter, die plazentare Versorgung ist unterbrochen durch die Kontraktionen. Es ist das Gefühl totaler Einsamkeit. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass dieses Erlebnis eine Quelle von zukünftigen psychosomatischen Problemen ist, die die heutige Psychiatrie gar nicht einordnen kann. Darum: Wenn man das Geburtstrauma wieder erlebt, ist das sehr heilend. JE: Warum sind diese Erkenntnisse in die heutige Psychologie und Psychotherapie kaum oder gar nicht eingegangen? Warum wird die Relevanz der Geburt überhaupt nicht anerkannt? Stan Grof: Es ist ganz unglaublich, weil es unlogisch ist. Wir haben heute Forschungsergebnisse, die zeigen, dass der Fötus in der pränatalen Existenz sehr empfindsam ist. Es gibt Experimente, die das belegen. Und dann gibt es eine allgemeine Übereinstimmung, dass auch unmittelbar nach der Geburt das Kind sehr empfindsam ist. Die Kinderpsychiater und Geburtshelfer sprechen über „bonding“, dass also der Austausch der Blicke zwischen Mutter und Kind nach der Geburt wichtig ist und die ganze zukünftige Beziehung zwischen Mutter und Kind beeinflusst. Das Kind ist sehr sensibel vor der Geburt, sehr sensibel unmittelbar nach der Geburt, aber die Stunden der Geburt, die ein Kampf um Tod und Leben sein können, da erfährt das Kind angeblich nichts. Das ist völlig irrational. Die einzige Möglichkeit, das zu erklären, ist, dass die Erfahrung so angsterzeugend ist, dass wir sie vollkommen verdrängen und nicht daran rühren wollen. Wir müssen dann unserem Intellekt sagen, dass dieser Abschnitt unseres Lebens schon rein physisch nicht wichtig sein kann, da die Hirnrinde noch nicht myelinisiert ist, es also noch keine funktionierenden Nervenbahnen geben kann. Wir wissen aber heute, dass das Gedächtnis tatsächlich ohne Gehirn existieren kann. Im Jahre 2000 bekam der amerikanische Neurowissenschaftler Eric Kandel einen Nobelpreis für seine Untersuchungen der Gedächtnisprozesse der Meeresschnecke Aplysia, die genau das zeigen. Das neugeborene Kind soll hingegen kein Gedächtnis haben, weil die Hirnrinde nicht myelinisiert ist. Es ist völlig absurd und schwer zu verstehen, dass ein Berufszweig, der so viel Betonung auf Logik und Rationalität legt, hier mit zweierlei Maß misst! JE: Kann es sein, dass deine Erkenntnisse darum in die klassische Psychologie nicht eingegangen sind, weil man sich dieser Erfahrung stellen muss, um sie wirklich zu verifizieren – das heißt, man muss holotrop atmen oder LSD nehmen? Stan Grof: Ja, man muss es erleben. HMK: Es war ja wahrscheinlich sehr überraschend für dich herauszufinden, dass die Geburt genau im Menschen aufgezeichnet wird und bis ins Detail erinnert werden kann – zum Beispiel, indem sie durch holotropes Atmen reaktiviert wird. Wie bist du dann zu den vier Geburtsphasen gekommen und ihren Auswirkungen auf die Psyche der Menschen? Stan Grof: Wenn die Patienten und ich selbst zu der Ebene kamen, die ich perinatal nenne – um die Geburt herum – zeigte sich dies in vier Erlebnismustern. Ich nenne diese Phasen grundlegende perinatale Matrizen (Muster um die Geburt herum). Die erste Matrix beschreibt die Erlebnisse unmittelbar vor dem Anfang der Geburt. Die zweite Matrix ist die Phase, wenn die Gebärmutter beginnt zu kontrahieren, aber der Muttermund noch nicht geöffnet ist – eine Kontraktion in einem geschlossenen System – keine angenehme Ausgangssituation. Die dritte Matrix zeigt sich, wenn sich der Gebärmutterhals erweitert – dann gibt es diesen Kampf, aus dem Geburtskanal herauszukommen. Die vierte Matrix ist die Geburt selbst. Der gesamte Prozess ist ein Reservoir von sehr schwierigen Emotionen und physischen Sensationen, die dann später in Kombination mit postnatalen Traumatisierungen viele Formen der Pathologie entwickeln können. Es ist nicht so, dass Freud falsch gelegen hat, aber er hat nur einen oberflächlichen Teil der Psyche beschrieben. Die Wurzeln liegen viel, viel tiefer – in den verschiedenen Phasen der Geburt und dann noch tiefer in Bereichen, die wir zusammenfassend transpersonal – über die eigene Person hinausreichend – nennen, also karmische, psychogenetische und andere transpersonale Erfahrungen. HMK: Der eine Teil deiner Arbeit ist ja die Analyse der Geburt, der Geburtsphasen und die Kartographie des Unbewussten, wie es sich in den Geburtsphasen zeigt und sich später auf das Leben der Menschen auswirkt. Du hast aber auch schon relativ früh in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die transpersonale Psychologie mitbegründet und bist jetzt einer ihrer bedeutendsten Theoretiker. Warum der Fokus auf die transpersonalen Ebenen? Stan Grof: In den Sitzungen tauchten zuerst die perinatalen Erfahrungen auf. Dann mischten sich bei manchen Patienten diese Erfahrungen mit archetypischen, mythologischen, auch historischen Erfahrungen, also Erinnerungen an vergangene Leben. Und dann tauchten die transpersonalen Erfahrungen in einer reinen Form auf ohne die perinatale Beimischung. Plötzlich waren wir in dem Jungschen kollektiven, historischen und archetypischen Unbewussten. Ich hatte sehr wenig Kenntnis davon, da wir damals in Prag keine westliche Literatur bekommen konnten. JE: Wie kann man denn spirituelle Erfahrungen – auch Krisen – und psychotische Zustände überhaupt auseinanderhalten? Stan Grof: Die Psychose ist nicht wirklich eine Diagnose – mit Ausnahme der organischen, wo wir medizinisch etwas finden. In den anderen so genannten funktionellen oder endogenen Psychosen sehen wir, dass Patienten Erfahrungen machen und ein Benehmen an den Tag legen, das die heutige Theorie nicht erklären kann. Die klassische Psychiatrie denkt aber, dass es einen pathologischen Prozess geben muss, den sie später einmal finden wird. Während der Arbeit mit LSD, anderen psychedelischen Substanzen und dann später mit dem holotropen Atmen wurden wir allerdings Zeuge von Erlebnissen wie dem Wiedererleben der Geburt, transpersonalen Erfahrungen etc., die im selben Bewusstseinsraum erschienen wie die biographischen. Es gab dabei keine Grenze. Es machte keinen Sinn zu sagen: Hier ist die normale Psychologie und das dort ist psychotisch. Es ging vielmehr darum, die Kartographie der Psyche so zu erweitern, dass perinatale wie transpersonale Erfahrungen als normale Inhalte der Psyche anerkannt wurden. Die Frage ist, was diese Erfahrungen erzeugt. Und: Warum müssen gewisse Leute eine Stunde schneller atmen oder LSD nehmen, um diese Situationen zu erfahren – und für andere treten sie spontan im Alltag auf? Und weiter: Wenn man mit psychedelischen und holotropen Erfahrungen positiv therapeutisch arbeiten kann, warum nicht auch mit den sehr ähnlichen Erfahrungen, die spontan auftauchen? Das führte zum Begriff spiritual emergency. Das heißt: Es gibt eine sehr wichtige Untergruppe der Zustände, die heute als Psychose diagnostiziert und mit suppressiver Therapie behandelt werden, die wirklich therapeutisch und wandelnd sein können, wenn man sie richtig versteht und unterstützt. Meine Frau Christina hat darum 1980 das spiritual emergency network gegründet. Das ist eine weltweite Organisation, die Menschen, die in einer solchen Krise stecken, mit Leuten vernetzt, die diese alternative Unterstützung anbieten. HMK: Beim holotropen Atmen habe ich auch meine Geburt wieder erlebt, was sehr heilend war. Danach hatte ich in den Atemsitzungen nur noch transpersonale Erfahrungen ohne irgendwelche Bezüge zur Geburt. Gibt es Ebenen, die mit Geburt gar nichts mehr zu tun haben? Stan Grof: Ja. Als Folge der Beobachtungen bei meiner Arbeit musste ich – wie gesagt – die Kartographie der Psyche erweitern. Eine Schicht der Psyche ist die biographische Ebene, mit der sich auch die traditionelle Psychologie beschäftigt. Aber dann war es notwendig, zwei zusätzliche Bereiche zu identifizieren – die perinatale mit den vier Matrizen und die transpersonale Ebene. Es gibt dabei Überschneidungen mit dem Jungschen kollektiven, historischen, archetypischen Unbewussten usw. Als Freud das persönliche Unbewusste entdeckte, entwarf er das Bild, dass das, was man bisher als die ganze Psyche betrachtet hatte, nur die Spitze eines Eisberges war. Und neun Zehntel seien das, was die Psychoanalyse entdeckt habe. Bezüglich der holotropen Arbeit würde ich sagen: Das, was die klassische Psychoanalyse entdeckt hat, ist nur die Spitze des Eisbergs. Die restliche Psyche ist für den traditionellen Psychiater terra incognita, also unbekanntes Gebiet. Mit Ausnahme von Otto Rank und natürlich C. G. Jung. HMK: Aber Jung hat doch auch gesagt, dass die Geburt unwichtig sei. Stan Grof: Ja. Und das ist unglaublich. Es gibt einen Film über Jung. Dort fragt ihn ein amerikanischer Journalist: „Was denken Sie über die Aussage von Otto Rank, dass Geburt psychologisch wichtig ist?“ Und Jung antwortet nicht nur, dass das Thema unwichtig sei, sondern lacht sogar verhöhnend: „Geburt ist kein Trauma – jeder wird geboren. Das ist ein Fakt und kein Trauma!“ Unfassbar – jemand, der solche Gebiete der Psyche gesehen hat wie Jung, konnte nicht akzeptieren, dass die Geburt ein Trauma war. HMK: Ja, das ist wirklich äußerst erstaunlich, insbesondere wenn man bedenkt, wie weit Jung sich in Bezug auf das Phänomen der Synchronizität vorgewagt hatte, obwohl er das ja jahrzehntelang geheim hielt – aus Angst, für verrückt erklärt zu werden. Deswegen fand ich es sehr beeindruckend, dass du in deinem Buch „Wenn das Unmögliche geschieht“ deinen Erfahrungen mit dem mystischen Phänomen der Synchronizität so breiten Raum gegeben hast. Für viele ist man damit schon ein Fall für die Psychiatrie. Stan Grof: Tatsächlich ist die Grenze zwischen psychotischer und spiritueller Erfahrung nicht immer leicht festzulegen. JE: Was ist denn eine spirituelle Erfahrung für dich? Stan Grof: Für mich sind spirituelle Erfahrungen Erfahrungen von Dimensionen der Wirklichkeit, die tatsächlich real sind. Diese Dimensionen existieren wirklich, sind aber normalerweise unsichtbar oder nicht zugänglich für unsere körperlichen Sinne. Dabei können wir meines Erachtens zwei Arten von spirituellen Erfahrungen unterscheiden: Eine davon kann man die Erfahrung des immanent Göttlichen nennen. Das bedeutet, dass wir etwas aus dem ganz normalen Leben wahrnehmen, was aber zusätzlich eine Qualität von Heiligkeit, Göttlichkeit, „Numinosität“ hat, wie Jung es nannte. In so einer Erfahrung erleben wir die Welt als eine Schöpfung von kosmischer Energie. Wir sehen die darunter liegende Einheit von allem und fühlen dort unsere Verbundenheit, wo wir früher eine Welt der Trennung gesehen haben. So etwas ist eine innere Erfahrung – und jedes Individuum hat die Fähigkeit dazu. Die zweite Art spiritueller Erfahrungen kann man Erfahrungen des transzendenten Göttlichen nennen, was eine gänzlich neue Dimension bedeutet. Dort erfahren wir beispielsweise, was Jung archetypische Wesen nannte, oder wir betreten andere Ebenen, den Himmel, das Paradies oder erfahren die Mythologie einer Kultur, die uns vollkommen fremd ist. JE: Kannst du uns dazu ein Beispiel geben? Stan Grof: Du kannst zum Beispiel erfahren, in Shivas Himmel zu sein. Oder du bist die Jungfrau Maria oder in der sumerischen Unterwelt. Ich habe erlebt, ein Sequoia- Baum zu sein, das war sehr, sehr überzeugend. Du kannst ein Adler sein, Plankton im Meer usw. Das sind holotrope Bewusstseinszustände, sie ermöglichen es uns, unsere ganze Identität zu erfahren – über das kleine getrennte Ich hinaus. JE: Wenn du vielleicht die Erfahrung machst, dass du eine Reinkarnation von Jesus Christus bist, ist das also keine Psychose, sondern vielleicht ein Archetyp, mit dem du gerade identifiziert bist? Stan Grof: Ja. In der archetypischen Welt sind Erfahrungen wie die Kreuzigung oder eine Identifikation mit der Jungfrau Maria häufig. Das sind Visionen, die jeder haben kann. Wir hatten beispielsweise einen Atem-Workshop in Santa Cruz mit 36 Teilnehmern. Die Hälfte der Gruppe – also 18 – haben geatmet und sechs davon lagen am Schluss mit den Armen seitlich ausgestreckt am Boden wie Jesus am Kreuz. Dies ist eine totale Identifikation mit dem Jesus-Archetypen, also eine transpersonale Erfahrung. Der Punkt ist nur, dass man erkennen muss, dass jeder diese Erfahrung machen kann und dass sie dich nicht zu etwas Besonderem macht. Ein Problem entsteht dann, wenn ein Mensch diese sehr überzeugende Erfahrung macht, dass er die Wiedergeburt von Jesus ist, und glaubt, er sei der Einzige, der dieses Erlebnis hat. Dann will er das anderen erzählen – vielleicht sogar dem Präsidenten. Dadurch entstehen Probleme. Menschen, die eine solche Erfahrung so verstehen, werden in die Psychiatrie gebracht und mit Psychopharmaka behandelt, was die gesunde Integration der Erfahrung unterdrückt. Als Folge müssen sie ihr Leben lang mit der Diagnose leben, ein Psychotiker zu sein. Deswegen ist es wirklich notwendig, die Erfahrung einer Identifikation mit einem Archetyp zu vollenden, indem man erkennt, dass es sich hier um eine normalerweise nicht sichtbare archetypische, transpersonale Ebene handelt. JE: Und worin liegt das heilende Element, wenn du dich mit solchen Figuren der Geschichte identifizierst? Stan Grof: Nun, viele Probleme können dadurch entstehen, wenn wir uns mit dem getrennten Selbst identifizieren. In einer machtvollen spirituellen Erfahrung erkennst du jedoch, dass das nicht deine Form ist, deine Identität. Das ist ja der Grund, warum wir von holotropen Erfahrungen sprechen. Du entdeckst dabei, dass deine wahre Identität viel größer ist, deine Identität reicht vom Körper-Ego bis zum Höchsten, zu Atman, zum Tao, zum Heiligen Geist – oder welche Begriffe du dafür benutzen willst. Wenn du von dort zurück in dein tägliches Leben kommst, wird es mehr zu einer Rolle, die du spielst. Auch wenn der Vorhang sich wieder geschlossen hat, hast du realisiert, dass du im Grunde eine Art größere Identität bist, die viele verschiedene Rollen spielen kann. Diese machtvollen spirituellen Erfahrungen können eine Art Meta-Rahmen herstellen. Damit kannst du dich auf eine größere Identität beziehen, wenn du in deinem Leben Schwierigkeiten hast. Durch solche transpersonalen Erfahrungen in holotropen Zuständen spürst du auch eine andere Art von Verbindung zu anderen Menschen, zur Natur, zum Kosmos. Ich glaube – und einige Statistiken sagen das auch –, dass zunehmend mehr Menschen solche Erfahrungen spontan machen. Also beispielsweise ohne irgendeine spirituelle Praxis, holotropes Atmen oder psychedelische Substanzen. Und wenn Menschen spirituelle Erfahrungen haben, bewegen sie sich in Richtung einer neuen Weltsicht. Sie beginnen sich mit anderen Menschen und mit der Natur verbunden zu fühlen und entwickeln das Gefühl einer planetaren Bürgerschaft. Sie haben das Bedürfnis zu dienen und möchten etwas Gutes für die Welt zu tun. Menschen, die solche spirituellen Erfahrungen erfolgreich vollendet haben, entwickeln ein Bewusstsein, das für das Überleben der Welt extrem nützlich ist. Wenn mehr Menschen in diesem Zustand wären, dann hätte die Menschheit eine bessere Chance zu überleben. Es ist so traurig, dass gerade die Menschen, die auf dem Weg einer sehr positiven Transformation sind, als “krank” und “psychotisch” bezeichnet werden, während andere Menschen, die wirkliche Probleme in der Welt erschaffen – wie Kriege, Tod und Terror –, hervorragende Positionen in der Welt erhalten. HMK: Wäre es nicht wunderbar, wenn sich viele Menschen durch holotropes Atmen heilen und die Gewalt, die sie während der Geburt erlebten, integrieren, so dass es weniger Gewalt in der Welt gäbe? Stan Grof: Holotropes Atmen ist nicht der einzige Weg dorthin. Und weißt du, wir wollen niemanden bekehren… HMK: Aber es ist eine Methode, die viele Bewusstseinsebenen umfasst … Stan Grof: Sagen wir mal so: Ich sehe als einzige Hoffnung für unseren Planeten, wenn es in größerem Ausmaß verantwortliche Arbeit mit holotropen Zuständen gibt – nicht nur mit holotropem Atmen. Solange wir die Probleme auf eine Art und Weise lösen, die eine Fortsetzung der Strategie ist, die diese Probleme erzeugt hat, sieht es schlecht aus. Einstein sagte schon, dass Probleme nicht mit der derselben Art und Weise zu denken gelöst werden können, die die Probleme erschaffen hat. Wir alle müssen tatsächlich durch eine mächtige Transformation gehen. Abb: © styleuneed – Fotolia.com 2 Responses Bernd 13. Mai 2013 Es scheint mir auch eine Folge der Zeitqualität zu sein, wie im Horoskop angedeutet, mit welcher ausgezeichnetet Qualität besonders diese Eure Ausgabe des SEIN gesegnet ist. Aber es macht mir auch Hoffnung auf dem Weg, auf immer wesentlichere Aussagen zu treffen. Euch ganz herzlichen Dank für diese Auswahl an Artikeln Antworten Ferdinand 3. Mai 2013 Sehr schöner Artikel, Vielen Dank für die besonders gelungene Ausgabe Antworten Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.
Bernd 13. Mai 2013 Es scheint mir auch eine Folge der Zeitqualität zu sein, wie im Horoskop angedeutet, mit welcher ausgezeichnetet Qualität besonders diese Eure Ausgabe des SEIN gesegnet ist. Aber es macht mir auch Hoffnung auf dem Weg, auf immer wesentlichere Aussagen zu treffen. Euch ganz herzlichen Dank für diese Auswahl an Artikeln Antworten
Ferdinand 3. Mai 2013 Sehr schöner Artikel, Vielen Dank für die besonders gelungene Ausgabe Antworten