Bemerkungen über die Abtreibung der Herzgefühle

So, wie das Kind in seiner Natur und aus seinem Herzen heraus ist, könnte es manchmal vor schierer Freude, vor purem Glück zerspringen. Seine „unanstößliche Übertragung“ (Freud) auf die Menschen und die Tiere, diese grenzenlose Liebe, diese unbändige Sehnsucht nach der Verbindung, nach Kontakt, ist ungetrübt, wird sie nur … gelassen. Erhält es die Chance, seiner inneren Natur ein Stück weit zu folgen und sie zu entfalten (ich spreche hier also nicht von ungewollten oder früh traumatisierten Kindern), lebt das Herz des Kindes, lebt aus dem tief empfundenen Einklang mit sich selbst und mit der unmittelbaren Lebensumwelt seiner Familie.
Wie sehr das Kind liebt, zeigt sich in der manchmal unbegreiflichen Liebe, die es seinen Eltern immer und immer wieder entgegenbringen kann, ein Leben lang.

Es ist das Herz des Kindes, das sich zeigt, das sich verbinden will und Bindung sucht: mit der Mutter, mit dem Vater, den anderen Menschen und Lebewesen. „Schlimmer“ noch, sein Herz kann überschäumen vor Liebe, vor Liebeslust, so dass der Erwachsene in seiner harschen, harten, unerbittlichen Welt des Kampfes und der Waffen heftig erschrickt.

Der durchschnittliche Erwachsene hat schließlich sein inneres Kind mit genau diesen Gefühlen in sich abgetrieben, es geopfert, ist dorthin gelangt, wo er nun ist. Tief in sich vergraben den Schmerz des gebrochenen Herzens, so tief, dass nichts mehr in seinem Selbst-Bewusstsein davon greifbar ist. Der sein Selbst-Bewusstsein verloren hat, verzweifelt danach sucht. Und  dem das Wesen des eigenen Kindes nun unbegreiflich erscheinen muss.

„Die Schläge meines Vaters haben mir nie geschadet. Im Gegenteil.“ In diesem Satz steckt alles: die verdrängte Demütigung, die Bitternis, die Scham, die Abspaltung von Schmerz und Wut, die Identifizierung mit dem Täter, der ich-bildende Triumph, das alles nicht mehr fühlen zu müssen. Diesen Schlägen folgen viele andere, physische und psychische, werden zur Normalität – und reproduzieren diese. Doch irgendwann hat sich jeder einmal  – aus purer Ohnmacht –  für die Waffen und für die Abtreibung seiner Herzgefühle entschieden.

Nahezu jeder Erwachsene in unserer Kultur hat eines lernen müssen:
Die Stimme des Herzens ist peinlich, lächerlich, kindisch, belanglos, sie läuft der Wirklichkeit zuwider, sie ist lästig, eigentlich völlig unwichtig, überflüssig wie die 20. Talkshow mit Leuten, die man schon 20 mal hat reden hören. Zwar ist sie irgendwie da, und dass sie da ist, lässt sich auch irgendwie nicht vermeiden, aber wirklich gewünscht, willkommen, geliebt gar ist diese Stimme nicht.

StephanDietl_72.jpgIch möchte Sie einladen, werter Leser/in, diesen Absatz jetzt noch einmal zu lesen, aber diesmal überall dort, wo ich vorher „Herz“ schrieb, das Wort „Kind“ einzusetzen. Na? Passt doch.
Dieses Wesen des Kindes, das aus seinem Herzen heraus lebt, ist, so wie es ist, eine Schande. Es soll anders sein. Es muss anders werden. Es sollte sich schämen, so zu sein. So überschwänglich, so naiv in seiner Liebe. Das Leben ist doch ganz anders. Die Menschen sind doch ganz anders. Das Leben ist hart, das Kind viel zu weich, falsch in dieser Weichheit des Herzens. Diese elende Schwäche, wenn und wie es sein Herz zeigt! Lächerlich. Es ist eine Schande, solche Gefühle zu empfinden, es ist eine Schande, so zu sein, wie es ist. Es ist beschämenswert. Und dieser offene, direkte, liebevolle Blick, ist er nicht lächerlich, nicht irgendwie hündisch? Wenn mein Hund so guckt, okay, er ist schließlich ein Hund.
Aber mein Kind? Soll doch ein Mensch sein, ein Mensch werden, da guckt man so nicht.
Und das Kind erfährt die Scham. Die Vertreibung aus dem Paradies. Das, was es zu verdecken lernt, ist nicht in erster Linie sein Genital, sondern sein Herz. Seine Authentizität. Seine innere Wahrheit, die dem Leben mit dem Herzen begegnen will.

Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Abtreibung seines Herzens. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die tief empfundene Scham darüber, ein über alle Maßen liebendes, ein überschwängliches, ein aus innerem Frieden und Glückseligkeit heraus schlagendes Herz in sich zu fühlen.

Die Welt, in die es geboren wird, wird ein solches Herz beschämen. Wieder und wieder. Oder kreuzigen. Der „Christusmord“  des Wilhelm Reich. Wird dieses Kind beschämen. Und dieses Kind wird sich schämen, ein Leben lang, ein solches Herz in sich fühlen zu müssen und es schlussendlich in sich ersticken. Und: verwundet und verwundert darüber, dass es nicht mehr lieben kann, diese verlorene Wahrheit suchen.


Abb.: © Lydia Margerdt/pixelio.de
Abb. 2: © StephanDietl/pixelio.de

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*