Dreamcatching: Träume fangen in Auroville 29. April 2010 Zusammenleben Auroville: Im Süden Indiens wird seit 1968 eine Vision zur Wirklichkeit. Eine universelle Stadtutopie, deren Ziel nichts Geringeres ist, als die Einheit der Menschheit sowohl zu symbolisieren als auch zu leben. In der nur vier Punkte umfassenden Charta der Stadt heißt es Auroville möchte „die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein“ und „Platz materieller und spiritueller Forschung für eine lebendige Verkörperung einer wirklichen menschlichen Einheit“. 50.000 Menschen aus aller Welt will die auf eine Schülerin des Yogis Sri Aurobindo zurückgehende Community eines Tages in einer Stadt der Zukunft vereinen – derzeit sind es immerhin schon rund 2000 Menschen, die sich an diesem besonderen Ort zusammengefunden haben. Die Zukunft gestalten ist nicht immer einfach. Auroville ist ein Ort des Experiments und damit auch ein lebendiger Organismus in ständiger Wandlung, ein kollektiver Traum seiner Bewohner. Aber wie trifft man Entscheidungen in einer solchen Gemeinschaft, die sich aus Menschen zusammensetzt, deren Hintergrund und Visionen kaum unterschiedlicher sein könnten? Nach Experimenten mit allen nur erdenklichen Modellen der demokratischen Entscheidungsfindung wurde in Auroville eine neue Art zum Planen und Verwirklichen von Projekten entwickelt, die ebenso einfach wie anders ist: das „Dreamcatching“. Lösungen jenseits der Dualität Die zugrundeliegende Überzeugung ist: Wenn wir unsere Fähigkeiten einander zuzuhören und zu kooperieren verfeinern, erzeugen wir ein positiveres Umfeld, in dem win:loose-Situationen nicht mehr akzeptabel sind und selbst klassische win:win-Lösungen zu win:win:win-Möglichkeiten transformiert werden können. Hierzu ist es nötig, dass alle Mitglieder einer Gruppe bereit sind, sich der Möglichkeit zu öffnen, dass jenseits der Entweder-Oder-Entscheidungen immer eine Sowohl-Als-Auch-Lösungen wartet. Außerdem gilt es, die Fähigkeit zu entwickeln, auftretenden Problemen keinen Widerstand mehr zu bieten, sondern ihre Kraft wie im Tai Chi so umzuleiten, dass die sich ergebende Lösung einen scheinbaren Gegensatz oder ein vermeintlich unlösbares Problem in eine profunde Chance verwandelt. Probleme werden hier so verstanden, dass sich durch sie lediglich ein neuer Aspekt zeigt, der integriert werden möchte; dass die bisher bestehende Lösung noch nicht wirklich eine nachhaltige und ganzheitliche ist. Die Dreamcatcher gehen davon aus, dass diese Lösungen jenseits der Dualität immer existieren – wir haben nur nicht gelernt, sie zu sehen. Um sie sehen zu lernen, müssen neue Techniken und Werkzeuge erkundet und erforscht werden, die uns helfen, einen authentischen Ausdruck des Willens und der Vision einer Gruppe zu bekommen. Die herkömmlichen Methoden bieten dies nämlich meist nicht, wie auch die Bewohner in Auroville feststellen mussten. Das Dreamcatching entstand dort, nachdem der Prozess des Um- und Ausbaus der Community ins Stocken geraten war und die beauftragten Architekten merkten, dass sie allein nicht weiterkamen. Nach einigen Experimenten mit verschiedenen klassischen Brainstorming-Techniken kristallisierte sich schließlich nach und nach das Dreamcatching heraus. Träume fangen Die Dreamcatching-Sessions finden einmal in der Woche und immer bei Sonnenaufgang auf dem Dach eines Hauses statt. Das hat einerseits praktische Gründe – um diese Zeit ist es am einfachsten einen gemeinsamen Termin zu finden – andererseits trägt die morgendliche Stille zu der besonderen Atmosphäre der Treffen bei und versetzt die Teilnehmer in einen Zustand der Empfänglichkeit und ist damit letztlich vielleicht sogar integraler Bestandteil des Prozesses. Jede Sitzung beginnt mit dem chanten eines Eröffnungs-Mantras und einer Phase der Stille und Kontemplation. Diese bereitet den Boden für eine einleitende Runde, in der jeder/jede mitteilen kann, was er/sie zum Thema des Tages denkt. Danach ist der Kreis offen für weitere Beiträge. Dabei wird ein „Rede-Ball“ verwendet – dass heißt, nur wer derzeit den Ball hat, darf reden. Dies erzeugt einerseits Raum für den Sprecher und andererseits Raum zum Zuhören. Nach jedem Beitrag wird der Ball nicht weitergegeben, sondern langsam zurück in die Mitte des Kreises gelegt, aus dem der/die Nächste ihn nach einer kurzen Stille übernimmt. So kann der Tendenz entgegengewirkt werden, sofort mit dem Sprechen zu beginnen, sobald eine Person geendet hat und Ideen können sich erstmal entfalten und ins Bewusstsein sinken. Ziel ist, nicht zu sehr in den Verstand einzusteigen und statt dessen aus der Stille heraus zu sprechen. Es gibt nur wenige Regeln für das „Träumefangen“, die wenigen, die es aber gibt, sind wichtig, um dem Prozess die gewünschte Qualität zu verleihen: Es gibt keine Zensur irgendeiner Idee, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie erscheinen mag. Das gilt für die anderen, aber vor allem auch für uns selbst: Welche Idee auch immer ins uns aufsteigt, wir bewerten und evaluieren sie nicht, sondern geben sie in die Runde. Es gibt keinerlei Diskussion Es wird nicht direkt auf Vorredner reagiert oder ein argumentatives Streitgespräch begonnen: Jeder spricht aus seinem eigenen ruhigen, introspektiven Raum heraus. Es soll sich generell davon verabschiedet werden, eine Idee wäre „meine Idee“, für die ich kämpfe. Ich bin nur derjenige, durch den die Idee sich gerade ausdrücken möchte. Die Treffen sind absolut freiwillig und es sollen nur die kommen, die sich wünschen dabei zu sein In der Woche zwischen den Treffen kann jeder seine Eindrücke der Session über einen Email-Verteiler mitteilen und versuchen, das Gehörte zu ordnen. Die klarsten dieser „Perlen“ werden dann teilweise auf Papier gebracht und in den sogenannten „Dream-Spaces“ für die anderen Community-Mitglieder ausgehängt. Während der ersten Monate des Experimentierens mit dieser Methode wurden in den wöchentlichen Sitzungen die verschiedensten Themen angesprochen. Aber schon bald stellten die Traumfänger fest, dass,ein Thema immer mehr subtile Einsichten offenbarte, wenn sie einige Wochen dabei blieben. An einem bestimmten Punkt schien es dann, als würde die Lösung der Frage die Wahrnehmungsfilter der Gruppe durchdringen und sich ihr offenbaren. Scheinbar völlig unzusammenhängende und sogar gegensätzliche Fragmente fügten sich plötzlich zu einem Ganzen zusammen und verschmolzen zu gemeinsamen Sinn und Bestimmung. Der Traum war gefangen. Träume weben Analog zu den Dreamcatching-Sessions am Morgen, die sich auf den Eintritts-Punkt einer Vision in die Gemeinschaft konzentrieren, kristallisierten sich schon bald Dreamweaving-Sesssion bei Sonnenuntergang als zweiter Schritt des Prozesses heraus. Diese drehen sich mehr um die Frage , wie der gefangene Traum schließlich konkret umgesetzt werden soll. Als Gegenpol zum sehr introvertierten Dreamcatching sollte bei diesen Treffen mehr mit interaktiven Methoden experimentiert werden. Ziel ist es dabei, sowohl hierarchische Strukturen zu vermeiden, bei denen einige Manager die Richtung vorgeben, während die meisten Anderen nur Anweisungen ausführen, als auch die Verwässerungen, die mit den meisten demokratischen Konsens-Entscheidungen einhergehen. Es gilt, durch die Synthese der Intuitionen aus den Herzen aller Anwesenden den „höchsten gemeinsamen Zähler“ zu finden, statt alles auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zusammenzukürzen, der jeden individuellen Ausdruck so weit unterdrückt, bis man irgendetwas übrighat, dem alle zustimmen können. Wie schon beim Dreamcatching-Prozess erfordert dies, dass sich die einzelnen Teilnehmer davon verabschieden, eine Idee würde ihnen gehören und dadurch persönlich so mit ihr involviert zu sein, dass sie schon allein aus „Ego-Gründen“ für sie kämpfen. Stattdessen ist das Ziel der Diskussion, die Verschmelzung all dessen zu ermöglichen, das sich zeigt und passieren möchte. Einen großen Schritt in diese Richtung tat die Gruppe, indem die Regel eingeführt wurde, dass jeder, der eine die Integration einer bestimmte Lösung oder eines bestimmten Punktes vorschlägt, auch die Verantwortung für dessen Einbindung und Umsetzung anbieten muss. Die Übernahme dieser Verantwortung gibt dem Vorschlagenden auch die Pflicht an die Hand, die Idee auf dem Weg zum Konsens zu begleiten. Die Regel ist weiterhin, dass versucht wird, jede geäußerte Kritik als Erweiterung verstanden werden sollte und versucht wird sie so in die Ursprungsidee zu integrieren, dass sowohl der Initiator als auch der Kritiker von der modifizierten Lösung überzeugt sind. Die Erfahrung in Auroville ist, dass durch diese einfachen Regeln sehr viel ganzheitlichere Lösungen möglich werden. Traum-Café Eine weitere Methode, derer sich beim Dream-Weaving bedient wird, ist eine Adaption des Conversation-Café. Die Grundregeln sind dabei die gleichen wie beim Dreamcatching, nämlich: Abschied nehmen vom Konzept einer Idee als „meine Idee“, keine Zensur von Gedanken und respektvolles Zuhören. Es werden dann Gruppen a vier Leuten gebildet, die sich an Tischen zusammenfinden, um für zwanzig Minuten über ein bestimmtes Problem zu diskutieren, wobei durch Skizzen und stichwortartige Zusammenfassungen das gesagte dokumentiert wird. Danach verlassen alle Teilnehmer bis auf einen den Tisch und würfeln sich mit anderen Teilnehmern zu neuen Gruppen zusammen. Das verbliebene Mitglied bringt nun die neuen Gruppenmitglieder auf den Stand der letzten Gruppe und der co-kreative Prozess beginnt von dieser Ebene aus erneut. Dieser Ablauf wird dreimal während des Verlaufs einer Stunde wiederholt – dann werden die gesammelten Ideen der ganzen Gruppe vorgestellt und weiterentwickelt. Dieser Prozess bringt einen hohen Grad an gegenseitiger Inspiration mit Ideen und Möglichkeiten mit sich, aus deren Fundus eine kollektive Lösung geerntet werden kann. Work In Progress Nicht nur in Auroville, sondern in fast allen Gemeinschaften wird derzeit mit neuen Methoden zur Entscheidungsfindung experimentiert. Es scheint einen Paradigmenwechsel zu geben, weg davon, sich irgendwie mit Mühe und Not miteinander zu arrangieren, hin zu der Erkenntnis, dass die kollektive Intelligenz einer Gruppe weit über der Summe der Möglichkeiten ihrer einzelnen Mitglieder liegt. Dass wir zusammen eine Vision träumen und manifestieren können, die uns weit besser dient, als unsere eigenen begrenzten Wünsche. Dass wir Kanäle sind für einen größeren Traum, der sich durch uns ausdrücken möchte. Dass wir unser Zusammenleben als ein Spiel gegenseitiger Inspiration gestalten können – ein Spiel bei dem alle gewinnen. Vielleicht werden mit diesen Experimenten die Grundsteine gelegt für eine Zukunft, in der wir nicht mehr zueinander sagen „Ich habe Recht!“, sondern „Komm, lass uns Träume fangen!“ Mehr Artikel zum Thema auf Sein.de Dragon Dreaming – Träume verwirklichen Soziokratie – Die Magie des Kreises Alternative Lebensgestaltung im ZEGG Quiet Healing Center Alle Bilder: Auroville Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.