Die Art des Lernens an unseren heutigen Schulen – also Wissen nicht mit Freude und Begeisterung ganzkörperlich fühlbar in sich einzusaugen, sondern es sich fast gewaltsam gegen innere Widerstände ins Gedächtnis zu pressen – ist nicht die eigentliche Ursache für den Zustand unserer aktuellen Welt, sondern nur Symptom. Die Ursache liegt viel tiefer. Eine weit tiefere Ebene ist unter anderem die oftmalige Unfähigkeit unserer Eltern, unsere kleinkindliche Freude und Begeisterung zurückzuspiegeln und uns damit zu sagen: Du bist richtig! Wir kommen beispielsweise als Kleinkind voller Begeisterung zu unserer Mutter, um ihr zu erzählen, was wir gerade mit einem Käfer im Garten erlebt haben. Reaktion der Mutter: „Tut mir leid, aber ich hab’ jetzt keine Zeit, ich muss kochen.“ Wir verdrücken uns mit dem Gefühl, einen kalten Eimer Wasser über den Kopf bekommen zu haben. Wir gehen zurück in den Garten, und bald darauf weckt ein anderer Gegenstand unsere Begeisterung. Und wieder rennen wir zu Mami, berichten ihr von unseren Abenteuern, aber sie wehrt ab: „Ich hab’ jetzt wirklich keine Zeit, merkst du denn nicht, dass ich telefoniere.“

Mit hängendem Kopf ziehen wir ab – der Schmerz, schon wieder abgelehnt und abgewiesen worden zu sein, wühlt in uns. Irgendwann haben wir uns von diesem Schock einigermaßen erholt, gehen wieder in den Garten und finden erneut etwas, das so faszinierend ist, dass es uns aus unserem Schmerz herausholt. Ein drittes Mal laufen wir zu unserer Mutter, um ihr unsere wunderbaren Entdeckungen anzuvertrauen. Die Mutter blockt ab: „Jetzt nicht, siehst du denn nicht, dass ich gerade den Tisch decke? Wasch dir lieber die Hände und mach dich fertig zum Essen.“ Mittlerweile zerreißt es uns das Herz, wir verstehen einfach nicht, wie es sein kann, dass alles andere wichtiger ist als wir selbst. Möglicherweise wiederholen sich derartige Situationen noch hundertmal, bis wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem wir schon Angst haben, überhaupt Freude und Begeisterung zu empfinden, weil wir wissen, dass das immer Schmerz nach sich zieht. Jetzt sind wir reif für unser heutiges Schulsystem, weil uns echte Freude und Begeisterung nicht mehr wirklich wichtig sind. Dadurch wehren wir uns nicht gegen Erziehungs- und Lernmethoden, die ohne Freude und Begeisterung auskommen. Und das wird meist irgendwann unsere Normalität …

Jörg Engelsing

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