Beziehung kann ein genialer „Entwicklungshelfer“ für uns sein. Kann. Dann, wenn wir uns wirklich öffnen und bereit sind, alle aufkommenden Gefühle anzunehmen, und nicht den Partner für jedes unangenehme Erleben von „nicht bekommen“ verantwortlich machen. Die Realität sieht meist anders aus. Sie besteht in der Aufforderung an unser Gegenüber: Rette mich vor einem Leben in Ödnis und Einsamkeit. Im Extremfall wird daraus ein Klammern an eine vermeintliche Rettungsinsel im unendlichen Meer der Unsicherheit und Haltlosigkeit. Das kann man leicht überprüfen. Wie reagieren wir, wenn der Partner Sex mit einem anderen Menschen hat? Freuen wir uns, dass er es genossen hat, oder zieht es uns den Boden unter den Füßen weg, weil wir Angst haben, nicht mehr gut genug zu sein und in die Einsamkeit zurückgestoßen zu werden?

Das mag extrem sein, aber was wir meist als Beziehung leben, ist ein unausgesprochener Vertrag über die beiderseitige Bedürfniserfüllung bezüglich Liebe, Nähe, Berührung und Nicht-mehr-allein-Sein. Allerdings ein Vertrag mit einem Haken. Und der heißt Abhängigkeit. Wenn ich vom Anderen etwas haben will, von dem ich meine, es nicht selbst zu besitzen, dann versuche ich sein Verhalten so zu steuern – man kann auch sagen: manipulieren –, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit das von mir Gewünschte erhalte. Es ist nun von Mensch zu Mensch unterschiedlich, was wir bereit sind, für das zu tun, was wir anscheinend brauchen. Wenn ich unsere Gesellschaft so angucke, dann muss ich sagen: sehr, sehr viel. Wir lügen, verdrehen und verbiegen uns, um von anderen wahrgenommen und gewollt zu werden, bis wir nur noch Karikaturen unserer selbst sind.

Der Grund liegt darin, dass wir eben nicht wirklich lieben, sondern Liebe im Außen suchen. Wenn ich liebe, kann ich auch nicht verletzt werden. Ich kann nur verletzt werden, wenn ich „haben“ will, wenn ich an mein Gegenüber Erwartungen habe, dass der- oder diejenige mich liebt, mit mir viel Zeit verbringt usw. So lange, wie wir glauben, dass wir das, was wir brauchen, von einem anderen Menschen bekommen können, werden wir in Beziehung nicht vollkommen glücklich sein. Und so lange, wie wir dem anderen unbewusst die Aufgabe zuteilen, unser existenzielles Alleinsein zu „heilen“, so lange werden wir keine wirklich erfüllenden Beziehungen leben.

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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