Wahrheit muss sich nicht gut anfühlen

Wahrheit fühlt sich nicht immer gut an: Warum nur eine Suche ohne Erwartungen uns der Wahrheit näher bringen kann. Über die Wohlfühl-Falle.

Wahrheit und Gefühl

Ich möchte dir ein kurzes Gedankenexperiment vorschlagen: Stell dir vor, du hättest die „Wahrheit“ gefunden – und zwar die ganze Wahrheit, und deine spirituelle Suche wäre damit zu Ende. Wie fühlt sich das an, emotional und sinnlich? Probiere es mit geschlossenen Augen aus.

Wenn du wie die meisten Menschen bist, hat dein Gehirn dabei wahrscheinlich ein Gefühl tiefer Entspannung produziert. So als wärst du in einem endgültigen Glücks-Zustand angekommen – als wärst du endlich, nach einer langen und mühseligen Reise, „zu Hause“.

Das Bild und die Gefühle, die diese Vorstellung bei dir provozieren, können – nun ja – durchaus wahr sein, doch nur bis zu einem bestimmtem Grad. Gleichzeitig sind sie aber auch ziemlich irreführend. Es ist eine anerkannte Tatsache – der amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann hat das sehr deutlich gezeigt – dass unser Gehirn dazu neigt, angenehme Gefühle und Wahrhaftigkeit miteinander zu verknüpfen. Es liegt in der Natur des Gehirns, einen Zustand „kognitiver Leichtigkeit“ zu bevorzugen. Wenn sich also etwas bekannt, gut oder mühelos anfühlt, bewirkt das eine gute Stimmung und wird sich damit auch „wahr“ anfühlen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn ein spiritueller Lehrer seinen Zuhörern sagt: „Tu einfach gar nichts, sei einfach mühelos und entspannt“, oder „es gibt nichts, wonach du suchen müsstest“ oder „du bist bereits frei“. Solche Aussagen fühlen sich wahr an, weil sie unser Gehirn in seinem Streben nach kognitiver Leichtigkeit unterstützen.

Es ist klar, dass wir, wenn unser Gehirn eine solch enge Verknüpfung zwischen Wahrheit und guten Gefühlen formt, nicht wirklich länger nach Wahrheit suchen. Eigentlich geht es um ein gutes Gefühl. Ich habe vor einigen Jahren eine Frau schwer enttäuscht, als ich ihr gegenüber meinte, die Aussage „alles ist Gottes Wille“, an der sie sehr hing, sei nicht notwendigerweise die Wahrheit, sondern ein Konzept. Verärgert rief sie aus: „Aber ich spüre Ruhe und Frieden, wenn ich an diesem Gedanken festhalte, wieso sollte ich damit aufhören?“

Wahrheit, die aufrüttelt

Allzu häufig wird das Gefühl von Ruhe und Frieden untrennbar mit einer tatsächlichen Wahrheit in Zusammenhang gebracht. Das kann sogar bis zu dem Punkt gehen, an dem man denkt, Wahrheit sei dazu da, dass man sich besser fühle. Deshalb sollte sie natürlich auch immer beruhigend sein, unseren Seelenfrieden nie gefährden und niemandem schlaflose Nächte bereiten. Darin steckt eine Gefahr: Wir verlieren so die Möglichkeit, der Wahrheit als etwas zu begegnen, dass Unruhe stiftet, aufrüttelt und Entwicklungssprünge bewirkt.

Ein gutes Beispiel ist die scheinbar selbstverständliche „Wahrheit“ der Selbstakzeptanz. Wenn wir hören „nimm dich einfach an“, reagiert das Gehirn sofort mit einem angenehmen Gefühl, das sich „wahr anfühlt“. Aber was, wenn eine gewisse Frustration mit dem eigenen Dasein einfach eine nüchterne Erkenntnis ist, die uns noch dazu helfen kann, über uns hinauszuwachsen? Kürzlich gab ich einer Frau, die mir von einer solchen Frustration erzählte, den Rat: „Schalte nicht einfach ab, akzeptiere dich nicht einfach selbst. Nutze diese Frustration als Sprungbrett, als eine Energie, die dich weiter antreibt“.

Suche ohne Erwartungen

Man sollte die Idee, dass die „Wahrheit“ immer gute und harmonische Empfindungen bewirken sollte, ernsthaft anzweifeln. Solange man diese Gefühle erwartet, sucht man nicht aufrichtig und bedingungslos, man hat nicht den Mut, sich die Welt – die innere wie die äußere – bis in ihre verborgendsten Schichten hinein anzusehen. Schon Carl Jung hat es gewagt, die religiöse Verknüpfung von „Gott“ und „Güte“ anzuzweifeln. Wer hat gesagt, fragte er, dass Gott notwendigerweise gut ist? Was, wenn Gott einen schrecklichen und gnadenlosen Anteil hat, eine Schattenseite sozusagen? Vielleicht dachte Jung, dass wir, gerade weil wir die böse Seite so sehr fürchten, fortwährend zu Gottes „guter“ Seite beten, um gerettet zu werden.

Jeder echte Suchende ist ein bedingungslos Suchender. Vielleicht ist die „Wahrheit“ hässlich, oder zumindest manchmal hässlich. Vielleicht ist das, was uns am Ende des Weges erwartet, eine Wahrheit, die unangenehme, oder sehr schwierige Gefühle mit sich bringen kann. Als Suchender sollte man zumindest diese Möglichkeit akzeptieren. Auch wenn es ziemlich schwierig oder unbequem ist, das zu akzeptieren. Man kann uns das kaum vorwerfen. Wie schon Nietzsche klagte, wird die Wahrheit bereits seit Platons Tagen philosophisch mit dem „Guten“ und dem „Schönen“ verbunden. Und darüber hinaus wird auch jeder spirituelle Lehrer sagen, dass Wahrheit Glückseligkeit ist. So ist die Erwartung entstanden, dass wir der „Wahrheit“ näher sind, sobald wir uns gut fühlen.

Die Wohlfühl-Falle: Welche Wahrheit suchen wir?

Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Wahrheit“ reden? Idealerweise müsste es etwas sein, das nicht nur eine Projektion unseres Denkens oder eine subjektive Erfahrung ist. Es müsste ein Moment sein, in dem wir mit etwas in Berührung kommen, das nicht bloß unsere eigene Perspektive darstellt. Um eine solche „Wahrheit“ zu entdecken, muss der Suchende sich von allem trennen, was er zu finden hofft oder finden will. Andernfalls ist alles, was man finden kann, nur ein Bild dessen, was man ohnehin erwartet hat. Solche Erwartungen können dazu führen, dass man sich vom Leben distanziert, da dieses sowohl wundervoll als auch schrecklich, sowohl schön als auch hässlich ist.

Wahrheit bedeutet also ganz einfach, dass man die Dinge so sieht, wie sie sind, ob das nun angenehm oder unangenehm, transzendent oder realistisch ist. Es ist, als würde man mit bloßem Auge schauen, ohne eine verzerrende Brille. Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass man die „Wahrheit“ aus der Wohlfühl-Falle befreit. Das Großartige daran ist, dass eine ganz neue Art von Glück aus dem Inneren des Menschen auftaucht, sobald er keinen Widerstand mehr dagegen hat, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Man fühlt sich dann frei, wirklich frei, denn man wehrt sich nicht mehr gegen die unangenehmen Gefühle, die manchmal mit einem klaren Blick einhergehen.

Die schöne, hässliche Wahrheit

Das war eines der größten Geschenke, das mir die Beschäftigung mit dem Philosophen und spirituellen Lehrer Jiddu Krishnamurti gegeben hat. Ich bin seinen Lehren in meinen frühen 20ern begegnet und fand sie sehr beunruhigend. Er hielt mir vor Augen, wie hässlich mein egoistisches Selbst war, und die Leere in meinem Herzen. Das war zunächst ein Schock, aber dann auf eine sehr tiefe Weise befreiend. Dank ihm konnte ich nicht nur Licht sehen, sondern auch Dunkelheit. Beides war auf eine faszinierende Weise erhellend.

Wenn du dazu eine Übung machen möchtest, versuche einmal Folgendes: Nimm dir eine Weile Zeit und und stelle dir selbst die Frage, ob es in dir oder in der äußeren Welt eine „hässliche Wahrheit“ gibt, die du lieber nicht sehen würdest. Gibt es etwas, das du aus deinem Blickfeld geschoben hast, weil du unangenehme Gefühle lieber vermeidest? Wärst du jetzt bereit, dir diese Wahrheit anzusehen – in dem Wissen, dass das dich freier machen kann?

Übersetzung: Philipp Ritzler und Theresa Bäuerlein.

Eine Antwort

  1. Jan von Wille

    Vielen Dank für diesen ausgewogenen Blickwinkel. Manchmal hört man in der Tag zu viel von diesem “ es ist alles schon ok“.
    Deshalb finde ich, dass reife Spiritualität sich immer in meinen menschlichen Beziehungen spiegeln sollte.
    Vor kurzem habe ich gelesen:
    „Beziehungen schenken uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand bieten.“ – das fand ich gut!

    Menschen können für mich wie ein Spiegel sein. Ich brauche diese Spiegel / diese Stimmen, sie sind wichtig, aber sie zeigen mir auch immer nur einen Teil von mir. Einen sehr begrenzten Ausschnitt.
    Manchmal ist dieser Ausschnitt auch sehr verzerrt!
    Und ganz gefährlich wird es, wenn ich versuche, diesem Spiegelbild, diesen Erwartungen von Menschen gerecht zu werden. Dann verkrümme ich mich.
    Die große Frage dabei ist für mich: was ist mein „Referenzpunkt“? Worauf beziehe ich mein Selbst (nicht mein Ego)?
    Hab vor kurzem selber was dazu geschrieben (ich hoffe, das ist ok):
    http://lebenvertiefen.de/liebe-als-voraussetzung-fuer-erkenntnis/

    Danke für die Inspiration!
    LG
    Jan

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