Der ultimative Geduldstest ist für mich mittlerweile Autofahren in Berlin. Der Stadtverkehr hat in den letzten zwanzig Jahren so zugenommen, dass ich fast bei jeder Fahrt die Zurechnungsfähigkeit einiger Verkehrsteilnehmer in Zweifel ziehe und immer wieder mal kurz aus der Haut fahre. Aber was ist eigentlich Geduld? Wenn ich geduldig bin, dann heißt das, dass ich das aushalten kann, was ich momentan in mir und außer mir wahrnehme und fühle. Es bedeutet innerlich still und einverstanden zu sein mit dem Jetzt – wie es ein in Meditation sitzender Buddha sehr schön illustriert. Ungeduldig werde ich, wenn ich gerade eine Überforderung spüre, wenn ich nicht in meiner Komfortzone bleiben und das Zuviel an Energie abpuffern kann („Eine Frechheit ist das, wie der fährt…“).

An welcher Stelle meine Komfortzone zu wackeln anfängt und Überforderung für mich beginnt, hängt davon ab, wie viel an Spannung, Schmerz oder anderen unangenehmen Gefühlen ich bereits in mir herumtrage. Wenn jemand also in einer Warteschlange oder beim Erklären der Hausaufgaben seiner Kinder ungeduldig, genervt oder wütend wird, zeigt das nur, dass sein System gerade bis zum Anschlag belastet ist. Für Menschen mit heftigen Traumatisierungen ist das meist der Normalzustand. Die aktuelle Situation ist dabei nur der Auslöser. Hier helfen auch keine guten Ratschläge wie „Reiß dich mal zusammen“ (habe ich als Kind immer zu hören bekommen) oder spirituell: „Fühle einfach, was ist“ oder „Zentriere dich“ – das Einzige, was zu Ruhe und Gelassenheit im Moment führt, ist, wenn die alte Trauma-Energie, die wir mit aller Vehemenz wegdrücken, weil sie uns zu überwältigen droht, den Weg aus unserem System findet und aufgelöst wird. Totale Freiheit – und damit auch totale Geduld – fühle ich dann, wenn in meinem Wahrnehmungsfeld alles sein darf, was da ist. Manchmal frage ich mich allerdings, ob Buddha, wenn er heute leben und mit seinem Auto während der Stoßzeiten Berlin durchqueren würde, nicht auch mal kurz ausflippen würde…?

Jörg Engelsing

Unterstütze SEIN

Vielen Dank an alle, die den Journalismus des SEIN bisher unterstützt haben.
Die Unterstützung unserer Leser trägt dazu bei, dass wir unsere redaktionelle Unabhängigkeit behalten und unsere eigene Meinung weiter äußern können. Wir sind sicher, dass unsere redaktionelle Arbeit und unsere Themenvielfalt und Tiefe den gesellschaftlichen Wandel beflügeln. Wir brauchen Deine Unterstützung, um weiterhin guten, kreativen "Lösungs-Journalismus" zu liefern und unsere Offenheit zu wahren. Jeder Leserbeitrag, ob groß oder klein, ist wertvoll. Wenn Du unsere Arbeit wertschätzt, unterstütze SEIN noch heute - es dauert nur wenige Minuten. Vielen Dank.
SEIN unterstützen





Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*