Trauma beginnt für mich damit, dass die meisten von uns als Kinder nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die wir gebraucht hätten, so dass wir uns abgelehnt, verlassen und wertlos fühlten und fühlen – oft unser ganzes weiteres Leben lang. Als Erwachsene können wir vielleicht erkennen, dass unsere Eltern uns diese Aufmerksamkeit einfach nicht haben geben können, weil sie sie selbst nicht erhalten haben. Das hatte einen blinden Fleck zur Folge, der es für sie unmöglich machte, die Not und Sehnsucht ihrer eigenen Kinder zu erkennen und zu erfühlen.

Da fast alle Menschen diesen Schmerz des Nicht-gesehen-Werdens in sich tragen, ihn sich aber meist nicht eingestehen können, weil sie ihn selbst als Erwachsene kaum aushalten, sind sie weiter in ihrem Leben Bedürftige auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Zuwendung. Wenn wir durch andere verletzt werden, ziehen wir – besonders als spirituell und psychologisch interessierte Menschen – natürlich schnell eine verständnisvolle Erklärung für das Verhalten der anderen aus dem Hut (siehe oben), aber unter der Schicht rationalen Verstehens sitzt in uns immer noch das im Stich gelassene, traumatisierte Kind.

Zu diesem Kind in uns Kontakt aufzunehmen, ist in meinen Augen ein zentraler Schritt der Traumaheilung, weil er einfach ein Teil von uns ist, der endlich gesehen werden will – und weil wir jetzt den Job haben, gute Eltern für ihn zu sein. Und auch, weil es genau der Teil in uns ist, der immer wieder in den Widerstand geht gegen das, was wir als Erwachsene gerne realisieren wollen – und damit nicht nur unser Leben sabotiert, sondern sogar die eigene Heilung verhindert. Auch das berühmte Annehmen von dem, was ist, macht dieser Teil unmöglich. Warum? Weil der Fokus unseres Annehmen-Wollens nicht stimmt. Weil wir unsere Aufmerksamkeit dabei meist auf oberflächliche Symptome richten, aber nicht auf den Trotz, den Widerstand an sich. Denn das wäre die richtige Ebene. Dann nehmen wir endlich das innere Kind in uns wahr, das so sehr nach Aufmerksamkeit schreit.

Es geht auch nicht darum, dass wir dieses innere Kind lieben – das ist ein viel zu hoher Anspruch. Es geht einfach darum, dass wir zu dem inneren Kind sagen: Du gehörst auch dazu. Das ist die Ebene, die uns möglich ist und die uns das innere Kind auch abnimmt, wenn wir es wirklich ehrlich meinen. Bei allem anderen bleibt es im Sicherheitsmodus, weil es glaubt, wieder mal nur als unbequemer Anteil gesehen zu werden, der aus dem Weg geräumt werden soll.

… Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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